Kapitalanleger-Musterverfahren: Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht

Beschluss des BGH vom 26.07.2011, II ZB 11/10

I.

Der BGH hat mit Beschluss vom 26.07.2011 entschieden:

1. Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfällt, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann.

2. Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfällt nicht, wenn der Vorlagebeschluss trotz einzelner Fehler und Auslassungen eine geeignete Grundlage für die Durchführung des Musterverfahrens ist.

3. Fehler und Auslassungen des Vorlagebeschlusses bei der Bezeichnung der Beweismittel sowie der Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel können während des Musterverfahrens behoben werden und berechtigen das Oberlandesgericht daher nicht, den Vorlagebeschluss aufzuheben und an das Prozessgericht zurückzugeben.

II.

Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zu Grunde:

Die Rechtsbeschwerdeführer machten – neben weiteren Klägern in gesonderten Verfahren – vor dem Landgericht München I Schadensersatzansprüche wegen einer unzutreffenden Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten zu 1 geltend. Auf den Musterfeststellungsantrag der Kläger hat das Landgericht nach § 4 Abs. 1 S. 1 Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) beschlossen, eine Entscheidung des Oberlandesgerichts München „herbeizuführen zur beantragten Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom 22.3.2000 unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1) und 3) Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden“.

Die Gründe des Vorlagebeschlusses des Landgerichts geben von dem Klagevortrag Einzelheiten zum Einstieg der Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1 in die Formel-1-Rennserie des Automobilsports und zu den den Anlegern hierzu in der Ad-hoc-Mitteilung vom 22.03.2000 angeblich verschwiegenen Tatsachen wider. Der im Vorlagebeschluss angegebene Zeitpunkt der Klageerhebung sowie das in Bezug genommene Klagevorbringen, wann und zu welchem Kurs Aktien der Beklagten zu 1 nach der Ad-hoc-Mitteilung erworben worden seien, betreffen dagegen offenkundig nicht die hiesigen Kläger, sondern die Klage eines Klägers aus einem Parallelverfahren vor dem Landgericht.

Das Oberlandesgericht hat den Vorlagebeschluss in entsprechender Anwendung der für willkürlich ergangene Verweisungsbeschlüsse zu § 281 ZPO entwickelten Grundsätze durch Beschluss aufgehoben und das Verfahren zur anderweitigen Prüfung und Entscheidung an das Landgericht zurückgegeben. Die dagegen gerichtetete Rechtsbeschwerde der Kläger hatte Erfolg: Nach dem BGH ist der Vorlagebeschluss des Landgerichts München I für das Oberlandesgericht München bindend. Die Sache wurde an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, das auf der Grundlage des Vorlagebeschlusses das Musterverfahren durchzuführen hat.

III.

Der BGH gelangte zu seinem Ergebnis auf folgendem Weg:

1.

Ein Vorlagebeschluss nach § 4 Abs. 1 S. 2 KapMuG hat nur ausnahmsweise keine Bindungswirkung für das Oberlandesgericht.

1.1

Wenn der geltend gemachter Anspruch nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann.

§ 4 Abs. 1 S. 2 KapMuG findet dann keine Anwendung, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann. Einen solchen Fall hat der BGH aber nicht festgestellt. Mit der Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom 22.03.2000 unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1 und 3 Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden, sollten anspruchsbegründende Voraussetzungen zu Schadensersatzansprüchen wegen falscher Kapitalmarktinformation geklärt werden. Ein solcher Schadensersatzanspruch kann gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KapMuG Gegenstand eines Musterfeststellungsantrags sein.

1.2

Bei Verletzung rechtlichen Gehörs und Willkürentscheidungen

Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses kann nach der zu § 281 Abs. 2 S. 4 ZPO ergangenen Rechtsprechung des BGH im Einzelfall dann entfallen, wenn er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs oder auf Willkür beruht. Willkür liegt erst dann vor, wenn dem Beschluss jede gesetzliche Grundlage fehlt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Verweisungsbe-schluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Dafür genügt es aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist. Der BGH hat zwar vorliegend festgestellt, dass der Vorlagebeschluss des Landgerichts unvollständig und teilweise inhaltlich falsch war. Er hat den Vorlagebeschluss aber nicht als willkürlich angesehen, da dieser – trotz einiger Mängel (Fehler, Auslassungen) – im Wesentlichen den Anforderungen des § 4 Abs. 2 KapMuG entsprach und deshalb eine geeignete Grundlage für die Durchführung des Musterverfahrens darstellte. So gab der Vorlagebeschluss des Landgerichts ein Feststellungsziel (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 KapMuG) und die Streitpunkte (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 KapMuG) an, bezeichnete die Beweismittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 KapMuG) und enthielt eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts des erhobenen Anspruchs sowie der dazu vorgebrachten Angriffsmittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 4 KapMuG). Damit war nach Ansicht des BGH ohne weiteres erkennbar, dass die Unrichtigkeit der Ad-hoc-Mitteilung vom 22. März 2000 sowie die darauf bezogene Kenntnis der Beklagten zu 2 und 3 im Rahmen der Anspruchsprüfung nach § 826 BGB festgestellt werden sollten.

