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BGH, Beschluss vom 9. Januar 2024 – II ZB 20/22

Dienstag, 9. Januar 2024

Amtsverhinderung AufsichtsratBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Amtsverhinderung Aufsichtsrat
Aufsichtsrat

AktG § 103Bitte wählen Sie ein Schlagwort:
AktG
AktG § 103
Abs. 1, 3, § 104 Abs. 1 Satz 1

Ein Aufsichtsrat, der wegen eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds beschlussunfähig ist, kann nicht entsprechend § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG ergänzt werden.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des 2. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts vom 14. September 2022 wird auf ihre Kosten verworfen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 60.000 €.

Gründe

I.

Die Antragsteller zu 1 und 2 sind Vorstandsmitglieder, die Antragsteller zu 3 und 4 sind Aufsichtsratsmitglieder der P.                AG, deren Aufsichtsrat nach § 9 Abs. 2 ihrer Satzung aus drei Mitgliedern besteht. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 der Satzung ist der Aufsichtsrat nur beschlussfähig, wenn drei Mitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen.2

In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht E.                      (1 HK O 56/21) traten die beiden Aktionäre der P.              AG, die H.                KG, deren Gesellschafter die Töchter der weiteren Beteiligten sind, und die B.                   KG unter Verzicht auf alle Form- und Fristvorschriften zu einer außerordentlichen Hauptversammlung zusammen und bestellten die weitere Beteiligte für die Dauer bis zum Ablauf derjenigen Hauptversammlung, die über den Jahresabschluss und die Entlastung für das vierte Jahr nach der Bestellung beschließt, zum Mitglied des Aufsichtsrats.3

Die Antragsteller beantragten mit Schriftsatz vom 9. Februar 2022, Rechtsanwalt Prof. Dr.       L.     gemäß § 104 Abs. 1 AktG für die Dauer bis zur Bestellung eines neuen Aufsichtsratsmitglieds durch die Hauptversammlung als Ersatzaufsichtsratsmitglied der P.              AG für die weitere Beteiligte zu bestellen, da diese ihre Mitwirkung im Aufsichtsrat verweigere und dessen Beschlussunfähigkeit herbeiführe.4

Das Amtsgericht – Registergericht – hat den Antrag zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Beschwerdegericht zurückgewiesen. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgen die Antragsteller ihr Begehren weiter.

II.

Das Beschwerdegericht (Thüringer OLG, BeckRS 2022, 53394) hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:6

Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds nach § 104 Abs. 1 AktG lägen nicht vor. Der Aufsichtsrat der P.                AG bestehe nach § 9 Abs. 2 der Satzung, § 95 Satz 1, 2 AktG aus drei Aufsichtsratsmitgliedern und sei zahlenmäßig nicht unterbesetzt, da ihm die weitere Beteiligte sowie die Antragsteller zu 3 und 4 angehörten.7

Dem Fehlen eines Mitglieds gemäß § 104 Abs. 1 AktG sei die dauernde Amtsverhinderung gleichgestellt. Der auf Sicherung der Handlungs- und Funktionsfähigkeit gerichtete Zweck des § 104 Abs. 1 AktG gebiete die Anwendung der Vorschrift immer dann, wenn die Verhinderung so beschaffen sei, dass das Aufsichtsratsmitglied längerfristig nicht in der Lage sei, seiner Überwachungsaufgabe nachzukommen und bei Beschlussfassungen seine Stimme zumindest schriftlich abzugeben. Ein Aufsichtsratsmitglied sei aber nicht dauerhaft verhindert iSd § 104 Abs. 1 AktG, wenn es zur Verfolgung von Eigeninteressen die Mitwirkung an den Beschlussfassungen des Aufsichtsrats verweigere. Das Amt des verhinderten Aufsichtsratsmitglieds erlösche nicht, sondern ruhe nur bis zur Beendigung des Amts des ersatzweise gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds. Nach § 104 Abs. 6 AktG erlösche das Amt des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds wiederum kraft Gesetzes, sobald der Mangel behoben sei. Die Mitwirkung an den erforderlichen Beschlussfassungen in den Fällen der Obstruktion hänge deshalb ausschließlich vom entsprechenden Willen des Aufsichtsratsmitglieds ab. Hingegen erlösche das Amt des bestellten Ersatzmitglieds mit der zwischenzeitlichen Mitwirkung des verhinderten Aufsichtsratsmitglieds nach der gerichtlichen Entscheidung. Scheide die Einberufung einer Hauptversammlung aus, sei der Antrag auf Abberufung des Aufsichtsratsmitglieds nach § 103 Abs. 3 AktG mit dem Antrag auf Ersatzbestellung nach § 104 Abs. 1 AktG zu kombinieren. Das betroffene Aufsichtsratsmitglied sei dabei nicht stimmberechtigt. Die Durchführung und Wirksamkeit der Beschlussfassung nach § 103 Abs. 3 AktG könne entweder dadurch gesichert werden, dass die Beschlussfassung durch die verbleibenden Aufsichtsratsmitglieder als wirksam angesehen oder eine Ergänzungsbestellung nur für die anstehende Beschlussfassung beantragt werde.

III.

Die durch das Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Ergänzung des Aufsichtsrats gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG liegen nicht vor.9

1. Dem Aufsichtsrat der P.               AG gehört mit den Antragstellern zu 3 und 4 und der weiteren Beteiligten die zur Beschlussfähigkeit nötige Zahl von Mitgliedern an.10

Nach § 104 Abs. 1 AktG sind der Vorstand, ein Mitglied des Aufsichtsrats oder ein Aktionär berechtigt, bei Gericht einen Antrag auf Ergänzung des Aufsichtsrats zu stellen, wenn dem Aufsichtsrat die zur Beschlussfassung erforderliche Anzahl von Mitgliedern nicht angehört. Die Norm soll die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats sicherstellen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 2002- II ZR 296/01, ZIP 2002, 1619, 1621 mwN). Dem Fehlen eines Mitglieds wird die dauerhafte Amtsverhinderung des Aufsichtsratsmitglieds gleichgesetzt, etwa wegen rechtlicher, wie die Vertretung eines Vorstandsmitglieds nach § 105 Abs. 2 S. 1 AktG, oder tatsächlicher Verhinderung, etwa infolge Krankheit, Unerreichbarkeit oder eines dauerhaften Interessenkonflikts (Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 104 Rn. 3; Koch, AktG, 17. Aufl., § 104 Rn. 2; Simons in Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl., § 104 Rn. 7; BeckOGKAktG/Spindler, Stand: 01.07.2023, § 104 Rn. 12).11

Die weitere Beteiligte ist weder rechtlich noch tatsächlich dauerhaft an der Ausübung ihres Aufsichtsratsmandats gehindert. Das Beschwerdegericht hat offengelassen, ob die weitere Beteiligte die Mitwirkung im Aufsichtsrat seit September 2021 boykottiert und damit dessen Beschlussunfähigkeit herbeiführt, um so die Geltendmachung von Zahlungsansprüchen der P.                AG gegen die Erbengemeinschaft nach H.          , der neben der weiteren Beteiligten auch ihre drei Töchter angehören, zu verhindern. Dies ist deshalb für das Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellen. Dabei handelt es sich aber nicht um einen dauerhaften, sondern lediglich um einen punktuellen Interessenkonflikt der weiteren Beteiligten bei ihrer Aufsichtsratstätigkeit für die P.                AG, der auch nach den von der Rechtsbeschwerde dazu angeführten Literaturstimmen (MünchKommAktG/Habersack, 6. Aufl., § 104 Rn. 13; Koch, AktG, 17. Aufl., § 104 Rn. 2; MünchHdbGesR VII/Lieder, 6. Aufl., § 26 Rn. 270) nicht vom Anwendungsbereich des § 104 Abs. 1 AktG erfasst wird. Die von der Rechtsbeschwerde in diesem Zusammenhang erhobene Verfahrensrüge hat der Senat geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet (§ 577 Abs. 6 Satz 2, § 564 Satz 1 ZPO).12

2. Ein Aufsichtsrat, der wegen eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds beschlussunfähig ist, kann nicht entsprechend § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG ergänzt werden.13

a) Teilweise wird allerdings, insbesondere bei einem dreiköpfigen Aufsichtsrat, eine entsprechende Anwendung der Norm befürwortet (BeckOGK AktG/Spindler, Stand: 01.07.2023, § 104 Rn. 13, § 108 Rn. 45; MünchKommAktG/Habersack, 6. Aufl., § 104 Rn. 13; Jaeger in Hdb Aktiengesellschaft, Lfg. 80, Rn. I 9.103; Adenauer, NZG 2019, 85, 86; Reichard, AG 2012, 359, 361 ff.).Dagegen liegt nach einer anderen Ansicht auch im Fall eines dauerhaften obstruktiven Verhaltens des Aufsichtsratsmitglieds keine Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats vor, die eine entsprechende Anwendung des § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG erfordere. Vielmehr sei jeder Form von Obstruktion mit den üblichen Rechtsbehelfen gegen unbotmäßiges Verhalten von Organmitgliedern zu begegnen (Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 108 Rn. 10; Henssler in Henssler/Strohn, GesR, 5. Aufl., § 104 Rn. 5; Koch, AktG, 17. Aufl., § 104 Rn. 2; MünchHdbGesR VII/Lieder, 6. Aufl., § 26 Rn. 270; Hopt/Roth in GroßkommAktG, 5. Aufl., § 104 Rn. 27; Simons in Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl., § 104 Rn. 7; Backhaus/Tielmann, Aufsichtsrat, 2. Aufl., § 104 Rn. 32;E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl., Rn. 25.39).14

b) Der Senat schließt sich der zuletzt genannten Ansicht an. Eine Analogie setzt voraus, dass das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke aufweist und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand, den der Gesetzgeber geregelt hat, vergleichbar ist, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (BGH, Urteil vom 15. Februar 2022 – II ZR 235/20, BGHZ 232, 375 Rn. 25 mwN). Das ist nicht der Fall.15

aa) Ein dauerhaftes, zur Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats führendes Boykottverhalten des Aufsichtsratsmitglieds kann mit einer dauerhaften rechtlichen oder tatsächlichen Verhinderung bereits deshalb nicht gleichgesetzt werden, da es jederzeit beendet werden kann. Zudem ist eine gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats nicht geeignet, die durch das obstruierende Aufsichtsratsmitglied herbeigeführte Situation rechtssicher aufzulösen. Gemäß § 104 Abs. 6 AktG erlischt das Amt des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds, sobald der Mangel behoben ist. Das obstruktive Aufsichtsratsmitglied hat es also in der Hand, durch sein Erscheinen zur Aufsichtsratssitzung nach der gerichtlichen Ersatzbestellung die Beschlussfähigkeit des Gremiums wieder herbeizuführen, was zum Amtsverlust des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds führt. Es bedürfte dann einer erneuten gerichtlichen Ersatzbestellung, wenn das Aufsichtsratsmitglied zu seinem obstruktiven Verhalten zurückkehrt (Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 108 Rn. 10; Simons in Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl., § 104 Rn. 7 Fn. 27).16

bb) Das Aktiengesetz eröffnet auch in der Konstellation eines drei-köpfigen Aufsichtsrats die Möglichkeit, ein ohne Bindung an Wahlvorschläge gewähltes, die teilnahme an der Beschlussfassung boykottierendes Aufsichtsratsmitglied abzurufen, ein neues Aufsichtsratsmitglied durch die Hauptversammlung oder das Gericht zu bestellen und damit die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats sicherzustellen. Dem Schutzanliegen des § 104 AktG kann daher auch ohne entsprechende Anwendung der Norm Rechnung getragen werden.17

