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BFH , Urteil vom 14.03.2012 – XI R 2/10

AO § 174; FGO § 102; UStG §§ 14, 15, 17

1. Die Regelung des § 174 Abs. 4 AO bezweckt den Ausgleich einer zu Gunsten des Steuerpflichtigen eingetretenen Änderung; derjenige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss auch die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (vgl. BFH-Urteile vom 10. März 1999 XI R 28/98, BFHE 188, 409, BStBl II 1999, 475, unter II.2.; vom 24. April 2008 IV R 50/06, BFHE 220, 324, BStBl II 2009, 35, unter II.3.a). Wie der Große Senat des BFH entschieden hat, regelt die Vorschrift die verfahrensrechtlichen (inhaltlichen) Folgerungen aus einer vorherigen Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides auf Antrag des Steuerpflichtigen zu dessen Gunsten. Diese Aufhebung oder Änderung löst dann –„nachträglich“– die Rechtsfolge des § 174 Abs. 4 AO aus, dass ein anderer Bescheid erlassen oder geändert werden kann. Die Vorschrift bezieht somit die verfahrensrechtliche Konsequenz daraus, dass der andere Bescheid nunmehr eine „widerstreitende Steuerfestsetzung“ enthält, wie sie das Gesetz nach seiner amtlichen Überschrift zu § 174 AO voraussetzt (BFH-Beschluss vom 10. November 1997 GrS 1/96, BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83, und BFH-Urteil in BFHE 220, 324, BStBl II 2009, 35, unter II.3.a, m.w.N.).

2. Ein bestimmter Sachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist keine einzelne Tatsache, sondern jeder einheitliche Lebensvorgang und Sachverhaltskomplex, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647, unter B.1.b; vom 26. Februar 2002 X R 59/98, BFHE 198, 20, BStBl II 2002, 450, unter II.1.b aa; vom 18. September 2003 X R 152/97, BFHE 203, 337, BStBl II 2007, 749, unter B.I.1.; BFH-Beschluss vom 24. November 2010 II B 48/10, BFH/NV 2011, 408, unter II.1.b; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 5; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 174 AO Rz 56, 171, jeweils m.w.N.).

3. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO erfasst auch die Fälle, in denen die Finanzbehörde aus „einem bestimmten Sachverhalt“ die steuerrechtlichen Folgerungen ziehen will, sich aber darüber irrt, welchen Zeitraum (Veranlagungs- bzw. Erhebungszeitraum) diese Folgerungen betreffen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 26. Oktober 1994 II R 84/91, BFH/NV 1995, 476, unter 3.c; BFH-Beschluss in BFH/NV 2009, 890).

4. Es handelt sich bei der Entscheidung darüber, ob eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO durchgeführt wird, nicht um eine Ermessensentscheidung, die vom FG nach § 102 FGO zu überprüfen wäre.

5. In der Literatur wird im Hinblick darauf, dass es sich nach dem Wortlaut des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO um eine sog. „Kannbestimmung“ handelt („können“ die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden), zwar teilweise die Auffassung vertreten, die Korrektur nach § 174 Abs. 4 AO stehe im Ermessen des FA (vgl. z.B. Frotscher in Schwarz, AO, § 174 Rz 156, 125; a.A. v.Wedelstädt in Woerner/Grube, 9. Aufl., Rz 1144; von Groll in HHSp, § 174 AO Rz 255, 211; v.Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 174 Rz 114; Pahlke/Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 174 Rz 72, jeweils m.w.N.).

6. § 174 Abs. 4 AO lässt indes ebenso wenig wie § 174 Abs. 3 AO Kriterien erkennen, die für eine Ermessensausübung leitend sein können.

7. Der –im Rahmen einer Ermessensentscheidung ggf. zu berücksichtigende– Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes spielt im Rahmen von § 174 Abs. 4 AO keine Rolle, weil die Entscheidung nach dieser Vorschrift –anders als bei einer Entscheidung gegenüber einem Dritten nach § 174 Abs. 4 i.V.m. § 174 Abs. 5 AO– gegenüber demselben Steuerpflichtigen ergeht, der mithin nicht erstmals mit dem betreffenden Sachverhalt befasst wird (vgl. Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 40).

8. Lassen sich aber keine Maßstäbe für einen Ermessensspielraum dahingehend finden, unter welchen Umständen von einer durch Tatbestandserfüllung möglichen –und nach dem unter II.1.a dargelegten Zweck der Vorschrift gebotenen– Änderung einer Steuerfestsetzung abgesehen werden kann, so bedeutet „können“ in § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ein rechtliches Können und im Hinblick darauf, dass das FA auf die Erfüllung des Steueranspruchs nicht verzichten darf, ein „Müssen“ (vgl. zu § 174 Abs. 3 AO BFH-Urteile vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241, unter 2.b; vom 21. Februar 1989 IX R 67/84, BFH/NV 1989, 687; im Ergebnis ebenso zu § 174 Abs. 4 AO von Groll in HHSp, § 174 AO Rz 255; v.Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 174 Rz 114; Pahlke/Koenig/Koenig, a.a.O., § 174 Rz 72, jeweils m.w.N.).

9. Der EuGH hat schon mehrfach geklärt, dass ein Vorsteuerabzug nur für diejenigen Steuern besteht, die geschuldet wurden, oder die entrichtet worden sind, soweit sie geschuldet wurden. Das Vorsteuerabzugsrecht erstreckt sich demgegenüber nicht auf eine Steuer, die geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen wird (EuGH-Urteile vom 13. Dezember 1989 C-342/87 –Genius–, Slg. 1989, 4227, Neue Juristische Wochenschrift 1991, 632; vom 19. September 2000 C-454/98 –Schmeinck & Cofreth und Strobel–, Slg. 2000, I-6973, UR 2000, 470, Rz 53; in Slg. 2007, I-2425, UR 2007, 343, Rz 23).

Schlagworte: Änderung der Steuerfestsetzung, Erhebungszeitraum, Ermessen, Ermessensentscheidung, Steuerrecht, Veranlagungszeitraum, Vorsteuerabzug, widerstreitende Steuerfestsetzung