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BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 2 BvR 1562/17

Art. 13 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG

Die Staatsanwaltschaft München II wird angewiesen, die im Rahmen der Durchsuchung der Geschäftsräume der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day in der Prinzregentenstraße 11 in München am 15. März 2017 sichergestellten Unterlagen (lfd. Nummern 1 bis 185 des Durchsuchungs-/Sicherstellungsprotokolls vom 15. März 2017) sowie die angefertigte Datensicherung (Festplatte gemäß lfd. Nummer 186 des Durchsuchungs-/Sicherstellungsprotokolls vom 15. März 2017) – diese nach Vollziehung der durch Beschluss des Landgerichts München I vom 7. Juni 2017 (6 Qs 9/17, 6 Qs 10/17, 6 Qs 11/17) angeordneten Herausgabe der unter dem Dateipfad „interwoven“ von einem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Daten und Vernichtung davon gefertigter Kopien – bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, bei dem Amtsgericht München versiegelt zu hinterlegen.

Eine Auswertung oder sonstige Verwertung der sichergestellten Unterlagen und der Datensicherung hat in diesem Zeitraum zu unterbleiben.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführer sind Rechtsanwälte der international tätigen Rechtsanwaltskanzlei Jones Day. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sie sich gegen die auf § 103 StPO gestützte Anordnung der Durchsuchung der Räumlichkeiten des Münchener Kanzleistandorts sowie gegen die Sicherstellung von Unterlagen und elektronischen Daten im Zuge des sogenannten „VW-Dieselskandals“.

1. Der Beschwerdeführer zu 1) ist Partner der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day, einer Partnership nach dem Recht des US-amerikanischen Bundesstaats Ohio; die Beschwerdeführer zu 2) und 3) sind angestellte Rechtsanwälte. Die Beschwerdeführer sind sämtlich am Münchener Kanzleistandort tätig. Anlässlich eines in den USA geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen wurde die Kanzlei Jones Day im September 2015 von der Volkswagen AG mit internen Ermittlungen, rechtlicher Beratung und der Vertretung gegenüber den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden beauftragt. Zum Zwecke der Sachaufklärung sichteten die Rechtsanwälte der Kanzlei konzernweit eine Vielzahl von Dokumenten und führten über 700 Befragungen von Mitarbeitern des Volkswagen-Konzerns durch. Der Aufsichtsrat der ebenfalls von den Ermittlungen betroffenen Audi AG ermächtigte seinen stellvertretenden Vorsitzenden, über die Volkswagen AG einen Zugriff auf die die Audi AG betreffenden Ergebnisse der „External Investigation“ der Kanzlei Jones Day zu veranlassen (Aufsichtsratsbeschluss vom 7. Oktober 2015). Laut Jahresabschlussbericht der Audi AG für das Geschäftsjahr 2015 erhielten Aufsichtsrat und Vorstand zum Zeitpunkt der Jahresabschlussaufstellung einen mündlichen Zwischenbericht über den Stand der Untersuchungen. Die Beschwerdeführer waren im Rahmen des Mandats mit der Sachverhaltsermittlung und der rechtlichen Bewertung der gewonnenen Erkenntnisse befasst. Der Beschwerdeführer zu 1) berichtete gegenüber dem Sonderausschuss des Aufsichtsrats der Volkswagen AG, dem Aufsichtsrat der Audi AG und den Vorständen beider Unternehmen.

Im Januar 2017 einigten sich die Volkswagen AG und das U.S. Department of Justice im Rahmen eines sogenannten Plea Agreement auf die Zahlung eines Strafgeldes in Höhe von 2,8 Milliarden USD. Die Volkswagen AG bekannte sich in einem der Verständigung beigefügten statement of facts schuldig, durch eine Tochterfirma in den USA Dieselfahrzeuge mit unzulässigen Abgaskontrollvorrichtungen vertrieben zu haben. Betroffen waren Fahrzeuge mit 2,0 Liter-Dieselmotoren der Volkswagen AG und mit 3,0 Liter-Dieselmotoren, die die Audi AG entwickelt und hergestellt hatte.

Wegen der Vorgänge im Zusammenhang mit den 3,0 Liter-Dieselmotoren der Audi AG führt die Staatsanwaltschaft München II ein Ermittlungsverfahren wegen Betruges und strafbarer Werbung, das sich bislang gegen Unbekannt richtet. Auf ihren Antrag ordnete das Amtsgericht München mit Beschluss vom 6. März 2017 auf der Grundlage von § 103 StPO die Durchsuchung der Münchener Geschäftsräume der Kanzlei Jones Day an. Die Durchsuchung sollte der Auffindung von Dokumenten dienen, die von der Kanzlei im Zuge ihrer internen Ermittlungen über die Vorgänge um den 3,0 Liter-Dieselmotor der Audi AG zusammengetragen oder erstellt worden waren.