(1) Nach § 103 Abs. 1 Satz 1 AktG können Aufsichtsratsmitglieder, die von der Hauptversammlung ohne Bindung an Wahlvorschläge gewählt worden sind, vor dem Ablauf ihrer Amtszeit abberufen werden. Der Möglichkeit der Abberufung durch die Hauptversammlung kann die Rechtsbeschwerde nicht mit Erfolg das Konfliktlösungspotential mit der Argumentation absprechen, die Abberufung des obstruierenden Aufsichtsratsmitglieds und die Neuwahl eines Nachfolgers durch einen Hauptversammlungsbeschluss sei schwerfällig und mit Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagerisiken behaftet (so aber Reichard, AG 2012, 359, 360). Im Übrigen verfängt der Einwand gerade im vorliegenden Fall nicht, wenn man berücksichtigt, dass die weitere Beteiligte anlässlich eines Gerichtstermins ad hoc im Wege einer außerordentlichen Hauptversammlung in den Aufsichtsrat der zweigliedrigen Aktiengesellschaft gewählt worden ist. Das zeigt jedenfalls, dass das Argument gerade in Aktiengesellschaften mit geschlossenem Aktionärskreis im Hinblick auf § 121 Abs. 6 AktG nicht überzeugt.18

Etwas Anderes folgt auch nicht aus der Argumentation der Rechtsbeschwerde, die weitere Beteiligte könne mit Hilfe der H.                 KG als hälftiger Aktionärin ihre Abberufung dauerhaft verhindern, da sie als mittelbare Anteilseignerin bei der Beschlussfassung in der Hauptversammlung über ihre eigene Abberufung nicht ausgeschlossen sei (vgl. dazu Koch, AktG, 17. Aufl., § 103 Rn. 4 mwN). Es kann dahinstehen, ob eine solche Beherrschung der H.                KG durch die weitere Beteiligte, die ausweislich des von den Antragstellern vorgelegten Handelsregisterauszugs der H.              KG vom 8. Februar 2022 am 1. Dezember 2021 als persönliche Gesellschafterin ausgeschieden und auch nicht als Kommanditistin ausgewiesen ist, über ihre Töchter als Gesellschafter vorliegt. Dies hätte zwar für den konkreten Streitfall, in dem zwei Aktionäre zu gleichen Teilen an einer Aktiengesellschaft beteiligt sind, zur Konsequenz, dass in einer Situation, in der nur einer der Aktionäre die Abberufung wünscht, eine Abberufung nach § 103 Abs. 1 AktG nicht möglich ist. Das kann aber nicht zur Folge haben, dass der abberufungswillige Aktionär, der das betreffende Aufsichtsratsmitglied selbst in den Aufsichtsrat gewählt hat, aber nun nicht die Stimmrechtsmacht besitzt, sein Abberufungsverlangen durchzusetzen, seinen Willen über die gerichtliche Bestellung eines weiteren Aufsichtsratsmitglieds durch eine entsprechende Anwendung des § 104 Abs. 1 Satz 1 AktG durchzusetzen vermag. Mit derartigen Einzelfallerwägungen lässt sich die analoge Anwendung einer Norm nicht begründen.19

(2) Daneben kann das Gericht ein boykottierendes Aufsichtsratsmitglied nach § 103 Abs. 3 AktG abberufen.20

(a) Nach § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG hat das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, wenn in dessen Person ein wichtiger Grund vorliegt. Ein wichtiger Grund im Sinne der Norm liegt bei einem nachweisbaren Boykottverhalten vor (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
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, Beschluss vom 28. August 2018 – 31 Wx 61/17, ZIP 2018, 1932, 1933; Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 103 Rn. 16; MünchKommAktG/Habersack, 6. Aufl., § 103 Rn. 41; Koch, AktG, 17. Aufl., § 103 Rn. 10).21

(b) Der Aufsichtsrat beschließt über die Antragstellung mit einfacher Mehrheit, § 103 Abs. 3 Satz 2 AktG. Ein solcher Beschluss kann auch in einem dreiköpfigen Aufsichtsrat ohne teilnahme des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds an der Abstimmung mit den Stimmen der beiden anderen Aufsichtsratsmitglieder wirksam gefasst werden.22

Gemäß § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG müssen in jedem Fall drei Mitglieder des Aufsichtsrats an der Beschlussfassung teilnehmen. Besteht ein Aufsichtsrat, wie vorliegend, nur aus der gesetzlichen Mindestzahl von drei Mitgliedern (§ 95 Satz 1 AktG), kann deshalb das obstruktive Aufsichtsratsmitglied durch seine Nichtteilnahme nach dem Wortlaut der Norm eine wirksame Beschlussfassung tatsächlich verhindern. Diesem ist es jedoch verwehrt, sich auf diese formale Rechtsposition zu berufen, wonach der Aufsichtsrat als Organ aufgrund seiner Nichtteilnahme beschlussunfähig sei.23

Ein Aufsichtsratsmitglied, gegen das ein Abberufungsverfahren nach § 103 Abs. 3 AktG eingeleitet werden soll, unterliegt bei der Abstimmung einem Stimmverbot (BayObLGZ 2003, 89, 92; Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 103 Rn. 13; Koch, AktG, 17. Aufl., § 103 Rn. 12; Mertens/Cahn in KK-AktG, 3. Aufl., § 103 Rn. 30; MünchKommAktG/Habersack, 6. Aufl., § 103 Rn. 35; Hopt/Roth in GroßkommAktG, 5. Aufl., § 103 Rn. 58; Simons in Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl., § 103 Rn. 31; BeckOGKAktG/Spindler, Stand: 01.07.2023, § 103 Rn. 31) und kann die Einleitung des Abberufungsverfahrens deshalb nicht verhindern. Der Stimmrechtsausschluss eines von drei Aufsichtsratsmitgliedern führt nicht zur Beschlussunfähigkeit des Organs gemäß § 108 Abs. 2 Satz 2, 3 AktG. Vielmehr kann und muss das betreffende Aufsichtsratsmitglied zur Vermeidung einer Beschlussunfähigkeit des Organs an der Beschlussfassung teilnehmen, hat sich aber der Stimme zu enthalten (BGH, Urteil vom 2. April 2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056 Rn. 13). Infolgedessen missbraucht das betreffende Mitglied seine formale Rechtsposition, wenn es sich auf die durch sein eigenes schuldhaftes Fernbleiben verursachte Beschlussunfähigkeit beruft, um so den Beschluss über den erforderlichen Antrag nach § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG zu vereiteln. § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG ist deshalb in einem Fall des zielgerichteten Rechtsmissbrauchs dahingehendteleologisch zu reduzieren, dass der Antrag nach § 103 Abs. 3 AktG auch dann zulässig ist, wenn bei der Beschlussfassung nur die zwei übrigen Aufsichtsratsmitglieder mitgewirkt haben, der Aufsichtsrat also an sich beschlussunfähig war (Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 5. Aufl., § 108 Rn. 10; Hopt/Roth in GroßkommAktG, 5. Aufl., § 103 Rn. 59; BeckOGKAktG/Spindler, Stand: 01.07.2023, § 103 Rn. 31, § 108 Rn. 44 f.; Stadler/Berner, NZG 2003, 49, 51 ff.; Stadler/Berner, AG 2004, 27, 29; aA MünchKommAktG/Habersack, 6. Aufl., § 103 Rn. 35; BayObLGZ 2003, 89, 94; Keusch/Rotter, NZG 2003, 671, 673).24

Diese Rechtsauffassung hat sich der Aufsichtsrat der P.                AG auch in seinem Antrag vom 21. Juni 2022, die weitere Beteiligte nach § 103 Abs. 3 AktG abzuberufen, zu eigen gemacht.

Schlagworte: AktG § 103, AktG § 104, AktG § 108, Amtsverhinderung Aufsichtsrat, Aufsichtsratsbeschluss, boykottierendes Aufsichtsratsmitglied

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BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2023 – II ZR 146/22

Dienstag, 5. Dezember 2023

Streitwert Übertragung KommanditanteileBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Streitwert
Streitwert Übertragung Kommanditanteile
Übertragung

Tenor

Auf die Gegenvorstellung der Klägerin wird die Festsetzung des Streitwerts in dem Beschluss des Senats vom 4. Juli 2023 geändert.
Der Streitwert wird auf die Wertstufe bis 13.400.000 € festgesetzt.

Gründe

Die Gegenvorstellung der Klägerin gegen die Festsetzung des Streitwerts in dem Beschluss vom 4. Juli 2023, mit dem die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zurückgewiesen wurde, ist zulässig, da sie innerhalb der analog geltenden sechsmonatigen Frist von § 68 Abs. 1 Satz 3, § 63 Abs. 3 Satz 2 GKG
eingelegt worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2020 – II ZR 420/17, juris Rn. 4; Beschluss vom 22. November 2016 – XI ZR 305/14, NJW 2017, 739). Sie hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Maßgebend für die Bewertung des Anspruchs des Beklagten auf Übertragung der Kommanditanteile der Klägerin an der H. KG ist der Verkehrswert dieser Geschäftsanteile. Insofern gilt hier nichts Anderes als in Fällen, in denen im Streit über einen Geschäftsanteil die Wirksamkeit einer Einziehung infrage steht (BGH, Beschluss vom 14. Juli 2020 – II ZR 420/17, juris Rn. 7).
Der Verkehrswert der Geschäftsanteile bestimmt sich mittels einer objektivierten Unternehmensbewertung nach IDW S 1, der anders als der IDW S 13 die Berücksichtigung eines abschreibungsbedingten Steuervorteils (TAB) nicht verpflichtend vorschreibt. Die von den Parteien im Verfahren vorgelegten Gutachten gehen übereinstimmend davon aus, dass danach der Verkehrswert der von der Klägerin gehaltenen Kommanditanteile an der H. KG zum Bewertungsstichtag mit mindestens 13.364.000 € zu bemessen ist (vgl. Gutachten der Dr. K. & Partner GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vom Mai 2022, S. 38, Anlage B 23, Anlagenband zum Schriftsatz vom 10. Mai 2022; Gutachten der B. GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vom 22. Februar 2022, S. 22, Anlage BB 2, Anlagenband zum Schriftsatz vom 24. Februar 2022; ergänzende Stellungnahme Dr. K. & Partner GmbH
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vom 21. Juni 2022, S. 8, GA V 1087).

