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BGH, Urteil vom 22. Mai 2012 – II ZR 3/11

a) Nach herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum kann ein Widerrufsrecht nicht nur von Gesetzes wegen bestehen, sondern grundsätzlich auch im Vereinbarungswege festgelegt werden. Danach können Vertragspartner – als Ausprägung der Vertragsfreiheit – ein Widerrufsrecht vertraglich vereinbaren und für die nähere Ausgestaltung sowie die Rechtsfolgen auf die §§ 355, 357 BGB verweisen (vgl. Staudinger/Kaiser, BGB [2004], § 355 Rn. 11; Palandt/Grüneberg, BGB, 71. Aufl., Vorb v § 355 Rn. 5; Bamberger/ Roth/Grothe, BGB, 2. Aufl., § 355 Rn. 4; NK-BGB/Ring, 2. Aufl., § 355 Rn. 26; zur vertraglichen Vereinbarung einer Verlängerung der Widerrufsfrist vgl. BGH, Urteil vom 13. Januar 2009 – XI ZR 118/08, WM 2009, 350 Rn. 16 f.).

b) Die Fälle des gesetzlichen Widerrufsrechts, die eine Durchbrechung des Grundsatzes “pacta sunt servanda” darstellen, sind enumerativ und abschließend geregelt (§ 355 Abs. 1 Satz 1 BGB) und knüpfen an bestimmte gesetzliche Merkmale an (siehe insoweit auch BGH, Urteile vom 6. Dezember 2011 – XI ZR 401/10, ZIP 2012, 262 Rn. 17 und XI ZR 442/10, juris Rn. 24).

c) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats setzt das – unentziehbare – Recht zur außerordentlichen Kündigung voraus, dass dem Kündigenden nach Lage des Falles eine Fortsetzung der Gesellschaft bis zum Vertragsende oder zum nächsten ordentlichen Kündigungstermin nicht zugemutet werden kann, weil das Vertrauensverhältnis zwischen den Gesellschaftern grundlegend gestört oder ein gedeihliches Zusammenwirken aus sonstigen, namentlich auch wirtschaftlichen Gründen, nicht mehr möglich ist (siehe nur BGH, Urteil vom 30. November 1951 – II ZR 109/51, BGHZ 4, 108, 113; Urteil vom 12. Juli 1982 – II ZR 157/81, BGHZ 84, 379, 382 f.; Urteil vom 24. Juli 2000 – II ZR 320/98, ZIP 2000, 1772 m. w. N.). Dabei muss das auf dem wichtigen Grund beruhende Individualinteresse des Kündigenden an der sofortigen Beendigung seiner Mitgliedschaft in der Gesellschaft höher zu bewerten sein als das Interesse seiner Mitgesellschafter an der unveränderten Fortsetzung der Gesellschaft (BGH, Urteil vom 12. Juli 1982 – II ZR 157/81, BGHZ 84, 379, 383; Urteil vom 23. Oktober 2006 – II ZR 162/05, BGHZ 169, 270 Rn. 13, 15). Hieraus folgt, dass die Feststellung des wichtigen Grundes zur Kündigung die ein-gehende Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls erfordert.

d) Der wichtige Grund als Voraussetzung der außerordentlichen Kündigung muss bereits im Zeitpunkt der Kündigung vorliegen (siehe nur BGH, Ur-teil vom 24. Juli 2000 – II ZR 320/98, ZIP 2000, 1772, 1773). Ein Nachschieben von in der Kündigungserklärung nicht angegebenen Gründen ist zulässig, wenn die Gründe im Zeitpunkt der Kündigung objektiv bereits vorlagen, d. h. nicht erst später eingetreten sind, und die Mitgesellschafter mit ihrer nachträglichen Geltendmachung rechnen mussten (vgl. BGH, Urteil vom 5. Mai 1958 – II ZR 245/56, BGHZ 27, 220, 225 f.; MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 5. Aufl., § 723 Rn. 24 m. w. N.).

e) Auch wenn das außerordentliche Kündigungsrecht unverzichtbar ist, kann seine verzögerte Ausübung für die Wirksamkeit der Kündigung Bedeutung erlangen. Wird das Kündigungsrecht in Kenntnis des Bestehens seines Grundes über einen längeren Zeitraum nicht ausgeübt, so kann eine tatsächliche Vermutung dafür sprechen, dass der Kündigungsgrund nicht so schwer wiegt, dass dem Kündigenden die Fortsetzung der Gesellschaft unzumutbar ist oder dass der Grund dieses Gewicht jedenfalls in der Zwischenzeit verloren hat (sie-he nunmehr § 314 Abs. 3 BGB sowie BGH, Urteil vom 11. Juli 1966 – II ZR 215/64, WM 1966, 857, 858; MünchKommBGB/Ulmer/Schäfer, 5. Aufl., § 723 Rn. 48 m. w. N.).

