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BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 24.05.2012 – 1 BvR 3221/10

GG Art. 14; UmwG § 15; SpruchG

1. Art. 14 Abs. 1 GG schützt das in der Aktie verkörperte Anteilseigentum, das im Rahmen seiner gesellschaftsrechtlichen Ausgestaltung durch Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis gekennzeichnet ist und sowohl die mitgliedschaftliche Stellung des Aktionärs in der Gesellschaft als auch vermögensrechtliche Ansprüche vermittelt (vgl. BVerfGE 14, 263 <276>; 25, 371 <407>; 50, 290 <339>; 100, 289 <301 f.>). Verliert der Minderheitsaktionär diese mitgliedschaftliche Stellung oder wird er hierin durch eine Strukturmaßnahme in relevantem Maße eingeschränkt, muss er für den Verlust seiner Rechtsposition und die Beeinträchtigung seiner vermögensrechtlichen Stellung wirtschaftlich voll entschädigt werden (vgl. BVerfGE 100, 289 <304 f.>). Dabei hat die Entschädigung den „wirklichen“ oder „wahren“ Wert des Anteilseigentums widerzuspiegeln (vgl. BVerfGE 100, 289 <306>).

2. Zudem folgt aus Art. 14 Abs. 1 GG, dass die grundrechtlich geschützte Aktionärsstellung auch verfahrensrechtlich abgesichert werden muss. Dies bedeutet, dass eine Abfindungs- und Ausgleichsregelung gerichtlich überprüfbar sein muss (vgl. BVerfGE 100, 289 <304>; BVerfGK 1, 265 <269>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 23. August 2000 – 1 BvR 68/95, 1 BvR 147/97 -, NJW 2001, S. 279 <281>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2007 – 1 BvR 390/04 -, NJW 2007, S. 3268 <3270> Rn. 20).

3. Diese Maßgaben, die ursprünglich für die Fallgestaltungen eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages sowie einer Eingliederung entwickelt worden sind, sind auf die Verschmelzung durch Aufnahme zu übertragen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. April 2011 – 1 BvR 2658/10 -, NJW 2011, S. 2497 <2498> Rn. 22; offener noch Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2007 – 1 BvR 1267/06, 1 BvR 1280/06 -, NJW 2007, S. 3266 <3267>; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2010 – 1 BvR 2323/07 -, WM 2011, S. 219 <220>).

4. Nach § 15 UmwG ist vom übernehmenden Rechtsträger in Fällen, in denen das Umtauschverhältnis der Anteile zu Lasten der Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers zu niedrig bemessen ist, auf deren Antrag eine bare Zuzahlung zu leisten. Ob das Umtauschverhältnis zu niedrig bemessen ist, ist von den Fachgerichten im Spruchverfahren zu klären. Ihnen obliegt es, die Vorschriften des Umwandlungsgesetzes zur Verschmelzung zweier Aktiengesellschaften auszulegen und anzuwenden. Dabei müssen sie aber dem durch die zivilrechtlichen Normen ausgestalteten oder eingeschränkten Grundrecht Rechnung tragen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt. Bei der Nachprüfung des Umtauschverhältnisses (§ 15 UmwG) gebietet es das Eigentumsgrundrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) vor allem, dass der vollständige Ausgleich für die Beeinträchtigung der vermögensrechtlichen Stellung der Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers nicht verfehlt wird (vgl. BVerfGE 100, 289 <304 f.>).