Schlagworte: Streitwert, Streitwert Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage, Streitwert Einziehungsbeschluss, Streitwert Geschäftsanteile, Streitwert Übertragung Kommanditanteile, Streitwertbemessung

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BGH, Urteil vom 28. November 2023 – II ZR 214/21

Dienstag, 28. November 2023

faktischer KonzernBitte wählen Sie ein Schlagwort:
faktischer Konzern
Konzern

AktG § 136 Abs. 1 Satz 1 Fall 3, § 147 Abs. 1

1. Ein herrschendes Unternehmen ist im faktischen Konzern in der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft wegen eines Interessenkonflikts vom Stimmrecht ausgeschlossen, wenn über die Geltendmachung von ErsatzansprüchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Ersatzansprüchen
Geltendmachung von Ersatzansprüchen
gegen Organmitglieder der abhängigen Gesellschaft Beschluss gefasst wird und die vorgeworfene Pflichtverletzung auf Veranlassung und zugunsten des herrschenden Unternehmens begangen worden sein soll.

2. Ein Geltendmachungsbeschluss nach § 147 Abs. 1 AktG ist dann hinreichend bestimmt, wenn er im Einzelnen umreißt, worin die Pflichtverletzung und der Tatbeitrag der Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats bestehen soll, gegen die Ersatzansprüche der Gesellschaft geltend gemacht werden sollen. Es kommt nicht darauf an, ob die Anspruchsverfolgung Aussicht auf Erfolg hat.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 16. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens und des Revisionsverfahrens trägt die Beklagte.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Beklagte ist eine börsennotierte Aktiengesellschaft, deren Gegenstand unter anderem der Betrieb von Hotels und gastronomischen Betrieben im In- und Ausland ist. Mehrheitsaktionärin der Beklagten mit einem Aktienanteil von 52,16 % war die L.             S.A., die der in der Hotellerie und Touristikbranche tätigen L.       -Gruppe angehörte. Zweitgrößte Aktionärin war mit einem Aktienanteil von 33,80 % die Klägerin. Die restlichen Aktien befanden sich in Streubesitz.2

Die Beklagte erwarb im Jahr 2015 von der L.     -Gruppe durch Tochtergesellschaften 100 % der Gesellschaftsanteile an der C.                 S.A. zum Kaufpreis von 34 Mio. €. Die Klägerin bezweifelt die Angemessenheit des Kaufpreises und ist der Auffassung, der Mehrheitsaktionärin der Beklagten sei verdeckt Vermögen der Beklagten zugewendet worden.3

In der Hauptversammlung der Beklagten am 17. Juli 2015 wurde auf Antrag der Klägerin beschlossen, u.a. gegen die Mehrheitsaktionärin Ersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb der C.                S.A. geltend zu machen. Zugleich wurde ein besonderer Vertreter zur Geltendmachung der Ersatzansprüche bestellt. In der Hauptversammlung der Beklagten vom 21. Juli 2016 wurde unter TOP 10 darüber abgestimmt, ob Ersatzansprüche der Beklagten aus diesem Erwerb ergänzend auch gegen Mitglieder ihres Aufsichtsrats und ihres Vorstands als Gesamtschuldner geltend gemacht werden sollen und hierzu ein besonderer Vertreter bestellt werden soll.4

Der Beschlussantrag lautete auszugsweise:

[…] Veranlasst durch die herrschende Mehrheitsaktionärin hat die Gesellschaft durch Tochtergesellschaften (vgl. Geschäftsbericht 2015, Seite 25) 100% der Anteile an der C.                 S.A. zum Kaufpreis von € 34 Mio. erworben. […] Dadurch wurde der herrschenden Mehrheitsaktionärin auf deren Veranlassung verdeckt Vermögen der Gesellschaft zugewendet. Der Kaufpreis war deutlich überhöht. […]5

Mit den als gültig gezählten Stimmen der Mehrheitsaktionärin wurde der Beschlussantrag abgelehnt.6

Die Klägerin begehrt die Nichtigerklärung der zu TOP 10 gefassten Beschlussablehnung und im Wege der positiven Beschlussfeststellungsklage die Feststellung, dass der Beschluss zu TOP 10 gefasst worden ist. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht den zu TOP 10 gefassten ablehnenden Beschluss für nichtig erklärt und der Beschlussfeststellungsklage stattgegeben. Mit ihrer vom Senat insoweit zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Zurückweisung der Berufung der Klägerin.

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg.8

I. Das Berufungsgericht (OLG DüsseldorfBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Düsseldorf
, AG 2022, 203) hat seine Entscheidung, soweit für die Revisionsinstanz von Bedeutung, im Wesentlichen wie folgt begründet:9

Der Beschluss zu TOP 10 der Hauptversammlung der Beklagten vom 21. Juli 2016 sei wegen eines Verstoßes gegen § 136 Abs. 1 Satz 1 Fall 3 AktG anfechtbar. Die Mehrheitsaktionärin habe wegen ihrer mittelbaren Betroffenheit bei der Geltendmachung von ErsatzansprüchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Ersatzansprüchen
Geltendmachung von Ersatzansprüchen
gegen Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat der Beklagten einem Stimmverbot unterlegen. Potentielle Pflichtverletzungen von Mitgliedern dieser Organe der Beklagten bei dem Erwerb der Anteile an der C.                S.A. von der L.     -Gruppe entsprächen im Hinblick auf das Haftungskonzept der §§ 311 ff. AktG und der in § 318 AktG angeordneten Gesamtschuld wesensmäßig einer Pflichtverletzung der Mehrheitsaktionärin und leiteten sich aus einem einheitlichen Lebenssachverhalt ab. Bei dem Zusammenspiel der §§ 309 ff., 317 f. AktG in Konzernsachverhalten könne nur durch ein Stimmverbot des Mehrheitsaktionärs nach § 136 Abs. 1 Satz 1 Fall 3 AktG sichergestellt werden, dass im Interesse der GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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im Interesse der Gesellschaft
, der Gläubiger und der Minderheitsaktionäre trotz bestehender Abhängigkeiten und Verbundenheit auch Ersatzansprüche gemäß §§ 318, 93, 116 AktG durchgesetzt werden können. Das entspreche Sinn und Zweck des § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG.10

Aus der Begründetheit der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage folge bei richtiger Zählung der abgegebenen Stimmen die Begründetheit der positiven Beschlussfeststellungsklage zu TOP 10.11

II. Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung im Ergebnis stand.12

1. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die L.             S.A. als Mehrheitsaktionärin bei der Abstimmung zu TOP 10 auf der Hauptversammlung der Beklagten vom 21. Juli 2016 über die Geltendmachung von ErsatzansprüchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Ersatzansprüchen
Geltendmachung von Ersatzansprüchen
gegen Organmitglieder der Beklagten und über die Bestellung eines besonderen Vertreters vom Stimmrecht ausgeschlossen war. Ein herrschendes Unternehmen ist im faktischen Konzern in der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft wegen eines Interessenkonflikts vom Stimmrecht ausgeschlossen, wenn über die Geltendmachung von ErsatzansprüchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Ersatzansprüchen
Geltendmachung von Ersatzansprüchen
gegen Organmitglieder der abhängigen Gesellschaft Beschluss gefasst wird und die vorgeworfene Pflichtverletzung auf Veranlassung und zugunsten des herrschenden Unternehmens begangen worden sein soll.13

a) Gemäß § 136 Abs. 1 Satz 1 Fall 3 AktG kann niemand für sich oder für einen anderen das Stimmrecht ausüben, wenn darüber Beschluss gefasst wird, ob die Gesellschaft gegen ihn einen Anspruch geltend machen soll. Ausdrücklich erfasst das Gesetz damit nur das Stimmrecht des Aktionärs, gegen den die Geltendmachung von Ansprüchen beschlossen werden soll. Das schließt aber nicht aus, § 136 Abs. 1 Satz 1 AktG in vergleichbaren Fällen sinngemäß anzuwenden, wenn nämlich das Ausmaß des Interessenkonflikts für den Aktionär identisch ist, so dass eine auf das mitgliedschaftliche Interesse ausgerichtete Stimmabgabe nicht erwartet werden kann (MünchKommAktG/Arnold, 5. Aufl., § 136 Rn. 23; Dürr in Wachter, AktG, 4. Aufl., § 136 Rn. 14; Grigoleit/Herrler, AktG, 2. Aufl., § 136 Rn. 12; Grundmann in Großkomm. AktG, 5. Aufl., § 136 Rn. 39; Koch, AktG, 17. Aufl., § 136 Rn. 18; Krebs in Hölter/Weber, AktG, 4. Aufl., § 147 Rn. 8; Bürgers/Körber/Lieder, AktG, 5. Aufl., § 136 Rn. 10; BeckOGK AktG/Rieckers, Stand 1.7.2023, § 136 Rn. 17; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl., § 136 Rn. 29; MünchHdbGesR IV/Hoffmann-Becking, 5. Aufl., § 39 Rn. 44;Spindler, Festschrift Vetter, 2019, S. 763, 767; Wahlers/Heerstraßen, Festschrift Loschelder, 2010, S. 425, 428; für § 47 Abs. 4 GmbHG: BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 98, 28, 33). Entsprechendes gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch bei der Einzelentlastung von Vorstand und Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft. Dort trifft das Stimmverbot nur dasjenige Organmitglied, über dessen Entlastung abgestimmt wird, es sei denn, ein anderes Organmitglied ist in gleicher Weise betroffen, weil es an einem Vorgang beteiligt war, der dem Organmitglied, um dessen Entlastung es geht, als Pflichtverletzung vorzuwerfen ist (BGH, Urteil vom 12. Juni 1989 – II ZR 246/88, BGHZ 108, 21, 25 f.; Urteil vom 21. September 2009 – II ZR 174/08, BGHZ 182, 272 Rn. 15).14

In diesem Zusammenhang kommt der weitere im § 136 Abs. 1 Satz 1 AktG ebenfalls zum Ausdruck kommende Grundgedanke des Stimmverbots zum Tragen, dass nämlich ein Gesellschafter nicht Richter in eigener Sache sein darf (BGH, Urteil vom 17. Januar 2023 – II ZR 76/21, ZIP 2023, 467). Ein (Mehrheits-)Aktionär, um dessen unmittelbare Inanspruchnahme es geht, kann den dem Ersatzanspruch zugrundeliegenden Sachverhalt nicht unbefangen beurteilen. Das gilt ebenso im faktischen Konzern bei der Beschlussfassung über Ersatzansprüche gegen Organe der abhängigen Gesellschaft, wenn Beschlussgegenstand (auch) das Zusammenwirken des Mehrheitsaktionärs mit den Organen der abhängigen Gesellschaft zum Nachteil der Gesellschaft und die Veranlassung zum Abschluss eines für die Gesellschaft nachteiligen Rechtsgeschäfts zu seinen Gunsten ist. Der Mehrheitsaktionär, dem vorgeworfen wird, ein für die Gesellschaft nachteiliges Geschäft zum eigenen Vorteil veranlasst zu haben, urteilt bei der Beschlussfassung über die Geltendmachung von ErsatzansprüchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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aufgrund dieses Sachverhalts gegen die Organe der abhängigen Gesellschaft auch immer über eine „eigene Sache“ und billigt oder missbilligt damit zugleich ein eigenes (Fehl-)Verhalten. Dieses Richten in eigener Sache ist dem Mehrheitsaktionär versagt. Es liegt insofern ein typisierter Interessenkonflikt zwischen dem Sonderinteresse des Mehrheitsaktionärs und dem Gesellschaftsinteresse an der Durchsetzung von Ersatzansprüchen auch gegen ihre Organe nach den §§ 318, 93, 116 AktG vor (so auch Grigoleit/Herrler, AktG, 2. Aufl., § 147 Rn. 9; BeckOGK AktG/Mock, Stand 1.7.2023, § 147 Rn. 67.5; Schmolke, AG 2022, 192, 196). Dabei kommt es für die Frage, ob ein einheitlicher, das Stimmrecht ausschließender Beschlussgegenstand vorliegt, allein auf den sachlichen Zusammenhang der dem Aktionär einerseits und den Organen andererseits vorgeworfenen Verfehlungen und nicht darauf an, ob gegen die Beteiligten in einer bestimmten Reihenfolge, in einem Akt oder gegen jeden getrennt abgestimmt wird (vgl. BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 98, 28, 33).15