2.

Weil ein Ausnahmefall nicht vorlag, war das Oberlandesgericht nicht berechtigt, den Vorlagebeschluss aufzuheben.

Zwar war der Vorlagebeschluss mangelhaft, weil er sich entgegen § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 KapMuG nicht mit dem Vortrag der Beklagten und den dazu angetretenen Beweisen auseinandersetzte. Außerdem betraf der den Gründen des Vorlagebeschlusses vorangestellte Klägervortrag offenkundig nicht die Kläger und Rechtsbeschwerdeführer des vorliegenden Verfahrens. Nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 KapMuG hat der Vorlagebeschluss die bezeichneten Beweismittel und eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel zu enthalten. Diese Punkte sollen es dem Oberlandesgericht ermöglichen, das Musterverfahren vorzubereiten. Der Vorlagebeschluss dient insoweit der ersten Strukturierung, Ordnung und Aufbereitung des Streitstoffes. Der BGH stellte aber klar, dass die im Vorlagebeschluss enthaltenen Tatsachenmitteilungen und Beweismittel nicht bereits den abschließenden Verfahrensstoff des Musterverfahrens bilden. Dieser ergibt sich vielmehr aus dem Vortrag der Beteiligten des Musterverfahrens. Fehler des Vorlagebeschlusses in diesem Bereich könnten daher noch während des Musterverfahrens behoben werden.

IV.

Praxishinweis:

Seit Inkrafttreten des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) am 01.11.2005 ist für geschädigte Kapitalanleger eine verbesserte Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche möglich. Jetzt kann ein Musterverfahren durchgeführt werden, um zu klären, ob eine falsche oder unterlassene öffentliche Kapitalmartkinformation vorlag.

Tatsachen- und Rechtsfragen, die sich in mindestens zehn individuellen Schadensersatzprozessen stellen, werden in dem Musterverfahren nur einmal mit Bindungswirkung für alle geschädigten Anleger geklärt. Dabei bedarf es nur einer Beweisaufnahme. Kapitalanleger, die vom Musterverfahren profitieren wollen, müssen aber – anders als z.B. in den USA – zunächst eine eigene Klage erheben und so insbesondere verhindern, dass ihre Ansprüche verjähren. Zusätzliche Gebühren entstehen im Musterverfahren nicht, und evt. Kosten (z. B. für die Beweiserhebung über Sachverständige etc.) werden auf insgesamt mehr Schultern verteilt als dies in den Einzelverfahren der Fall wäre. Das Prozesskostenrisiko für den einzelnen Anleger wird also deutlich gesenkt. Kapitalanleger können sich mit dem neu geschaffenen elektronischen Klageregister unter www.ebundesanzeiger.de darüber informieren, ob bereits ein Musterverfahren beantragt oder gar eingeleitet worden ist. So wird die Entscheidung, selbst Klage einzureichen und sich diesem Musterverfahren anzuschließen, erleichert.

Das Musterverfahren ist also das geeignete Instrument, um große und komplexe Schadensfälle für Justiz und Parteien gleichermaßen besser handhabbar zu machen und insbesondere zu einer einheitlichen Rechtsprechung zu gelangen. Das bundesweit erste Verfahren nach dem KapMuG richtete sich gegen den Automobilhersteller Daimler AG, ehemals DaimlerChrysler. Die Kläger stützten ihre Schadenersatzforderungen auf eine angeblich verspätete Mitteilung über den Rücktritt des damaligen Vorstandsvorsitzenden Jürgen Schrempp, die am 28.07.2005 erfolgte. Ein bedeutendes Kapitalanleger-Musterverfahren der jüngsten Zeit ist das Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Hypo Real Estate Holding AG.