5. Bei der Verschmelzung zweier wirtschaftlich und rechtlich unabhängiger Unternehmen darf die gerichtliche Kontrolle im Spruchverfahren nicht auf die Prüfung eines ordnungsgemäßen Verhandlungsprozesses der Vorstände beschränkt werden. Die Überprüfung lediglich dieses Verhandlungsprozesses stellt nicht hinreichend sicher, dass mit dem vereinbarten Umtauschverhältnis die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers wirtschaftlich voll entschädigt werden. Das zur Nachprüfung berufene Gericht kann sich nicht darauf zurückziehen, ein zwischen den Vorständen zweier unabhängiger, gleichberechtigter Aktiengesellschaften mit gegenläufigen Interessen („unter Gleichen“) ausgehandelter „Preis“ sei grundsätzlich als angemessen zu beurteilen. Es geht nicht darum zu klären, ob die Umtauschrelation zwischen unabhängigen, gleichberechtigten Unternehmen in einem ordnungsgemäßen Verfahren vereinbart worden ist und ob den Organen beim Aushandeln des Umtauschverhältnisses Pflichtwidrigkeiten unterlaufen sind. Maßgeblich ist allein, ob durch das Verhandlungsergebnis ein voller wirtschaftlicher Wertausgleich geschaffen wird. Hierfür bieten die Verhandlungen der Vertretungsorgane im Rahmen des Verschmelzungsprozesses deshalb keine hinreichende Gewähr, weil diese neben der Festlegung des Umtauschverhältnisses von vielfältigen weiteren unternehmerischen Erwägungen getragen sein können. Selbst wenn es bei Verschmelzungen keinen strukturellen Interessengegensatz zwischen Aktionärsmehrheit und -minderheit geben sollte, ist die Verhandlungsführung der Vorstände schon aus diesem Grunde nicht geeignet, den Schutz der Aktionäre, die an den Verhandlungen nicht beteiligt sind, sicherzustellen.

6. Bei der Ermittlung des Unternehmenswertes handelt es sich in erster Linie um eine Frage, die auf der Ebene des einfachen Rechts zu beantworten ist. Dementsprechend schreibt Art. 14 Abs. 1 GG weder eine bestimmte Methode der Unternehmensbewertung noch bestimmte Prognoseverfahren zur Einschätzung künftiger Erträge vor (vgl. BVerfGE 100, 289 <307>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2007 – 1 BvR 1267/06, 1 BvR 1280/06 -, NJW 2007, S. 3266 <3268>). Die Heranziehung der Ertragswertmethode ist verfassungsrechtlich unbedenklich.

7. Die der Unternehmensbewertung zugrunde liegenden Prognosen über die künftige Entwicklung der Unternehmen und ihrer Erträge sind lediglich daraufhin zu überprüfen, ob sie auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage beruhten und vertretbar sind. Auf der Grundlage der Ertragswertmethode ist es nicht möglich, stichtagsbezogen einen exakten, einzig richtigen Wert eines Unternehmens zu bestimmen. Jede in die Zukunft gerichtete Prognose, insbesondere die der Ertragswertmethode eigene Beurteilung künftiger Erträge, ist ihrer Natur nach mit Unsicherheiten behaftet. Vor diesem Hintergrund ist es zur Berechnung des vollen Ausgleichs von Verfassungs wegen nicht geboten, eine auf zutreffender Tatsachengrundlage beruhende, vertretbare Prognose durch eine andere – ebenfalls notwendigerweise nur vertretbare – zu ersetzen. Der fachrechtliche Versuch, letztlich nicht auflösbaren Divergenzen weiter nachzugehen, kann für sich gesehen kein Gewinn für die rechtsschützende Wirkung richterlicher Nachprüfung sein. Dies gilt zumal auch deshalb, weil Spruchverfahren gerade wegen der in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht besonders komplexen Bewertungsfragen einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, nicht in angemessener Zeit abgeschlossen zu werden und dann das Gebot effektiven Rechtsschutzes zu verletzen (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG; zur überlangen Verfahrensdauer bei aktienrechtlichen Spruchverfahren vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. November 2011 – 1 BvR 3155/09 -, WM 2012, S. 75 f. und vom 2. Dezember 2011 – 1 BvR 314/11 -, WM 2012, S. 76 ff.).

Schlagworte: Abfindung, Aktienrecht, Ausgleich, Beherrschungsvertrag, Bewertungsmethoden, Ertragswertverfahren, Gewinnabführungsvertrag, Minderheitsschutz, Spruchverfahren, Überprüfbarkeit, Umtauschverhältnis, Umwandlung, Unternehmensbewertung, Verschmelzung