Der Stimmrechtsausschluss gilt in gleicher Weise, wenn es darum geht, das Organ zu bestellen, das die Gesellschaft bei der Anspruchsverfolgung vertreten soll, weil von einem betroffenen Gesellschafter nicht erwartet werden kann, dass er einen Prozessvertreter auswählt und bestellt, der gegen ihn selbst die Interessen der GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Gesellschaft
Interessen der Gesellschaft
am entschiedensten vertritt (vgl. BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 33 f.; Urteil vom 8. August 2023 – II ZR 13/22, ZIP 2023, 1986 Rn. 16 mwN).16

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat das Berufungsgericht mit Recht ein Stimmverbot der Mehrheitsaktionärin angenommen, da Beschlussgegenstand von TOP 10 auch durch sie veranlasste pflichtwidrige Handlungen der Organe der Beklagten beim Kauf der Anteile an der C.                 S.A. sind und der ihr erwachsende finanzielle Vorteil spiegelbildlich dem der beklagten Gesellschaft als Erwerberin erwachsenden Schaden entsprechen soll. Das in diesem Sachverhalt verkörperte persönliche Interesse der Mehrheitsaktionärin schließt ihre unbefangene Stimmabgabe bei der Abstimmung über die Geltendmachung von ErsatzansprüchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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gegen die Verwaltungsmitglieder der Beklagten aus, da der Interessenkonflikt identisch ist.17

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war der Abschluss des Anteilserwerbs an der C.              S.A. ohne ein Zusammenwirken der Organe der Beklagten als abhängige Gesellschaft und der Mehrheitsaktionärin als herrschendes Unternehmen undenkbar. Zu dem Zusammenwirken wird im Beschlussantrag zu TOP 10 ausgeführt, die Organmitglieder der Beklagten seien „an der Vorbereitung und Umsetzung des Geschäfts als handelnde Vorstandsmitglieder bzw. bei deren unzureichender Überwachung als Aufsichtsratsmitglieder“ beteiligt gewesen und es seien von ihnen für die Bewertung des Kaufobjektes bei der Due-Diligence-Prüfung „ganz zentrale Aspekte“ „ausgespart worden“. So heißt es auch im gegen die Mehrheitsaktionärin gerichteten Geltendmachungsbeschluss der Hauptversammlung am 17. Juli 2015, „Vorstand und Aufsichtsrat haben offensichtlich, veranlasst durch den herrschenden Mehrheitsaktionär der auf den 16./17. Juli 2015 einberufenen Hauptversammlung, den Erwerb der C.        S.A. zum Kaufpreis von 34 Mio € vorgeschlagen. Der Kaufpreis ist deutlich überhöht. Dadurch soll dem herrschenden Mehrheitsaktionär auf dessen Veranlassung verdeckt Vermögen der Gesellschaft zugewendet werden. […] Die [sich] aus der Vorbereitung und Umsetzung des Hauptversammlungsbeschlusses ergebenen [gemeint: ergebenden] Ersatzansprüche der Gesellschaft insb. wegen des Über-Wert-Erwerbes sind geltend zu machen“ (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 2020 – II ZR 8/19, BGHZ 226, 182 Rn. 3).18

2. Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht auf die positive Beschlussfeststellungsklage festgestellt, dass in der Hauptversammlung der Beklagten am 21. Juli 2016 die unter TOP 10 zur Abstimmung gestellten Beschlüsse gefasst worden sind.19

a) Der Beschluss zu TOP 10 ist hinreichend bestimmt. Ein Geltendmachungsbeschluss nach § 147 Abs. 1 AktG ist dann hinreichend bestimmt, wenn er im Einzelnen umreißt, worin die Pflichtverletzung und der Tatbeitrag der Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats bestehen soll, gegen die Ersatzansprüche der Gesellschaft geltend gemacht werden sollen. Es kommt nicht darauf an, ob die Anspruchsverfolgung Aussicht auf Erfolg hat.20

Der Lebenssachverhalt, auf den der geltend zu machende Ersatzanspruch gestützt wird, muss in einem Geltendmachungsbeschluss gemäß § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG ausreichend klar und konkret beschrieben sein, damit Vorstand und Aufsichtsrat bzw. der besondere Vertreter den Umfang ihres Mandats erkennen können und die Gerichte – im Falle der Bestellung eines besonderen Vertreters – dessen Vertretungsmacht zu prüfen in der Lage sind (BGH, Urteil vom 30. Juni 2020 – II ZR 8/19, BGHZ 226, 182 Rn. 24 mwN). Geht es um die Geltendmachung von ErsatzansprüchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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gegen Gesellschafter oder Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, so reicht es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich aus, dass der die Abstimmung beantragende Gesellschafter im Einzelnen umreißt, worin die Pflichtverletzung und der Tatbeitrag der einzelnen Mitgesellschafter besteht. Es kommt nicht darauf an, ob die Anspruchsverfolgung Aussicht auf Erfolg hat (BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 36; Urteil vom 30. Juni 2020 – II ZR 8/19, BGHZ 226, 182 Rn. 29; Urteil vom 8. August 2023 – II ZR 13/22, ZIP 2023, 1986 Rn. 19). Es würde die Durchsetzung der Ersatzansprüche unzumutbar erschweren, wenn schon im Anfechtungsprozess und mangels Rechtskrafterstreckung im nachfolgenden prozess nochmals gerichtlich geklärt werden müsste, ob der Haftungsgrund besteht (BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 36; Urteil vom 8. August 2023 – II ZR 13/22, ZIP 2023, 1986 Rn. 19).21

Diese zu § 46 Nr. 8 GmbHG entwickelten Anforderungen an die Tatsachengrundlage eines Geltendmachungsbeschlusses sind auf § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG zu übertragen (noch offengelassen in BGH, Urteil vom 30. Juni 2020 – II ZR 8/19, BGHZ 226, 182 Rn. 29). Auch in der Aktiengesellschaft würde die Durchsetzung von Ersatzansprüchen sonst unzumutbar erschwert. Ein sachlicher Grund für eine davon abweichende Behandlung ist nicht ersichtlich.22

b) Pflichtverletzung und Tatbeitrag der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sind wie auch der dadurch verursachte Schaden im Einzelnen umrissen. Danach hat die Beklagte durch Tochtergesellschaften 100% der Anteile an der C.            S.A. zum Kaufpreis von € 34 Mio. von der L.    Gruppe erworben. Dadurch sei der herrschenden Mehrheitsaktionärin auf deren Veranlassung verdeckt Vermögen der Gesellschaft zugewendet worden, weil der Kaufpreis deutlich überhöht gewesen sei. Im Beschlussantrag zu TOP 10 wird weiter ausgeführt, die Organmitglieder der Beklagten seien „an der Vorbereitung und Umsetzung des Geschäfts als handelnde Vorstandsmitglieder bzw. bei deren unzureichender Überwachung als Aufsichtsratsmitglieder“ beteiligt gewesen und es seien von ihnen für die Bewertung des Kaufobjektes bei der Due-Diligence-Prüfung „ganz zentrale Aspekte“ „ausgespart worden“.23

Die von der Revision gegen die Feststellung des Beschlusses zu TOP 10 erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet (§ 564 Satz 1 ZPO). Ebenso wenig liegt ein Verstoß der Klägerin gegen ihre gesellschafterliche Treuepflicht wegen der Person des bestellten besonderen Vertreters vor.

Konzernrecht Aktienrecht

Schlagworte: faktischer Konzern, Stimmrechte, Stimmrechtsausschluss, Stimmverbot

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BGH, Urteil vom 28. November 2023 – X ZR 83/20

Dienstag, 28. November 2023

zehnjährige Verjährungsfrist

BGB § 852 Satz 2

Die zehnjährige Verjährungsfrist des § 852 Satz 2 BGB beginnt mit der Entstehung des ursprünglichen Schadensersatzanspruchs, nicht erst mit dessen Verjährung.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 27. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 8. September 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Rückabwicklung einer Schenkung.2

Der Kläger und der Vater der Beklagten waren zu gleichen Teilen Erben ihrer am 12. Juli 2010 verstorbenen Mutter (nachfolgend: Erblasserin). Der Vater der Beklagten hat seinen Erbteil an diese übertragen.3

Die Erblasserin war Kommanditistin der R.          KG und Gesellschafterin der L.     GmbH                . In einem von einem Notar in H.    beurkundeten, für beide Seiten durch einen vollmachtlosen Vertreter geschlossenen Vertrag vom 30. Dezember 1998 wurden die Schenkung und die Abtretung dieser Gesellschaftsanteile an die Beklagte unter Vorbehalt eines Nießbrauchs zugunsten der Erblasserin vereinbart.4

Am 14. Januar 1999 erhielt der Notar in H.    eine am 12. Januar 1999 von einem Notar in München beurkundete Genehmigungserklärung. In einem an die Erblasserin und die Beklagte gerichteten Schreiben vom 19. Januar 1999 teilte der Notar in H.    mit, die Übertragung der GmbH-Geschäftsanteile und die Übertragung des Kommanditanteils seien rechtswirksam geworden. Mit diesem Schreiben erhielt die Erblasserin eine am 14. Januar 1999 ausgestellte Gebührenrechnung über einen hälftigen Gebührenanteil des Notars in München. Die Erblasserin bezahlte diesen Betrag am 29. Januar 1999.5

Der Kläger macht geltend, die Erblasserin habe sich geweigert, den Schenkungsvertrag am 12. Januar 1999 in München zu genehmigen. Nur die Beklagte habe in Anwesenheit des Notars die Genehmigungserklärung unterzeichnet. Auch später sei eine Genehmigung durch die Erblasserin nie erfolgt. Die Unterschrift der Erblasserin sei nachträglich, ohne Notar, hinzugefügt worden.6

