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BFH, Beschluss vom 11. April 2016 – X B 77/15

§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 155 S 1 FGO, § 295 Abs 1 ZPO, § 76 Abs 1 S 1 FGO, § 116 Abs 6 FGO

Im Einzelfall kann es zur Verhinderung des Verlusts des Rechts, das Übergehen eines Beweisantrags zu rügen, ausreichend sein, wenn der Kläger in einem für die nächste mündliche Verhandlung bestimmten Schriftsatz beanstandet, das FG übergehe die von ihm zuvor gestellten Beweisanträge.

1. Übergeht das FG zu Unrecht einen von einem Beteiligten i.S. des § 57 FGO gestellten Beweisantrag, kann dies einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) und die Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO begründen. Allerdings kann das Recht, dies zu rügen, verloren gehen, wenn der betroffene Beteiligte das Übergehen seines Beweisantrags nicht rechtzeitig in der mündlichen Verhandlung vor dem FG rügt (BFH-Beschlüsse vom 31. Januar 1989 VII B 162/88, BFHE 155, 498, BStBl II 1989, 372, und vom 2. Oktober 2013 III B 56/13, BFH/NV 2014, 62).

a) Die Kläger sehen einen Verfahrensmangel darin, dass sie bereits in ihrer Klagebegründungsschrift vom 7. August 2014 zum Beweis dafür, dass die vom FA in den angefochtenen Steuerbescheiden im Wege der Schätzung angesetzten Gewinnerhöhungen nicht bzw. nicht in dem angesetzten Umfang berechtigt waren, u.a. vier Zeugen benannt haben. Das FG habe jedoch versäumt, diesen Beweisanträgen nachzukommen.

b) Dieser Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor:

aa) Stellt ein Verfahrensbeteiligter einen Beweisantrag, dann ist das FG grundsätzlich verpflichtet, dem Beweisantrag zu entsprechen. Ein Beweisantrag darf u.a. nur dann abgelehnt werden, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung unerheblich ist, das Gericht die Wahrheit der unter Beweis gestellten Tatsache zugunsten des Beweisantragstellers unterstellt, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet ist oder wenn bei einem Indizienbeweis die unter Beweis gestellte Hilfstatsache für den Nachweis der Haupttatsache nach der Überzeugung des FG als Tatsachengericht nicht ausreicht (Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 81 FGO Rz 45 ff., m.w.N. aus der BFH-Rechtsprechung).

bb) Das FG war unter Berücksichtigung der vorstehend dargestellten Grundsätze gehalten, insbesondere die Zeugin A zu hören. Bei verständiger Würdigung war der in der Klagebegründungsschrift enthaltene Antrag auf Vernehmung dieser Zeugin nicht nur darauf gerichtet zu belegen, dass diese Zeugin die Gesamtverantwortung für das Studio hatte, so dass sie –sofern es entgegen der Weisung durch den Kläger tatsächlich zu weiteren Betriebseinnahmen aus zusätzlichen sexuellen Dienstleistungen durch die Angestellten des Studios gekommen sein sollte– dafür allein verantwortlich war. Vielmehr war der Antrag auf Vernehmung dieser Zeugin auch darauf gerichtet, der Schätzung zusätzlicher Betriebseinnahmen aus solchen zusätzlichen Dienstleistungen durch das FA entgegenzutreten. Denn in dem klägerischen Schriftsatz vom 7. August 2014 wird bereits am Anfang (vgl. S. 2, zweiter Absatz des Schriftsatzes) darauf hingewiesen, „aufgrund vorliegender Zeugenaussagen ergebe sich, dass zum einen keine sexuellen Handlungen erbracht worden seien und zum anderen, dass es keine Zahlungen an die Angestellten direkt gegeben habe“. Zu diesen vernommenen Personen gehörte aber auch die als Angestellte des Studios geführte Frau A, wie das bei den finanzgerichtlichen Akten befindliche Protokoll über die polizeiliche Vernehmung dieser Zeugin zeigt.

cc) Auch von der beantragten Vernehmung der Zeuginnen C und B durfte das FG nicht absehen. Die Kläger haben die Zeuginnen zum Beweis für die Tatsache benannt, dass Frau B nur als Telefonistin und Frau C ausschließlich als Reinigungskraft beschäftigt waren. Die Kläger treten mit diesem Beweisantrag der Annahme des FA entgegen, diese Zeuginnen hätten sexuelle Dienstleistungen in dem Studio erbracht. Die Kläger machen damit geltend, dass jedenfalls die auch nach Abzug zusätzlicher Betriebsausgaben in Gestalt von Lohnzahlungen verbleibenden Gewinnerhöhungen aus Hinzuschätzungen von Betriebseinnahmen (vgl. Tz. 15, 16 und 20 des Betriebsprüfungsberichts vom 23. April 2012) und der vom FA an das FG übersandten Auszüge der Handakten des Betriebsprüfers zu Unrecht in den streitigen Steuerbescheiden angesetzt worden seien. Das FG durfte von der Vernehmung der Zeuginnen nicht mit der Begründung absehen, diese sei entbehrlich, weil sich aus anderen Beweismitteln ergebe, dass –durch welche angestellte Damen auch immer– sexuelle Dienstleistungen erbracht worden seien. Das FG hat hierbei nicht berücksichtigt, dass das FA bei seiner Hinzuschätzung unterstellt hat, dass alle in den Streitjahren als Arbeitnehmerinnen beschäftigten Damen durch sexuelle Dienstleistungen zusätzliche Betriebseinnahmen des Klägers erzielt haben, welche das FA jeweils bezogen auf die einzelne Person im Wege der Schätzung angesetzt hat. Bei dieser Sachlage durfte das FG sich nicht damit begnügen, im Wege einer vorweggenommenen Beweiswürdigung zu unterstellen, dass die im Schätzwege angesetzten zusätzlichen mittels sexueller Dienstleistungen erlangten Betriebseinnahmen wenn nicht von Frau C und Frau B, dann von anderen Angestellten erzielt worden waren (vgl. auch Senatsbeschluss vom 16. Dezember 2014 X B 114/14, BFH/NV 2015, 511).