Die Durchsuchungsanordnung wurde am 15. März 2017 vollzogen. Insgesamt stellten Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt 185 Aktenordner und Hefter mit Unterlagen sicher, davon 59 aus den Büros der Beschwerdeführer und 126 aus einem eigens eingerichteten und nur den sachbearbeitenden Rechtsanwälten zugänglichen Aktenraum. Die Ermittler sicherten außerdem einen umfangreichen Bestand an elektronischen Daten, von denen sie einen Teil zunächst von einem in Belgien befindlichen Server herunterluden. Vom Laptop des Beschwerdeführers zu 3) wurden mehrere Dateien und aus dem E-Mail-Account des Beschwerdeführers zu 1) ein E-Mail-Ordner mit der Bezeichnung „Diesel“ kopiert, in dem kanzleiinterner mandatsbezogener E-Mail-Verkehr – auch solcher mit den Beschwerdeführern zu 2) und 3) – gespeichert war. Auf den Widerspruch der Kanzlei Jones Day bestätigte das Amtsgericht München die Sicherstellung mit Beschluss vom 21. März 2017.

Im Hinblick auf die Sicherstellung stellten die Beschwerdeführer am 13. April 2017 jeweils einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO und beantragten, sämtliche sichergestellten Unterlagen und gesicherten Daten an die Rechtsanwaltskanzlei Jones Day herauszugeben. Das Amtsgericht München und das Landgericht München I behandelten die Anträge als Beschwerden gegen die Bestätigung der Sicherstellung vom 21. März 2017, denen das Amtsgericht München mit Entscheidung vom 26. April 2017 nicht abhalf. Gegen die Durchsuchungsanordnung vom 6. März 2017 legten die Beschwerdeführer am 3. Mai 2017 Beschwerde ein, über die das Amtsgericht München keine Nichtabhilfeentscheidung traf.

Mit Beschluss vom 7. Juni 2017 (6 Qs 9/17, 6 Qs 10/17, 6 Qs 11/17) ordnete das Landgericht München I auf die Beschwerden der Beschwerdeführer vom 13. April 2017 – sowie auf die entsprechende Beschwerde der Kanzlei Jones Day vom 13. April 2017 – an, dass die von dem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Dateien an die Kanzlei Jones Day herauszugeben und davon gefertigte Kopien zu vernichten seien. Im Übrigen verwarf es die Beschwerden als unbegründet. Mit ebenfalls vom 7. Juni 2017 datierendem Beschluss (6 Qs 12/17, 6 Qs 13/17, 6 Qs 14/17) verwarf das Landgericht München I die gegen den Durchsuchungsbeschluss gerichteten Beschwerden der Beschwerdeführer vom 3. Mai 2017 als unbegründet.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführer gegen die genannten Beschlüsse des Amtsgerichts München vom 6. März 2017, 21. März 2017 und 26. April 2017 sowie des Landgerichts München I vom 7. Juni 2017.

Sie sehen sich durch die Anordnung der Durchsuchung in ihren Grundrechten aus Art. 13 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, durch die Sicherstellung der Unterlagen und Daten und deren Bestätigung in ihren Grundrechten aus Art. 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

Im Wesentlichen berufen sich die Beschwerdeführer darauf, dass Amtsgericht und Landgericht bei der Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO und § 160a StPO den grundrechtlichen Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Rechtsanwalt und Mandant nicht hinreichend berücksichtigt hätten. Für den Beschlagnahmeschutz aus § 97 StPO sei nicht die formale Stellung des Mandanten als Beschuldigter im konkreten Ermittlungsverfahren entscheidend, sondern allein das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant, so dass sich die Anordnung der Durchsuchung wegen eines Beschlagnahmeverbotes als unverhältnismäßig und damit auch die Sicherstellung als verfassungswidrig erweise.

Die Beschwerdeführer beantragen, die Ermittlungsbehörden im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG anzuweisen, die im Rahmen der Durchsuchung der Kanzleiräumlichkeiten sichergestellten Unterlagen sowie die angefertigte Datensicherung – diese nach Löschung beziehungsweise Herausgabe der von dem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Daten gemäß der Anordnung des Landgerichts München I – bei dem Amtsgericht München versiegelt zu hinterlegen, und ihnen jegliche Auswertung oder sonstige Verwendung der Unterlagen und der Datensicherung im Ermittlungsverfahren bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zu untersagen.