Der Kläger hat, soweit für die Revisionsinstanz noch von Interesse, sinngemäß beantragt, die Beklagte zur Übertragung der Gesellschaftsanteile an die Erbengemeinschaft zu verurteilen. Hilfsweise hat er die Feststellung begehrt, dass die Schenkung und die Anteilsabtretungen unwirksam sind und dass die Beklagte zum Ersatz sämtlicher Schäden verpflichtet ist.7

Das Landgericht hat die Klage insoweit wegen Verjährung abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.8

Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein zweitinstanzliches Begehren weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision hat Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.10

I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:11

Das Landgericht habe die Klageansprüche zu Recht als verjährt angesehen.12

Die für einen Beginn der regelmäßigen Verjährung nach § 199 Abs. 1 BGB erforderlichen Voraussetzungen hätten Ende 2013 vorgelegen. Der Verjährungsbeginn setze grundsätzlich nur die Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen voraus. Im Streitfall habe der Kläger in einer von ihm selbst verfassten Strafanzeige vom 11. Dezember 2013 einen Sachverhalt dargelegt, den er auch seiner Klagebegründung zugrunde lege. Dies reiche aus. Auf die Beweisbarkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen komme es nicht an. Unabhängig davon sei ein Mehrwert eines im Jahr 2015 erfolgten Besuchs des Klägers bei dem Notar in H.    nicht erkennbar.13

II. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand.14

1. Ohne Rechtsfehler ist das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB im Streitfall mit Ablauf des Jahres 2013 begonnen hat, weil der Kläger spätestens im Dezember 2013 die gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB erforderliche Kenntnis hatte.15

a) Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der geltend gemachte Anspruch der regelmäßigen Verjährung nach § 195 BGB unterliegt.16

Wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, wirft der Kläger der Beklagten ein Verhalten vor, das jedenfalls die Tatbestandsmerkmale von § 826 BGB erfüllt und deshalb einen Anspruch auf Schadensersatz begründet. Für einen solchen Anspruch gilt die Verjährungsfrist des § 195 BGB.17

b) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die für den Beginn der Verjährung erforderliche Kenntnis im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB bei Ansprüchen auf Schadensersatz vorhanden, wenn dem Geschädigten die Erhebung einer Schadensersatzklage, sei es auch nur in Form der Feststellungsklage, Erfolg versprechend, wenn auch nicht risikolos, möglich ist (vgl. nur BGH, Urteil vom 16. Mai 2017 – X ZR 85/14, GRUR 2017, 890 Rn. 40 – Sektionaltor II).18

Dabei ist weder notwendig, dass der Geschädigte alle Einzelumstände kennt, die für die Beurteilung möglicherweise Bedeutung haben, noch muss er bereits hinreichend sichere Beweismittel in der Hand haben, um einen Rechtsstreit im Wesentlichen risikolos führen zu können. Es muss dem Geschädigten lediglich zumutbar sein, aufgrund dessen, was ihm hinsichtlich des tatsächlichen Geschehensablaufs bekannt ist, Klage zu erheben, wenn auch mit dem verbleibenden Prozessrisiko, insbesondere hinsichtlich der Nachweisbarkeit von Schadensersatz auslösenden Umständen (BGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – VI ZR 739/20, NJW 2021, 918 Rn. 8).19

c) Bei Anlegung dieses Maßstabs ist die Würdigung des Berufungsgerichts, dass die in der Strafanzeige vom 11. Dezember 2013 dokumentierten Kenntnisse des Klägers ausreichend waren, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.20

aa) Bei strafrechtlich relevanten Sachverhalten kann aus dem Umstand, dass eine Strafanzeige erstattet worden ist, allerdings nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass der Anzeigeerstatter alle für die Geltendmachung eines zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs erforderlichen Kenntnisse hat. Je nach der Art des Schuldvorwurfs und der Komplexität des Falles können selbst Umstände, die zur Erhebung der Anklage und zur Eröffnung des Strafverfahrens führen, nicht ausreichend sein (BGH, Urteil vom 23. September 2004 – IX ZR 421/00, NJW-RR 2005, 69, juris Rn. 11).21

Das Berufungsgericht hat seine Beurteilung indes zutreffend nicht allein auf den Umstand gestützt, dass der Kläger eine Strafanzeige erstattet hat, sondern auf die in dieser Anzeige dokumentierten Kenntnisse. Seine Würdigung, dass diese Kenntnisse eine Schadensersatzklage bereits damals zumutbar erscheinen ließen, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.22

bb) Entgegen der Auffassung der Revision brauchte das Berufungsgericht aus dem Umstand, dass sich der Kläger in der Folgezeit um eine weitere Aufklärung des Sachverhalts bemüht hat, nicht die Schlussfolgerung zu ziehen, dass er im Dezember 2013 noch nicht über die nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB erforderliche Kenntnis verfügte.23

Wie bereits oben dargelegt wurde, reicht eine bestimmte Mindestkenntnis aus, um den Lauf der Verjährung in Gang zu setzen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei bejaht. Angesichts dessen ist unerheblich, ob es zusätzliche Erkenntnisquellen gab, die der Kläger im Dezember 2013 noch nicht ausgeschöpft hatte und die geeignet waren, die Erfolgsaussicht einer Schadensersatzklage weiter zu steigern.24

2. Das Berufungsgericht hat jedoch übersehen, dass dem Geschädigten nach § 852 BGB unter bestimmten Voraussetzungen auch nach Eintritt der Verjährung ein Anspruch auf Restschadensersatz zusteht.25

a) Wenn in einem Rechtsstreit die Verjährungseinrede gegen einen deliktischen Schadensersatzanspruch erhoben wird, muss das Gericht von sich aus prüfen, ob ein Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB gegeben ist (BGH, Urteil vom 13. Oktober 2015 – II ZR 281/14, NJW 2016, 1083 Rn. 31).26

b) Gemäß § 852 Satz 1 BGB bleibt der Ersatzpflichtige auch nach Verjährung des Schadensersatzanspruchs zur Herausgabe nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung verpflichtet.27

Im Streitfall kann der Kläger einen ihm zustehenden Anspruch auf Übertragung der Gesellschaftsanteile mithin auch nach Ablauf der Verjährungsfrist aus § 195 und § 199 BGB geltend machen, soweit die Beklagte noch bereichert ist.28

c) Der Anspruch auf Restschadensersatz verjährt gemäß § 852 Satz 2 BGB in zehn Jahren von seiner Entstehung an, spätestens aber dreißig Jahre nach Begehung der Verletzungshandlung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis.29

Entgegen einer in Literatur und Rechtsprechung vereinzelt vertretenen Auffassung (Seifert, WuW 2017, 474, 481 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung) beginnt die Zehnjahresfrist mit der Entstehung des ursprünglichen Schadensersatzanspruchs, nicht erst mit dessen Verjährung (ebenso BeckOGK/Eichelberger, 1.9.2023, BGB § 852 Rn. 21 und 35; Staudinger/Vieweg/Lorz, BGB, 2023, § 852 Rn. 21).30

aa) Dafür spricht der Wortlaut des Gesetzes.31

Nach dem Wortlaut von § 852 Satz 2 BGB („Dieser Anspruch“) ist die Entstehung des in § 852 Satz 1 BGB vorgesehenen Anspruchs auf Restschadensersatz maßgeblich. Nach dem Wortlaut von § 852 Satz 1 BGB entsteht dieser Anspruch zusammen mit dem Anspruch auf Ersatz des vollen Schadens, denn der Ersatzpflichtige ist „auch“ nach Eintritt der Verjährung zur Herausgabe verpflichtet.32

bb) Für dieses Ergebnis spricht ferner die Gesetzessystematik.33

Nach § 199 Abs. 3 BGB verjähren Schadensersatzansprüche der im Streitfall geltend gemachten Art unabhängig von Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an und ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in dreißig Jahren von der Begehung der Handlung, der Pflichtverletzung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.34

§ 852 Satz 2 BGB knüpft an diese Fristen an und führt im Ergebnis dazu, dass Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Geltendmachung innerhalb dieser Fristen nicht entgegenstehen, soweit der Schädiger noch auf Kosten des Geschädigten bereichert ist.35

cc) Diese Regelung entspricht ferner der Vorstellung des Gesetzgebers.36

Nach den Materialien zu § 852 Satz 2 BGB kann der Berechtigte nach dieser Regelung den Anspruch auf Restschadensersatz noch maximal sieben Jahre nach Ablauf der regelmäßigen Verjährung geltend machen (BT-Drucks. 14/6040 S. 270). Dieses Ergebnis setzt voraus, dass die Zehnjahresfrist bereits mit Entstehung des Anspruchs auf vollständigen Schadensersatz beginnt.37

dd) Der Umstand, dass der Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB vor Verjährung des Anspruchs auf vollen Ersatz des Schadens nicht „gebraucht“ wird (so Seifert, WuW 2017, 474, 482), führt vor diesem Hintergrund nicht zu einer abweichenden Beurteilung.38

Das Gesetz knüpft den Beginn der Verjährung nicht an den Zeitpunkt, zu dem der Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB seine praktische Wirkung entfaltet, sondern an den Zeitpunkt seiner Entstehung.39

d) Auf der Grundlage der in den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass dem Kläger danach noch ein Anspruch auf Übertragung der Gesellschaftsanteile zusteht.40

aa) Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Beklagte noch Inhaberin der Gesellschaftsanteile ist.41

Für die revisionsrechtliche Beurteilung ist deshalb zugunsten des Klägers zu unterstellen, dass die Beklagte die Anteile weiterhin hält.42

bb) Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit beurteilt werden, wann der geltend gemachte Ersatzanspruch gegebenenfalls entstanden ist.43

(1) Ein Schadensersatzanspruch entsteht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich einheitlich auch für die erst in Zukunft entstehenden, adäquat verursachten, zurechenbaren und voraussehbaren Nachteile, sobald irgendein Teilschaden entstanden ist und gerichtlich geltend gemacht werden kann (vgl. etwa BGH, Urteil vom 19. Mai 2022 – VII ZR 149/21, NJW 2022, 3347 Rn. 28).44

(2) Wie die Revisionserwiderung im Ausgangspunkt zu Recht geltend macht, hat im Streitfall gegebenenfalls bereits ein der Erblasserin entstandener Schaden zur Entstehung des geltend gemachten Anspruchs geführt.45

Der Kläger macht Ansprüche der Erbengemeinschaft geltend. Diese ist gemäß § 1922 Abs. 1 BGB Rechtsnachfolgerin der Erblasserin. Wenn die Verjährung des Anspruchs bereits zu Lebzeiten der Erblasserin begonnen hat, sind mithin auch die Erben daran gebunden.46

(3) Der Eintritt eines Schadens zu Lebzeiten der Erblasserin kann nicht deshalb verneint werden, weil der Übertragungsvertrag einen lebenslänglichen Nießbrauch vorsieht.47

Dieser Nießbrauch beließ der Erblasserin zwar die Möglichkeit, die mit der Gesellschafterstellung verbundenen finanziellen Vorteile in Anspruch zu nehmen. Die Übertragung unter Vorbehalt des Nießbrauchs begründete jedoch unter bestimmten Voraussetzungen die Gefahr, dass die Erblasserin an eigenen Verfügungen über die Gesellschaftsanteile gehindert war.48

