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BVerfG, Beschluss vom 09. Januar 2014 – 1 BvR 299/13

Art 19 Abs 3 GG, Art 103 Abs 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, §§ 98ff AktG, § 96 Abs 2 AktG, § 98 AktG, § 27 AktGEG, § 1 Abs 1 Nr 3 DrittelbG, § 325 Abs 1 S 3 HGB, § 335 Abs 1 S 1 HGB, § 335 Abs 1 S 3 HGB, § 335 Abs 3 S 4 HGB, § 17 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG

1. Das strenge Bestimmtheitsgebot des Art 103 Abs 2 GG ist auf den Ordnungsgeldtatbestand des § 335 HGB anwendbar (zum Schutzbereich des Art 103 Abs 2 GG vgl. BVerfG, 05.02.2004, 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133 <167>). Bislang war diese Frage offen geblieben (vgl. BVerfG, 04.12.2006, 1 BvR 1200/04, NJW-RR 2007, 860).

Schon wegen der doppelten Wirkung des gem. § 335 HGB festgesetzten Ordnungsgeldes sowohl als Beugemittel als auch als repressive strafähnliche Sanktion liegt es nahe, dass die Maßnahme auch den Anforderungen des Art 103 Abs 2 GG genügen muss. Mit Rücksicht auf den sanktionierenden Zweck der Bestimmung steht die Anwendbarkeit des Art 103 Abs 2 GG außer Frage.

2. Art 103 Abs 2 GG setzt auch der tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen. Tragweite und Anwendungsbereich des Tatbestandes müssen für den Betroffenen klar erkennbar sein, sich zumindest durch Auslegung ermitteln lassen. Auch die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Sanktion bezeichnet hat, darf nicht dazu führen, dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Sanktionierung im Ergebnis wieder aufgehoben wird (vgl. BVerfG, 10.01.1995, 1 BvR 718/89, BVerfGE 92, 1 <16>). (Rn.16) (Rn.17)

3. Hier:

3a. Die Beschwerdeführerin, eine GmbH, bei der kein Aufsichtsrat eingerichtet war, wendet sich gegen die Auferlegung eines Ordnungsgeldes nach § 335 HGB wegen Nichtvorlage eines Aufsichtsratsberichts.

3b. aa. Vorliegend ist Art 103 Abs 2 GG als Prüfungsmaßstab anzuwenden, da es allein noch um die Sanktionierung der Nichtvorlage des Aufsichtsratsberichts ging; der Erzwingungseffekt des Ordnungsgeldes war insoweit nicht mehr erreichbar. Deshalb kommt dem Ordnungsgeld vorliegend nur der Charakter einer missbilligenden hoheitlichen Reaktion zu.

bb. Die angegriffene Entscheidung legt § 335 HGB tatbestandsausweitend aus und genügt daher den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Das LG hat, ohne dass dies für die Beschwerdeführerin zuvor hinreichend normenklar erkennbar war, die Ordnungsgeldbestimmung des § 335 HGB im Ergebnis zur gesetzlich nicht vorgesehenen Durchsetzung einer vorgelagerten Maßnahme, der Pflicht zur Bildung eines Aufsichtsrats und der etwaigen Durchführung eines aktienrechtlichen Statusverfahrens verwendet.

cc. Diese tatbestandsausweitende Norminterpretation wird auch dadurch deutlich, dass der Zweck der Offenlegungspflicht – die Herstellung von Transparenz – wegen des Fehlend von Offenlegbarem im vorliegenden Fall offensichtlich nicht berührt ist.

dd. Auch die Berücksichtigung der Vorschriften des Drittelbeteiligungsgesetzes (juris: DrittelbG) führt nicht zu einer hinreichenden Bestimmtheit des vom LG zugrunde gelegten Normverständnisses. Weder das DrittelbG noch das AktG sehen eine unmittelbare zwangsweise Durchsetzung der Pflicht zur Einrichtung eines Aufsichtsrates (§ 1 Abs 1 Nr 3 DrittelbG) oder die Sanktionierung der Nichtbefolgung vor. Vielmehr ist diese Pflicht in einem speziellen Verfahren (§ 98 Abs 1 AktG) gerichtlich durchsetzbar.

Schlagworte: Fehlender Aufsichtsratsbericht nach § 325 Abs. 1 Satz 3 HGB, Mitbestimmung, Verstoß gegen Mitbestimmungsgesetze