Und so geht`s (Grobdarstellung):

1. Der Kläger stellt in einem erstinstanzlichen Verfahren, in dem

  • ein Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation oder
  • ein Erfüllungsanspruch aus Vertrag, der auf einem Angebot nach dem Wertpapiererwerb und Übernahmegesetz beruht,

geltend gemacht wird, beim Prozessgericht einen Musterfeststellungsantrag. Der Inhalt des Musterfeststellungsantrags richten sich nach § 1 KapMuG.

2. Das Prozessgericht macht den zulässigen Musterfeststellungsantrag im elektronischen Bundesanzeiger öffentlich bekannt (§ 2 KapMuG). Damit wird das erstinstanzliche Verfahren unterbrochen (§ 3 KapMuG).

3. Das Prozessgericht führt durch Vorlagebeschluss beim übergeordneten Oberlandesgericht einen Musterentscheid durch das Oberlandesgericht herbei, wenn

  • in dem Verfahren bei dem Prozessgericht der zeitlich erste Musterfeststellungsantrag gestellt wurde und
  • innerhalb von 4 Monaten nach Bekanntmachung dieses ersten Musterfeststellungsantrag in mindestens neun weiteren Verfahren bei demselben oder anderen Gerichten gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge gestellt wurden.

Der Inhalt des Vorlagebeschlusses richtet sich § 4 Abs. 2 KapMuG. Der Vorlageschluss ist grundsätzlich unanfechtbar und für das Oberlandesgericht bindend (§ 4 Abs. S. 2 KapMuG). Für Ausnahmen zu diesem Grundsatz wird auf den oben besprochenen BGH-Beschluss vom 26.07.2011 verwiesen. Der Vorlagebeschluss hat Sperrwirkung für weitere Musterverfahren in der gleichen Angelegenheit (vgl. § 5 KapMuG).

4. Nach der öffentlichen Bekanntmachung des Musterverfahrens durch das Oberlandesgericht im Klageregister (§ 6 KapMuG) werden vom Prozessgericht alle bereits anhängigen oder bis zum Erlass des Musterentscheids noch anhängig werdenden Verfahren, deren Entscheidung von der im Musterverfahren zu treffenden Feststellung oder der im Musterverfahren zu klärenden Rechtsfrage abhängt – unabhängig davon, ob in dem Verfahren ein Musterfeststellungsantrag gestellt wurde – nach Anhörung der Parteien ausgesetzt (§ 7 Abs. 1 KapMuG). Die Kläger und Beklagten der ausgesetzten Verfahren sind zu dem Musterverfahren beizuladen. Der Aussetzungsbeschluss gilt als Beiladung im Musterverfahren.

Das Prozessgericht hat das das Musterverfahren führende Oberlandesgericht unverzüglich über die Aussetzung zu unterrichten (§ 7 Abs. 2 KapMuG).

5. Das Musterverfahren endet mit Erlass eines Musterentscheides durch Beschluss, gegen den die Rechtsbeschwerde vor dem BGH zulässig ist (§§ 14, 15 KapMuG). Der Musterentscheid bindet die Prozessgerichte, deren Entscheidung von der im Musterverfahren getroffenen Feststellung oder der im Musterverfahren zu klärenden Rechtsfrage abhängt. Der Musterentscheid entfaltet insoweit Rechtskraft, als über den Streitgegenstand des Musterverfahrens entschieden ist. Er wirkt für und gegen alle Beigeladenen des Musterverfahrens. Mit der Einreichung des rechtskräftigen Musterentscheids durch einen Beteiligten des Musterverfahrens wird das Verfahren in der Hauptsache wieder aufgenommen (vgl. § 16 KapMuG).

V.

Ausblick:

Das KapMuG sollte ursprünglich am 01.11.2010 außer Kraft treten, wurde dann aber bis zum 31.10.2012 verlängert.

Vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) ist kürzlich der Referentenentwurf für ein Gesetz zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) veröffentlicht worden, der unter anderem eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des KapMuG auf Anlagevermittler- und -berater vorsieht. Eine Modifikation sollen auch die Voraussetzungen für die Einleitung und Erweiterung des Musterverfahrens sowie einzelne Kostenvorschriften erfahren. Durch eine insbesondere für die Praxis bedeutsame Neuregelung soll der Vergleichsabschluss im Musterverfahren vereinfacht werden. Das KapMuG soll in einem neuen Stammgesetz von Grund auf neu gefasst werden und rechtzeitig zum Auslaufen des KapMuG am 01.11.2012 in Kraft treten.

Für weitere Informationen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Erfurt/ Thüringen September 2011