Diese Gefahr ist zwar nicht ohne weiteres mit einem ersatzfähigen Schaden gleichzusetzen. Eine schadensgleiche Vermögensgefährdung kann jedoch zu bejahen sein, wenn zusätzliche Umstände hinzutreten, die die Möglichkeit zu Verfügungen über die Gesellschaftsanteile im praktischen Ergebnis zunichtemachen.49

(4) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist bei Anlegung dieses Maßstabs ein relevanter Schaden nicht schon mit der Mitteilung des Notars vom 19. Januar 1999 über die Rechtswirksamkeit der Übertragung der Gesellschaftsanteile entstanden.50

Anhand der getroffenen Feststellungen ist nicht erkennbar, dass diese an die Erblasserin und die Beklagte gerichtete Information die Möglichkeit der Erblasserin zu einer anderweitigen Verfügung über die Gesellschaftsanteile in wesentlichem Umfang beeinträchtigt hat.51

Wenn der Vortrag des Klägers zutrifft, war die Erklärung über die Übertragung der Gesellschaftsanteile unwirksam. Die Erblasserin behielt damit aus rechtlicher Sicht die Möglichkeit zu einer anderweitigen Verfügung. Eine tatsächliche Beeinträchtigung war allenfalls zu befürchten, wenn der als Erwerber in Betracht kommende Dritte die Mitteilung des Notars kannte. Hierzu ist nichts festgestellt.52

(5) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist mit der Bezahlung der Notarrechnung für die Beurkundung der Genehmigung ebenfalls noch kein relevanter Schaden entstanden.53

Nach dem für die revisionsrechtliche Beurteilung maßgeblichen Vortrag des Klägers hat die Beklagte der Erblasserin dadurch in sittenwidriger Weise Schaden zugefügt, dass sie durch Verwendung einer nicht von der Erblasserin stammenden Urkunde den Anschein erweckt hat, sie sei Inhaberin der beiden in Rede stehenden Gesellschaftsanteile.54

Diese Handlung kann nicht für die genannte Zahlung durch die Erblasserin ursächlich gewesen sein. Wenn die Erblasserin, wie vom Kläger geltend gemacht, eine Genehmigung des Vertrags verweigert hat, war ihr bewusst, dass sie keine Gebühr für die Beurkundung einer solchen Erklärung schuldet.55

(6) Ob der Eintrag der Beklagten als Kommanditistin im Handelsregister, der nach den Feststellungen des Landgerichts am 24. April 2003 erfolgt ist, zu einem Schaden geführt hat, kann mangels näherer Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden.56

Es spricht zwar viel dafür, dass die Beklagte mit dieser Registerposition einen Vorteil erlangt hat, der das Vermögen der Erblasserin nicht nur gefährdet, sondern bereits geschädigt hat. Ob eine solche Schädigung eingetreten ist, hängt indes davon ab, wie wahrscheinlich es war, dass die Beklagte von dieser Registerposition im Verhältnis zu Dritten Gebrauch macht. Hierzu fehlt es an Feststellungen.57

(7) Bezüglich des GmbH-Anteils könnte ein vergleichbarer Schaden durch die Anmeldung der Beklagten als neue Gesellschafterin gemäß § 16 Abs. 1 GmbHG a.F. (in der bis zum 30. Oktober 2008 geltenden Fassung) eingetreten sein.58

Feststellungen dazu, ob und wann eine solche Anmeldung erfolgt ist und wie wahrscheinlich es war, dass die Beklagte von der dadurch erlangten formalen Position gegenüber Dritten Gebrauch macht, sind nicht getroffen.59

III. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).60

1. Wie bereits oben dargelegt wurde, kann die Frage der Verjährung auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden.61

2. Vor einer erneuten Entscheidung über die Frage der Verjährung wird das Berufungsgericht dem Kläger Gelegenheit geben müssen, zur Wirksamkeit der beurkundeten Anteilsübertragungen Stellung zu nehmen und gegebenenfalls sachdienliche Anträge zu stellen.62

Wenn die Beklagte dem am 30. Dezember 1998 beurkundeten Vertrag nicht zugestimmt hat, ist nicht nur die Schenkungsabrede unwirksam, sondern auch die Übertragung der Anteile. Eine unwirksame Übertragung von Gesellschaftsanteilen kann zwar nach den Regeln über die fehlerhafte GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
fehlerhafte Gesellschaft
Gesellschaft
als wirksam zu behandeln sein. Von diesem Grundsatz gelten aber Ausnahmen, wenn die Übertragung auf einer arglistigen Täuschung beruht (BGH, Urteil vom 22. Januar 1990 – II ZR 25/89, NJW 1990, 1915, juris Rn. 21). Für den Fall, dass ein Gesellschafterwechsel aufgrund einer gefälschten Übertragungserklärung zum Handelsregister bzw. zur Gesellschafterliste angemeldet worden ist, kann kaum etwas Anderes gelten.63

Sollte das Übertragungsgeschäft im Verhältnis zwischen den Parteien danach als unwirksam anzusehen sein, wäre ein sachdienlicher Antrag nicht auf die Übertragung der Anteile zu richten, sondern auf die Übertragung der formellen Registerposition bzw. die Mitwirkung bei einer Anmeldung nach § 16 GmbHG.64

3. Sollte das Berufungsgericht erneut zu der Beurteilung gelangen, dass Ansprüche auf Übertragung einer materiellen oder formellen Position verjährt sind, folgt daraus nicht ohne weiteres die Unbegründetheit aller hilfsweise gestellten Feststellungsanträge.65

a) Die beantragte Feststellung, dass die Beklagte zum Schadensersatz verpflichtet ist, kann allerdings nur ergehen, wenn der geltend gemachte Ersatzanspruch noch nicht verjährt ist.66

b) Etwas Anderes gilt hingegen für den Antrag auf Feststellung, dass die am 30. Dezember 1998 beurkundeten Rechtsgeschäfte unwirksam sind.67

Dieser Feststellungsantrag betrifft keinen gegen die Beklagte gerichteten Anspruch, sondern die beurkundeten Rechtsgeschäfte an sich. Er unterliegt deshalb nicht der Verjährung.68

c) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist dieser Antrag statthaft. Wie bereits ausgeführt wurde, ist er auf die Feststellung des Nichtbestehens von Rechtsverhältnissen gerichtet.69

d) Ein hinreichendes Interesse an dieser Feststellung könnte allenfalls dann zu verneinen sein, wenn der Kläger eine antragsgemäße Entscheidung nicht dazu einsetzen könnte, Ansprüche aus den Gesellschaftsbeteiligungen geltend zu machen. Auf der Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstands kann indes nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger auch dann, wenn Mitwirkungsansprüche gegen die Beklagte verjährt sind, unter Vorlage der rechtskräftigen Feststellung, dass die Übertragung unwirksam war, Rechte gegenüber den Gesellschaften ausüben kann.70

4. Alle diese Fragen stellen sich nicht, wenn das Berufungsgericht sich nach Erhebung und Würdigung aller angebotenen Beweise nicht davon zu überzeugen vermag, dass die behauptete Unterschriftsfälschung stattgefunden hat.71

5. Sollte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangen, dass eine Fälschung vorliegt, wird es ergänzend zu beachten haben, dass eine Genehmigung gemäß § 182 Abs. 2 BGB keiner besonderen Form bedurfte.

Löffler I www.K1.de I Gesellschaftsrecht I Gesellschafterversammlung I M&A I Unternehmenskauf I Erfurt I Thüringen I Sachsen I Sachsen-Anhalt I Hessen I Deutschland 2023

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BVerfG, Urteil vom 15. November 2023 – 2 BvF 1/22

Mittwoch, 15. November 2023

Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ist nichtig

  1. a) Über den Wortlaut von Art. 109 Abs. 3 Satz 2 und Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG hinaus ist ein sachlicher Veranlassungszusammenhang zwischen der Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation und der Überschreitung der Kreditobergrenzen erforderlich. Bei dessen Beurteilung kommt dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu.
  1. b) Diesem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum korrespondiert eine Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren.
  1. a) Die Geltung der Grundsätze der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit im Staatsschuldenrecht erstreckt sich auf die Ausnahmeregelung des Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG für Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen.
  1. b) Sie können nicht dadurch außer Kraft gesetzt werden, dass der Haushaltsgesetzgeber eine Gestaltungsform wählt, bei der Kreditermächtigungen für ein juristisch unselbständiges Sondervermögen nutzbar gemacht werden.
  1. Das Gebot der Vorherigkeit ist grundsätzlich auch bei der Aufstellung von Nachtragshaushalten zu beachten. Ein Nachtragsentwurf ist demnach bis zum Jahresende parlamentarisch zu beschließen.

Gründe:

A.

1

Das abstrakte Normenkontrollverfahren richtet sich gegen die rückwirkende Änderung des Haushaltsgesetzes 2021 und des Bundeshaushaltsplans 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 vom 18. Februar 2022 (BGBl I S. 194).

I.

2

1. Zahlreiche Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und zur Milderung ihrer Folgen seit dem Frühjahr des Jahres 2020 brachten erhebliche Belastungen für den Staatshaushalt mit sich.

3

a) Ursprünglich hatte das Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2020 (Haushaltsgesetz 2020) vom 21. Dezember 2019 (BGBl I S. 2890) noch keine Nettokreditaufnahme vorgesehen.

4

b) In Reaktion auf die einsetzende Corona-Pandemie stellte der Deutsche Bundestag am 25. März 2020 erstmals das Bestehen einer außergewöhnlichen Notsituation gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG fest (vgl. BTDrucks 19/18108 i.V.m. BTDrucks 19/18131).

5

c) In der Folge wurden Kreditaufnahmen des Bundes durch das Nachtragshaushaltsgesetz 2020 vom 27. März 2020 (BGBl I S. 556) und das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2020 vom 14. Juli 2020 (BGBl I S. 1669) ermöglicht. Für das Haushaltsjahr 2020 wurde der Bund hierdurch zu einer Nettokreditaufnahme in Höhe von insgesamt etwa 218 Milliarden Euro ermächtigt.

6

d) Die Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation wurde mit Beschlüssen des Deutschen Bundestages vom 2. Juli 2020 (vgl. BTDrucks 19/20128 i.V.m. BTDrucks 19/20716) und vom 8. Dezember 2020 (vgl. BTDrucks 19/22887 i.V.m. BTDrucks 19/24940) bestätigt und angepasst.

7

2. Der Bundeshaushalt 2021 sah ursprünglich Kreditermächtigungen in Höhe von etwa 180 Milliarden Euro vor (vgl. Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2021 vom 21. Dezember 2020, BGBl I S. 3208).

8

a) Mit dem Nachtragshaushaltsgesetz 2021 wurden die Kreditermächtigungen für das Haushaltsjahr 2021 um weitere 60 Milliarden Euro auf insgesamt 240.175.714.000 Euro aufgestockt (Gesetz über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 <Nachtragshaushaltsgesetz 2021> vom 3. Juni 2021, BGBl I S. 1410). Ermöglicht wurde diese Erhöhung durch einen weiteren Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG vom 23. April 2021 (vgl. BTDrucks 19/28464 i.V.m. BTDrucks 19/28740).

