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AG Hamburg, Beschluss vom 02.12.2011- 67c IN 421/11

§ 19 Abs 2 InsO

Der Insolvenzeröffnungsgrund der Überschuldung i.S. von § 19 Abs. 2 InsO ist auch dann gegeben, wenn das zahlungsfähige Schuldner-Unternehmen im Rahmen einer – für die Fortbestehungsprognose notwendigen – Ertragsfähigkeitsprognose innerhalb eines absehbaren Zeitraums von zweieinhalb bis drei Jahren ertraglos und zahlungsunfähig werden wird, weil der Wert der schuldnerischen Aktiva dauerhaft reduziert ist.

1. Die Schuldnerin verfügt derzeit über liquide oder kurzfristig liquidierbare Mittel in Höhe von rd. € 269.000,00. Weiterhin verfügt die Schuldnerin über fällige und werthaltige Ansprüche gegen Dritte im Umfang von ca. € 30.000,00. Dem stehen monatliche laufend fällig werdende Verpflichtungen (insbesondere Pensionen, Gehälter, Miete etc.) in Höhe von ca. € 8.000,00 gegenüber. Weitere fällige Verbindlichkeiten bestehen im Wesentlichen lediglich gegenüber der Komplementär-GmbH in Höhe von insgesamt ca. € 60,000,00. Die Schuldnerin ist daher ersichtlich aktuell nicht zahlungsunfähig i. S. d. § 17 InsO, da sie sämtliche aktuell fälligen Verbindlichkeiten erfüllen kann. Da neben den laufend fällig werdenden Verpflichtungen künftig auch nur geringe weitere Verpflichtungen entstehen werden, würde angesichts der Höhe der liquiden Mittel der Schuldnerin eine Zahlungsunfähigkeit auch erst nach Ablauf von ca. 21/2 – 3 Jahren eintreten (unterstellt, dass sich der Kurswert des vorhandenen Wertpapiervermögens in dieser Zeit nicht erheblich verändert).

2. Die Schuldnerin ist auch nicht drohend zahlungsunfähig. Zwar steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass die Schuldnerin nach Ablauf von ca. 21/2 – 3 Jahren zahlungsunfähig sein wird, allerdings liegt der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zeitlich außerhalb des für die drohende ZahlungsunfähigkeitBitte wählen Sie ein Schlagwort:
drohende Zahlungsunfähigkeit
Zahlungsunfähigkeit
angenommenen Prognosezeitraums von bis zu zwei Jahren (vgl. Schröder, in: Hamburger Kommentar, § 18 Rn. 9 f., m. w. N.)

3. Die Gesellschaft ist spätestens seit dem 31.12.2008 bilanziell überschuldet (s. o.). Dabei indiziert die bilanzielle Überschuldung die insolvenzrechtliche Überschuldung im Rechtssinne (BGH ZInsO 2007, 1349).

Deckt das Vermögen einer Gesellschaft die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr, so ist sie gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO (in der bis zum 31.12.2013 geltenden Fassung nach dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz – FMStG) überschuldet, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Im Grundsatz müssen danach in schriftlich dokumentierter Form ein schlüssiges und realisierbares Unternehmenskonzept sowie eine darauf aufbauende Finanzplanung vorliegen, der zufolge die Finanzkraft des Unternehmen zur Fortführung mittelfristig ausreicht (Schröder in: Hamburger Kommentar, § 19 Rn 15 m. w. N.). Eine solche positive FortführungsprognoseBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fortführungsprognose
positive Fortführungsprognose
liegt m. E. nicht vor.