c) Die Kläger haben ihr Recht, das Übergehen ihres Beweisantrags zu rügen, auch nicht durch Rügeverlust verloren. Zwar geht ein solches Rügerecht gemäß § 295 Abs. 1 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 Satz 1 FGO verloren, wenn das Übergehen eines Beweisantrags von dem betroffenen Beteiligten nicht in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt wird, sofern für diesen Beteiligten erkennbar war, dass das FG die beantragte Beweisaufnahme nicht durchführen wird (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse in BFHE 155, 498, BStBl II 1989, 372, und in BFH/NV 2014, 62).

aa) Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem FG vom 25. März 2015 lässt zwar nicht erkennen, dass die Kläger das Übergehen ihres Beweisantrags ausdrücklich gerügt haben.

Sie haben aber eine solche Rüge in ihrem für diese mündliche Verhandlung bestimmten Schriftsatz vom 23. März 2015 angebracht, der am Folgetag beim FG einging. Diese Rüge ist unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des Streitfalls zur Verhinderung eines Rügeverlusts ausreichend.

bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) kann eine das Verfahren betreffende Rüge nicht nur durch ausdrücklichen Vortrag in der mündlichen Verhandlung, sondern auch durch die Bezugnahme auf einen diese Rüge betreffenden Vortrag in einem Schriftsatz des betroffenen Beteiligten erfolgen. Eine solche Bezugnahme kann auch konkludent stattfinden. Sofern keine anderweitigen Anhaltspunkte bestehen, ist von einer solchen konkludenten Bezugnahme auf die schriftsätzlich geltend gemachte Rüge auszugehen, weil mit der Stellung des Sachantrags durch diesen Beteiligten in der mündlichen Verhandlung im Zweifel eine Bezugnahme auf den Inhalt der zur Vorbereitung im gerichtlichen Verfahren eingereichten Schriftsätze verbunden ist (BAG-Urteil vom 18. Juli 2013  6 AZR 882/11 (A), Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht-RR 2014, 32, Rz 42, und BGH-Urteil vom 12. März 2004 V ZR 257/03, Neue Juristische Wochenschrift 2004, 1876, unter II.2.b bb (3) alpha der Gründe). Diese zum Zivilprozess entwickelten Grundsätze sind im Verfahren vor dem FG jedenfalls dann entsprechend anzuwenden, wenn die Einreichung des Schriftsatzes, welcher die maßgebliche Verfahrensrüge enthält, in der mündlichen Verhandlung angesprochen worden ist, weil auf diese Weise alle zur Entscheidung berufenen Richter einschließlich der ehrenamtlichen Richter Kenntnis von dem Inhalt dieses Schriftsatzes erlangen und sich durch Rückfragen Kenntnis von dessen Inhalt verschaffen können (vgl. hierzu Stöcker in Beermann/Gosch, FGO § 92 Rz 74).

Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor. Die Kläger haben mit Schriftsatz vom 23. März 2015 beanstandet, dass das FG die Zeugen, deren Vernehmung von den Klägern beantragt worden war, nicht zur mündlichen Verhandlung geladen hat. Sie haben damit das Übergehen ihres Beweisantrags gerügt. Diese vorbehaltslose Rüge bezog sich auf alle (in der Klagebegründungsschrift) benannten Zeugen. Denn im Schriftsatz vom 23. März 2015 wird ausdrücklich ausgeführt, „der Kläger wird … auf die Einvernehmung der benannten Zeugen bestehen“. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 25. März 2015 wurde dem FA dieser klägerische Schriftsatz in diesem Verhandlungstermin übergeben, so dass der unbedingte und weiterhin bestehende Wille der Kläger, die fehlende Zeugeneinvernahme zu rügen, erkennbar in das Verfahren eingeführt wurde. Die zur Entscheidung berufenen Richter des FG erlangten damit von der Existenz dieses Schriftsatzes Kenntnis. Es wäre ein Formalismus, unter diesen Bedingungen eine weitere ausdrückliche Rüge zu verlangen.

Schlagworte: Formelles Steuerrecht, Hinzuschätzung, Schätzungsbefugnis