9

b) Im Verlauf des Haushaltsjahres 2021 zeigte sich, dass die im Nachtragshaushaltsgesetz vorgesehenen Aufstockungen nicht benötigt wurden. Vor diesem Hintergrund kam im politischen Raum die Vorstellung auf, die mit dem Nachtragshaushaltsgesetz 2021 eingeräumten Kreditermächtigungen in der vollen Höhe von 60 Milliarden Euro durch eine Zuführung an den „Energie- und Klimafonds“ (nachfolgend: EKF), ein unselbständiges Sondervermögen des Bundes (vgl. Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ <EKFG> vom 8. Dezember 2010, BGBl I S. 1807), nutzbar zu machen.

10

3. Aufgrund von Art. 1 des Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 vom 18. Februar 2022 (Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021, BGBl I S. 194) wurden das Gesamtvolumen des Bundeshaushalts 2021 von 547.725.714.000 auf 572.725.714.000 Euro und das Volumen des EKF von 42.694.600.000 auf 102.694.600.000 Euro erhöht. Insoweit wurde der Bundeshaushaltsplan 2021 entsprechend angepasst. Nach Art. 2 des Gesetzes trat die Änderung mit Wirkung vom 1. Januar 2021 und damit rückwirkend in Kraft.

11

Im Bundeshaushalt wurden eine globale Mehreinnahme in Höhe von 25 Milliarden Euro und eine globale Minderausgabe in Höhe von 35 Milliarden Euro angesetzt (Einzelplan 60 Kapitel 6002).

12

Die auf der Basis des ersten Nachtragshaushaltsgesetzes vom 3. Juni 2021 bestehende Ermächtigung zur Nettokreditaufnahme in Höhe von 240.175.714.000 Euro blieb durch das Gesetz unverändert.

13

4. Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 hat folgenden Wortlaut:

Artikel 1

Das Haushaltsgesetz 2021 vom 21. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3208), das durch Artikel 1 des Gesetzes vom 3. Juni 2021 (BGBl. I S. 1410) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

1. § 1 wird wie folgt geändert:

a) In Absatz 1 wird die Angabe „547 725 714 000“ durch die Angabe „572 725 714 000“ ersetzt.

b) In Absatz 3 wird die Angabe „42 694 600 000“ durch die Angabe „102 694 600 000“ ersetzt.

2. Der Bundeshaushaltsplan 2021 wird nach Maßgabe des diesem Gesetz als Anlage beigefügten Nachtrags geändert.

Artikel 2

Dieses Gesetz tritt mit Wirkung vom 1. Januar 2021 in Kraft.

14

a) In ihrem Gesetzentwurf vom 13. Dezember 2021 verweist die Bundesregierung darauf, dass zur Abmilderung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und angesichts des massiven wirtschaftlichen Einbruchs im Jahr 2020 weiterhin umfangreiche angebots- und nachfrageseitige Maßnahmen notwendig seien, um die deutsche Volkswirtschaft wieder auf einen langfristig nachhaltigen Wachstumspfad führen zu können (vgl. BTDrucks 20/300, S. 4 f.). Dabei bedürfe es erheblicher zukunftsgerichteter Impulse „zum Beispiel für den Klimaschutz“. Ein wesentliches Element zur Bewältigung der Pandemie seien konjunkturunterstützende erhöhte staatliche Investitionen sowie die Förderung privatwirtschaftlicher Investitionen. Eine verlässliche staatliche Finanzierung und eine Förderung privatwirtschaftlicher Ausgaben für bedeutende Zukunfts- und Transformationsaufgaben etwa in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung seien unter den besonderen Bedingungen der Pandemiebewältigung eine wesentliche Voraussetzung, um die Folgen der Krise schnell zu überwinden, die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft zu sichern und damit das wirtschaftliche Wachstum anzuregen und nachhaltig zu stärken. Viele diesbezügliche Investitionen seien unter dem Einfluss der Pandemie nicht erfolgt. Deshalb bedürfe es einer weiteren Steigerung öffentlicher Investitionen, um gezielt private Investitionen in Zukunftsbereichen zu aktivieren und einen entsprechenden Nachholprozess anzustoßen.

15

Gemäß der Herbstprojektion der Bundesregierung zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung falle das Wachstum im Jahr 2021 aufgrund bestehender Lieferengpässe geringer aus als im Frühjahr erwartet. Eine erneut steigende Infektionsdynamik und die Unsicherheiten über eine neu aufgetretene Virusvariante stellten zudem ein hohes Risiko für die weitere Entwicklung dar. Dem Klimaschutz und dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energiequellen komme zur nachhaltigen Stärkung der Volkswirtschaft auf ihrem Weg aus der Pandemie eine besondere Qualität zu. Das Bundesverfassungsgericht habe diesbezüglich eine explizite verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staates festgestellt.

16

Mit dem Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 würden dem EKF in Anknüpfung an die bereits im Jahr 2020 in Zusammenhang mit dem Konjunktur- und Zukunftspaket erfolgte und zur Pandemiebewältigung gewährte Zuweisung erneut zusätzliche Mittel in Höhe von 60 Milliarden Euro zugeführt. Diese Zuweisung an den EKF sei angesichts sich im Haushaltsvollzug abzeichnender Mehreinnahmen und Minderausgaben möglich und erforderlich, um nachhaltige Finanzierungsmöglichkeiten zur „Überwindung des Klimawandels bzw. zur Transformation der deutschen Volkswirtschaft im Rahmen der Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie“ zu schaffen. Die Bundesregierung beabsichtige, den Energie- und Klimafonds zu einem Klima- und Transformationsfonds (KTF) weiterzuentwickeln.

17

Die Ermächtigung zur Nettokreditaufnahme werde hierdurch nicht erhöht. Die Kreditaufnahme selbst werde – im Unterschied zum bisher beschlossenen Bundeshaushalt – erst in den Folgejahren kassenwirksam werden, wenn der zukünftige KTF die mit dem zweiten Nachtragshaushalt 2021 zusätzlich erhaltenen Mittel einsetze.

18

Zwar stelle sich der Haushaltsvollzug des Jahres 2021 besser dar, als es ursprünglich bei der Verabschiedung des Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 vom 3. Juni 2021 zu erwarten gewesen sei. Gleichwohl könnten die in der aktuellen Krisensituation erforderlichen Ausgaben weiterhin nicht aus den laufenden Einnahmen im Rahmen der Regelgrenze der Schuldenbremse finanziert werden. Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen stünden dem notwendigen Kurs einer nachhaltigen Stabilisierung entgegen. Insgesamt ergebe sich daraus, dass die geplante Zuweisung zum EKF geeignet, erforderlich und angemessen sei, um zur Überwindung der Folgen der Pandemie beizutragen.

19

b) Hinsichtlich der Grenzen für Kreditaufnahmen gemäß Art. 115 GG finden sich in der Begründung des Gesetzentwurfs Erläuterungen, die sich auf die Vorgaben in § 4 der Verordnung über das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente nach § 5 des Artikel 115-Gesetzes (Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 des Grundgesetzes <Artikel 115-Gesetz – G 115> vom 9. Juni 2010, BGBl I S. 790, zuletzt geändert durch Artikel 245 der Verordnung vom 31. August 2015, BGBl I S. 1474) beziehen (vgl. BTDrucks 20/300, S. 6). Hierbei erfolgt insbesondere eine Anpassung und Neuberechnung der Konjunkturkomponente. Im Ergebnis wird danach die Regelgrenze der zulässigen Nettokreditaufnahme, also der zulässigen strukturellen Nettokreditaufnahme unter Berücksichtigung der Konjunkturkomponente, um 207,007 Milliarden Euro überschritten.

20

c) Zudem ist der Entwurfsbegründung eine rückwirkende Änderung der Buchungs-systematik im Hinblick auf Sondervermögen zu entnehmen (vgl. BTDrucks 20/300, S. 6):

Im Unterschied zur bisherigen an den Finanzierungssalden der Sondervermögen orientierten Buchungssystematik, bei der ein Überschuss eines Sondervermögens aus der Zuweisung aus dem Kernhaushalt das entsprechende Defizit bzw. die Nettokreditaufnahme des Kernhaushalts ausgleicht, werden künftig im Ergebnis an Stelle der Finanzierungssalden der Sondervermögen die Zuführungen des Kernhaushalts an die Sondervermögen berücksichtigt. Mit dem künftigen Verfahren werden einerseits Planungsunsicherheiten bei der Aufstellung des Haushalts beseitigt. Im Rahmen der bisherigen Haushaltsaufstellungen mussten Schätzungen zu den Finanzierungssalden der Sondervermögen vorgenommen werden, die sich oft als nicht zutreffend herausgestellt haben. Andererseits werden systematische Inkonsistenzen beseitigt, da damit die Buchungstechnik bei den Sondervermögen der Buchungstechnik beim Kernhaushalt angeglichen wird. Konkret wird die Rücklagenzuführung bei den Sondervermögen in Zukunft genauso gebucht wie bisher schon im Kernhaushalt. Damit diese Umstellung systemgerecht erfolgt und auch die Zuführungen der Vergangenheit korrekt erfasst werden, wird die Umstellung rückwirkend berücksichtigt.

21

d) Der Bundesrat verzichtete mit Beschluss vom 17. Dezember 2021 auf eine Stellungnahme zu dem Regierungsentwurf (vgl. BTDrucks 20/351, S. 1).

22

e) Nachdem der Haushaltsausschuss am 10. Januar 2022 eine Sachverständigenanhörung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung durchgeführt hatte, empfahl er mit Beschluss vom 14. Januar 2022 die Annahme des Gesetzentwurfs mit wenigen Änderungen (vgl. BTDrucks 20/400, S. 1 und BTDrucks 20/401). Der Entwurf wurde insbesondere um folgende „Verbindliche Erläuterungen“ zum Haushaltstitel über die Zuweisung an den EKF (Titel 614 01) ergänzt (vgl. BTDrucks 20/400, S. 3):

Die mit dem Zweiten Nachtragshaushalt 2021 zur Überwindung der Pandemiefolgen zusätzlich zugewiesenen Mittel dienen kurz- und mittelfristig der Finanzierung von Ausgaben zur Abfederung und Überwindung der durch die COVID-19-Pandemie verursachten Notsituation und werden hierbei für zusätzliche Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels, Maßnahmen zur Transformation der deutschen wirtschaft und nachholende Investitionen verwendet:

1. Stärkung von Investitionen in Maßnahmen der Energieeffizienz und erneuerbarer Energien im Gebäudebereich,

2. Förderung von Investitionen für eine CO2-neutrale Mobilität,

3. Förderung von Investitionen in neue Produktionsanlagen in Industriebranchen mit emissionsintensiven Prozessen über Klimaschutzverträge (carbon contracts for difference),

4. Förderung von Investitionen zum Ausbau einer Infrastruktur einer CO2-neutralen Energieversorgung,

5. Stärkung der Nachfrage privater Verbraucher und des gewerblichen Mittelstands durch Abschaffung der EEG-Umlage.

Der Titel wird durch BMF [Bundesministerium der Finanzen] bewirtschaftet.