f) Die Insolvenz eines Gesellschafters in einer Publikumsgesellschaft führt regelmäßig zum Ausscheiden des Gesellschafters und zur Fortsetzung der Gesellschaft unter den verbleibenden Gesellschaftern. Ist dieser Gesellschafter zugleich Geschäftsführer, führt dies in der Regel zu seiner Abberufung und zur Einsetzung eines neuen Geschäftsführers. Angesichts dieser während des Bestehens einer Gesellschaft jederzeit möglichen Ereignisse in der Person des geschäftsführenden Gesellschafters, die nach dem Willen der Gesellschafter auf den Fortbestand der Gesellschaft keinen Einfluss haben sollen, bedarf es der Feststellung besonderer Umstände, die es rechtfertigen, dass ein Mitgesellschafter gleichwohl in diesem Fall die Gesellschaft aus wichtigem Grund kündigen kann.

g) In einem zur Altersvorsorge gedachten Fonds sind nach der Rechtsprechung des Senats rechtsgeschäftliche Bindungen über einen langen Zeitraum nicht schlechthin unzulässig. Eine Grenze bilden §§ 138, 242, 723 Abs. 3 BGB, gegebenenfalls auch § 307 BGB. Eine langfristige Bindung ist dann sittenwidrig, wenn durch sie die persönliche und wirtschaftliche Handlungsfreiheit so beschränkt wird, dass die eine Seite der anderen in einem nicht mehr hin-nehmbaren Übermaß “auf Gedeih und Verderb” ausgeliefert ist. Maßgebend ist eine Abwägung der jeweiligen vertragstypischen und durch die Besonderheiten des Einzelfalls geprägten Umstände (vgl. BGH, Urteil vom 22. Mai 2012 – II ZR 205/10).

h) Wird die Beteiligung an einer Personengesellschaft wirksam gekündigt, führt dies nach der ständigen Rechtsprechung des Senats zur Anwendung der Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft und zur Ermittlung des Wertes des Geschäftsanteils des fehlerhaft beigetretenen Gesellschafters im Zeitpunkt seines Ausscheidens.

i) Mit Zugang der außerordentlichen Kündigung scheidet der Gesellschafter mit Wirkung “ex nunc” aus der Gesellschaft aus, mit (u.a.) der Folge, dass der Gesellschafter zur Zahlung rückständiger, noch nicht erbrachter (Einlage-)Leistungen an die Gesellschaft verpflichtet bliebe (st. Rspr., siehe nur BGH, Beschluss vom 5. Mai 2008 – II ZR 292/06, ZIP 2008, 1018 Rn. 9 m. w. N. – FRIZ I). Diesen Anspruch kann die Gesellschafterin jedoch nicht mehr isoliert geltend machen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats unterliegen sowohl die Ansprüche des Gesellschafters gegen die Gesellschaft als auch die der Gesellschaft gegen die Gesellschafter zum Stichtag des Ausscheidens einer Durchsetzungssperre; die gegenseitigen Ansprüche werden zu unselbständigen Rechnungsposten der Auseinandersetzungsrechnung (siehe nur BGH, Urteil vom 15. Mai 2000 – II ZR 6/99, ZIP 2000, 1208, 1209; Urteil vom 2. Juli 2001 – II ZR 304/00, BGHZ 148, 201, 207 f.; Urteil vom 12. Juli 2010 – II ZR 492/06, BGHZ 186, 167 Rn. 12 – FRIZ II; Urteil vom 17. Mai 2011 – II ZR 285/09, ZIP 2011, 1359 Rn. 14, 17).

j) Nach der Rechtsprechung des Senats enthält eine Klage im ordentlichen Verfahren, die unter Verkennung der Durchsetzungssperre auf Zahlung gerichtet ist, ohne weiteres ein Feststellungsbegehren, das darauf gerichtet ist, dass die entsprechende Forderung in die Auseinandersetzungsrechnung eingestellt wird; eines entsprechenden (ausdrücklichen) Hilfsantrags der klagenden Partei bedarf es nicht (siehe nur BGH, Urteil vom 9. März 1992 – II ZR 195/90, NJW 1992, 2757, 2758; Urteil vom 15. Mai 2000 – II ZR 6/99, ZIP 2000, 1208, 1210; Urteil vom 18. März 2002 – II ZR 103/01, NZG 2002, 519).

k) Im Urkundenprozess vermag diese Auslegung der Klage jedoch nicht zum Erfolg zu verhelfen, da nach § 592 ZPO im Urkundenprozess (nur) ein Anspruch geltend gemacht werden kann, „welcher die Zahlung einer bestimmten Geldsumme” zum Gegenstand hat. Aus diesem Grund ist die Erhebung einer Feststellungsklage im Urkundenprozess unstatthaft (BGH, Urteil vom 31. Januar 1955 – II ZR 136/54, BGHZ 16, 207, 213; Urteil vom 21. März 1979 – II ZR 91/78, WM 1979, 614; Musielak/Voit, ZPO, 9. Aufl., § 592 Rn. 3; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 592 Rn. 3).

Schlagworte: Ausscheiden, Beitritt, Durchsetzungssperre, fehlerhafte Gesellschaft, Fortsetzung, Gesamtwürdigung, Gesellschafter, Insolvenz, Interessenabwägung, Kündigung, Nachschieben von Gründen, Publikumspersonengesellschaft, unselbständiger Rechnungsposten, Verwirkung, Wichtiger Grund, Widerruf