Es ist allerdings bislang in Rechtsprechung und Literatur ungeklärt, ob (auf der Basis des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO in der Fassung nach dem FMStG) eine positive FortführungsprognoseBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fortführungsprognose
positive Fortführungsprognose
schon dann bejaht werden kann, wenn die Gesellschaft innerhalb des Prognosezeitraums voraussichtlich ihre fälligen Verbindlichkeiten wird fristgerecht bedienen können – also nicht zahlungsunfähig werden wird – (so Hirte/Knof/Mock ZInsO 2008, 1222; Aleth/Harlfinger NZI 2011, 166, 168; Frystatzki NZI 2011, 173) oder ob weitere Anforderungen erfüllt sein müssen, insbesondere ob innerhalb des Prognosezeitraums die Ertragsfähigkeit der Gesellschaft wiederhergestellt sein muss. Die Fortführungsprognose ist danach nur positiv, wenn die überwiegende Wahrscheinlichkeit vorliegt, dass die Gesellschaft mittelfristig Einnahmen-Überschüsse erzielen wird, aus denen die gegenwärtigen und künftigen Verbindlichkeiten gedeckt werden können (so Schröder in: Hamburger Kommentar, § 19 Rn 12 ff.; Ehlers NZI 2011, 161 f.; Sikora ZInsO 2010, 1761, 1763; Dahl NZI 2008, 719, 720; Wolf DStR 2009, 2682, 2684; Baumbach/Hueck/Schulze-Osterloh, GmbHG, 17. Auflage, § 64 Rn. 11; ähnlich OLG NaumburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Naumburg
ZInsO 2004, 512; KG 2006, 437). Für den hier zu begutachtenden Fall hat dieser Meinungsstreit – vordergründig – folgende Auswirkung: Folgt man der Ansicht, dass bereits eine positive Liquiditätsprognose die Fortführungsprognose begründet, könnte man vorliegend zum Schluss gelangen, eine Fortführungsprognose läge vor. Denn innerhalb des Prognosezeitraum von ein bis zwei Jahren (vgl. Kirchhof in: Heidelberger Kommentar § 19 Rn. 10; Schröder a. a. O. § 19 Rn 18 m. w. N.) sind die Zahlungsverpflichtungen der Schuldnerin gedeckt (vgl. oben Ziffer 7.1). Folgt man hingegen der Ansicht, dass zusätzlich eine positive Ertragsfähigkeitsprognose vorliegen muss, läge eine Fortführungsprognose vorliegend nicht vor, da die Schuldnerin – als reine Verwalterin von Kapitalvermögen – nur über geringe Einnahmen verfügt und sicher nie mehr Einnahmen-Überschüsse erwirtschaften wird (geschweige denn solche, die die gegenwärtigen und künftigen Verbindlichkeiten decken).

Vorzugswürdig ist klar die Auffassung, die zusätzlich eine positive Ertragsfähigkeitsprognose verlangt. Dies folgt aus zwei Argumenten:

Zunächst findet sich das Erfordernis einer Ertragsfähigkeitsprognose bereits in einem der maßgeblichen Urteile des BGH zum nunmehr vorübergehend wieder eingeführten zweistufigen Überschuldungsbegriff, der sog. Dornier-Entscheidung (BGHZ 119, 201). Für die Dauer der Geltung des neuen „alten“ Überschuldungsbegriffes in der Fassung nach dem FMStG ist diese alte BGH-Rechtsprechung aber wieder maßgeblich für die Auslegung des § 19 InsO. In der dortigen Entscheidung stellt der BGH bei der Beurteilung einer „erfolgreichen Überlebensprognose“ im Wesentlichen nicht auf bestimmte Kennzahlen ab. Vielmehr setzt es sich mit den operativen Geschäftschancen der betreffenden Gesellschaft inhaltlich auseinander und stellt im dortigen Fall fest, dass im Zeitpunkt der Prognoseentscheidung die Entwicklung eines bestimmten Produkts als allgemein erfolgversprechend betrachtet wurde und für das Produkt ein Markt mit den entsprechenden Absatz- und Gewinnchancen gesehen wurde; und dies, obgleich die Gesellschaft zum damaligen Zeitpunkt über keine laufenden Einnahmen aus Geschäftstätigkeit verfügte, was zu einer erheblichen rechnerischen Überschuldung führte (BGH a. a. O.).

Vorliegend sind keine Ansätze erkennbar, um die in der Handelsbilanz der Schuldner ausgewiesenen Werte für die Zwecke einer insolvenzrechtlichen Überschuldungsbilanz zu modifizieren. Zu keinem Zeitpunkt verfügte die Schuldnerin über stille Reserven, die zu einer höheren Bewertung von Aktiva in der insolvenzrechtlichen Überschuldungsbilanz geführt hätten. Die Aktiva der Schuldnerin bestanden stets überwiegend aus Geldvermögen und nach aktuellen Börsenwerten bewerteten Wertpapieren. Auch die Passiva der Schuldnerin sind stets realistisch bewertet gewesen und können daher für die Zwecke einer insolvenzrechtlichen Überschuldungsbilanz nicht modifiziert werden. Dies gilt insbesondere für die Rückstellungen, die hinsichtlich der Pensionsverbindlichkeiten der Schuldnerin gebildet wurden. Denn die betreffenden Verbindlichkeiten stehen dem Grunde nach fest und die Höhe der Rückstellungen basierte auf aktuellen versicherungsmathematischen Gutachten.

 

Schlagworte: drohende Zahlungsunfähigkeit, Ertrags- und Finanzplan, Fortführungsprognose, positive Fortführungsprognose, rechnerische Überschuldung, Überschuldung, Zahlungsunfähigkeit, zweistufiger Überschuldungsbegriff