II.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 103, 41 <42>; 121, 1 <15>; 134, 138 <140 Rn. 6 m.w.N.>; stRspr).

Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 121, 1 <17>; 125, 385 <393>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr). Die Folgenabwägung gemäß § 32 BVerfGG stützt sich mithin auf eine bloße Einschätzung der Entscheidungswirkungen (vgl. nur BVerfGE 94, 166 <217>).

2. Nach diesen Maßgaben war die einstweilige Anordnung zu erlassen.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Zunächst wird zu klären sein, in welchem Umfang sich die bei der Kanzlei Jones Day tätigen Beschwerdeführer auf die von ihnen geltend gemachten Grundrechte berufen können. In der Sache wirft die Verfassungsbeschwerde vor allem die Frage auf, in welchem Umfang das im Rahmen von Art. 13 Abs. 1 GG zu berücksichtigende Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlichen Schutz genießt und inwieweit in dieses Verhältnis durch staatliche Ermittlungsmaßnahmen wie beispielsweise eine Durchsuchung eingegriffen werden darf, wenn der Rechtsanwalt im Auftrag seines Mandanten mit einer internen Untersuchung befasst ist, auf deren Ergebnisse die Ermittlungsbehörden zugreifen möchten, weil sie sich davon weitergehende Erkenntnisse für ihre Ermittlungen in einem Verfahren versprechen, in welchem der Mandant zwar nicht formell Beschuldigter ist, das aber in unmittelbarem Zusammenhang mit den im Rahmen des Mandatsverhältnisses durchgeführten internen Ermittlungen steht. Dies kann im Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden.

b) Im Rahmen der somit erforderlichen Folgenabwägung überwiegen die Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Staatsanwaltschaft in der Zwischenzeit eine Auswertung des sichergestellten Materials vornehmen, ohne hierzu berechtigt zu sein. Dieser Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die im Zuge der internen Ermittlungen erstellten und gesammelten Unterlagen und Daten könnte nicht nur zu einer – möglicherweise irreparablen – Beeinträchtigung des rechtlich geschützten Vertrauensverhältnisses (vgl. BVerfGE 113, 29 <49> m.w.N.) zwischen der Volkswagen AG und der Kanzlei Jones Day und damit auch den Beschwerdeführern führen. Eine Auswertung könnte – zumal angesichts der medialen Aufmerksamkeit, die dem Fall zukommt – auch bei anderen Mandanten, die mit dem Ermittlungsverfahren in keinem Zusammenhang stehen, dazu führen, dass diese ihre Geschäftsgeheimnisse und persönlichen Daten in der Kanzlei, in der die Beschwerdeführer tätig sind, in Unsicherheit wähnen und ihre Aufträge zurückziehen (vgl. BVerfGE 105, 365 <372>; BVerfGK 1, 245 <248>). Dies hätte unmittelbare Folgen auch für die berufliche Tätigkeit der Beschwerdeführer. Überdies könnte die Staatsanwaltschaft durch die Auswertung des gesicherten E-Mail-Ordners „Diesel“ Kenntnis vom Inhalt der internen Kommunikation zwischen dem Beschwerdeführer zu 1) und den übrigen bei der Kanzlei Jones Day mit der Bearbeitung des Volkswagen-Mandats beschäftigten Rechtsanwälten, insbesondere auch den Beschwerdeführern zu 2) und 3), erlangen. Auch darin läge ein schwer wiedergutzumachender Grundrechtseingriff. Schließlich könnten durch die Auswertung persönliche Daten unbeteiligter Dritter, insbesondere von Mitarbeitern der Volkswagen AG oder ihrer Tochtergesellschaften wie etwa der Audi AG, die ihre Daten in der Sphäre der Kanzlei Jones Day sicher glaubten, zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen.

Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als unbegründet, würde damit lediglich eine Verzögerung der staatsanwaltlichen Ermittlungen für eine begrenzte Zeitspanne einhergehen. Ein Beweisverlust hinsichtlich der Informationen aus dem sichergestellten Material wäre nicht zu befürchten, wenn auch den Ermittlungsbehörden vorerst die Möglichkeit versperrt bliebe, mit Hilfe dieser Informationen weitere Ermittlungshandlungen vorzunehmen, die der Beweiserhebung oder der Verfahrenssicherung dienen. Bei Abwägung der jeweiligen Folgen wiegen die möglichen Nachteile für die Beschwerdeführer schwerer als die durch den Erlass der einstweiligen Anordnung eintretende vorübergehende Beschränkung der staatlichen Strafverfolgung.

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