23

Der Haushaltsausschuss berechnete die Zahlen zur Überschreitung der Regelgrenze der zulässigen Nettokreditaufnahme neu und kam hierbei auf eine Überschreitung in Höhe von 208,865 Milliarden Euro (vgl. BTDrucks 20/400, S. 13).

24

f) Vor dem Hintergrund der Beschlussempfehlung und des Berichts sowie der ergänzenden Beschlussempfehlung (vgl. BTDrucks 20/530) des Haushaltsausschusses nahm der Deutsche Bundestag in seiner Sitzung am 27. Januar 2022 den Gesetzentwurf mit den aus einer der Beschlussdrucksache beigefügten Zusammenstellung des „Einzelplans 60“ ersichtlichen Änderungen und den sich daraus ergebenden Änderungen der Abschlusssummen sowie der in der Ergänzungsdrucksache aufgeführten Titel an. Der Zweite Nachtrag zum Gesamtplan des Bundeshaushaltsplans 2021 ist der Beschlussdrucksache als Anlage beigefügt (vgl. BRDrucks 33/22).

25

g) Am 11. Februar 2022 beschloss der Bundesrat, einen Antrag nach Art. 77 Abs. 2 GG auf Einberufung des Vermittlungsausschusses nicht zu stellen (vgl. BRDrucks 33/22 <Beschluss>).

26

h) Nach Ausfertigung durch den Bundespräsidenten am 18. Februar 2022 wurde das Gesetz am 25. Februar 2022 im Bundesgesetzblatt verkündet (vgl. BGBl I S. 194).

27

5. Der EKF wurde ursprünglich durch das Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ vom 8. Dezember 2010 (BGBl I S. 1807) als wesentlicher Beitrag zur Umsetzung des langfristigen Energiekonzepts der Bundesregierung errichtet. Das Sondervermögen sollte zusätzliche Programmausgaben zur Förderung einer umweltschonenden, zuverlässigen und bezahlbaren Energieversorgung sowie zum Klimaschutz ermöglichen. Rechtlich und wirtschaftlich sind die Mittel des Sondervermögens vom Bundeshaushalt getrennt zu halten. Die Veranschlagung der EKF-Mittel erfolgt im Wirtschaftsplan des EKF, der jährlich zusammen mit dem Haushaltsgesetz festgestellt wird.

28

Angesichts der andauernden Corona-Pandemie und wegen der daraus resultierenden Risiken für die Erholung der wirtschaft und der Staatsfinanzen beschloss der Bundestag am 23. Juni 2022 das Zweite Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ vom 12. Juli 2022 (vgl. BGBl I S. 1144). Zweck des Gesetzes ist die Weiterentwicklung des EKF zu einem „Klima- und Transformationsfonds“ (KTF). Das Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ wurde in Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens „Klima- und Transformationsfonds“ (Klima- und Transformationsfondsgesetz – KTFG) umbenannt (vgl. BTDrucks 20/1598, S. 2).

29

Infolge der Änderung sollen zusätzliche Klimaschutzmaßnahmen und Maßnahmen zur nachhaltigen Transformation der deutschen wirtschaft finanziert werden, die geeignet sind, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu bekämpfen, und die gleichzeitig dazu beitragen, die Klimaschutzziele des Klimaschutzgesetzes zu erreichen. Daneben wurden in § 2a KTFG die vom Haushaltsausschuss eingefügten „Verbindlichen Erläuterungen“ zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ausdrücklich in die Zweckbestimmung des Sondervermögens überführt (vgl. BGBl I 2022 S. 1144 f.).

II.

30

Die Antragstellerinnen und Antragsteller, 197 Mitglieder des Deutschen Bundestages, haben das Normenkontrollverfahren mit am 7. April 2022 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenem Schriftsatz vom 18. März 2022 eingeleitet und beantragen festzustellen, dass Art. 1 und Art. 2 des Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 (Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021) vom 18. Februar 2022 (BGBl I S. 194) mit Art. 109 Abs. 3, Art. 110 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 sowie Art. 115 Abs. 2 GG unvereinbar und nichtig sind.

31

Sie machen geltend, die im zu prüfenden Gesetz vorgesehene Zuführung der Kreditermächtigungen an den EKF verstoße gegen Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG (1.). Zudem verfehle die Vorhaltung von Kreditermächtigungen im EKF die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung und den Einsatz von Sondervermögen (2.). Die Ansätze einer globalen Mehreinnahme und einer globalen Minderausgabe seien zu hoch und verstießen gegen das parlamentarische Budgetrecht gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG (3.). Schließlich trage die Verkündung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 erst nach Abschluss des Haushaltsjahres 2021 den verfassungsrechtlichen Haushaltsgrundsätzen nicht Rechnung (4.).

32

1. Die Zuführung der im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 vorgesehenen Kreditermächtigungen an den EKF genüge nicht den verfassungsrechtlichen Maßstäben der notlagenbedingten Kreditaufnahme des Bundes aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG.

33

a) Zwar sei COVID-19 als Massenerkrankung eindeutig eine Naturkatastrophe im Sinne von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG. Für den Klimawandel gelte dies hingegen nicht. Dabei handele es sich nicht um den Fall eines „exogenen Schocks“, den der verfassungsändernde Gesetzgeber 2009 im Blick gehabt habe, als er die Möglichkeit der notlagenbedingten Kreditaufnahme ausgestaltet habe. Es sei hierbei um den budgetären Ausgleich plötzlich auftretender, nicht vorauszusehender Notsituationen gegangen. Der Klimawandel sei seit langem bekannt, erfordere langfristig und weitgreifend angelegtes Staatshandeln und stelle sich deshalb als im Rahmen der regulären Haushaltswirtschaft zu bewältigende strukturelle Zukunftsherausforderung dar. Begriffe man den Klimawandel als Notsituation im Sinne von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG, käme dies einer faktischen Abschaffung der Schuldenbremse gleich. Dementsprechend richteten sich auch die im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 (vgl. BVerfGE 157, 30 – Klimaschutz) aus den Freiheitsgrundrechten abgeleiteten Handlungspflichten des Gesetzgebers an die allgemeine Bundes- und Landespolitik. Es bestehe kein dogmatischer Ansatzpunkt dafür, die grundrechtlich fundierten Handlungspflichten zu einer die Verschuldungsgrenzen ausweitenden Umdeutung der grundgesetzlichen Schuldenbremse heranzuziehen.

34

b) Veranlasst durch die Corona-Pandemie habe der Haushaltsgesetzgeber auf der Basis entsprechender Bundestagsbeschlüsse nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG sowohl für 2020 wie auch für 2021 zu einer notlagenbedingten Kreditaufnahme in ganz erheblicher Höhe ermächtigt. Die Bestimmung des genauen Umfangs der Ermächtigung falle in seinen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum. Diesbezügliche Darlegungen und Begründungen seien in den jeweiligen Gesetzentwürfen enthalten.

35

c) Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 betreffe dagegen einen ganz spezifischen Vorgang, der eigenständig zu prüfen sei. Ausgangspunkt sei das zu Ende gehende Haushaltsjahr 2021. Es habe sich gezeigt, dass Notlagenkreditmittel (jedenfalls) im Umfang von 60 Milliarden Euro nicht zur Krisenbewältigung gebraucht worden seien. Sie seien dem EKF zugeführt worden, um erst in Zukunft eingesetzt zu werden. Die Bundesregierung begründe diesen Schritt mit geringerem Wachstum im Jahr 2021, mit einer erneut steigenden Infektionsdynamik und den Unsicherheiten hinsichtlich einer neu auftretenden Virusvariante. Nach Ansicht der Bundesregierung müsse die Finanzpolitik deshalb weiterhin ihren Beitrag leisten, um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu lindern; dem Klimaschutz und dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energiequellen komme dabei gerade zur nachhaltigen Stärkung der Volkswirtschaft auf ihrem Weg aus der Pandemie eine besondere Qualität zu.

36

aa) Dass Investitionen nachzuholen seien, deren Umfang in den letzten zwei Jahren unterhalb einer bestimmten Prognose aus der Zeit vor der Pandemie geblieben sei, tauge als Argument nicht. Unabhängig davon sei festzustellen, dass staatliche Investitionen, die zur Stimulierung privater Investitionen und der wirtschaft insgesamt wünschenswert sein könnten, nicht spezifisch zur Bewältigung einer Pandemie und damit auch nicht spezifisch zur Bewältigung der Corona-Pandemie dienten, sondern das Gemeinwesen allgemein ertüchtigen sollten.

37

Dementsprechend spiele der Investitionsaspekt im Rahmen der Regelungen in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG von vornherein keine Rolle. Die Regelungen erlaubten die notlagenbedingte Kreditaufnahme in genau dem Umfang, der zur Bewältigung einer bestimmten Notlage erforderlich sei.

38

Im Übrigen sei zu beachten, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber das vormalige Investitionsjunktim der verfassungsrechtlichen Kreditaufnahmeregelung im Jahr 2009 ausdrücklich und sehr bewusst aufgegeben habe, weil es sich nicht bewährt habe. Dies sei bei der Auslegung der notlagenbezogenen Bestimmungen der Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG zu berücksichtigen.

39

bb) Ebenso müsse bei der Auslegung von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG bedacht werden, dass konjunkturbedingte Effekte einer Notsituation auf den Staatshaushalt bereits durch die konjunkturbedingte Modifikation der zulässigen Kreditaufnahme aufgefangen würden. Soweit die Begründung des Gesetzentwurfs des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 auf die Entwicklung des wirtschaftlichen Wachstums und diesbezügliche Zielvorstellungen rekurriere, sei mithin die erforderliche Unterscheidung zwischen der konjunkturbedingten und der notlagenbedingten Kreditaufnahme zu wahren.

40

cc) Besonders weit entferne sich die Gesetzesbegründung von den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Notlagenkrediten, wenn sie die Bedeutung des Klimaschutzes und des dem Klimaschutz dienenden Ausstiegs aus der Nutzung fossiler Energiequellen in den Vordergrund rücke. Es sei zwar sinnvoll, wachstumsfördernde und die Wettbewerbsfähigkeit der wirtschaft unterstützende transformative Zukunftsinvestitionen in Klimaschutzmaßnahmen und zur Unterstützung der Energiewende vorzunehmen. Die Ziele des Klimaschutzes und der Energiewende, die die Ziele des bereits 2011 eingerichteten EKF seien, hätten mit der Bewältigung der Anfang 2020 aufgetretenen Corona-Pandemie jedoch nichts zu tun.

41

Zudem komme der Gesetzgeber seiner Darlegungs- und Begründungspflicht schon deshalb nicht nach, weil er die genannten Maßnahmen nicht auf die in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG tatbestandliche Naturkatastrophe, also die Corona-Pandemie, beziehe, sondern auf die „durch die COVID-19-Pandemie verursachte Notsituation“. Der Gesetzgeber lege also von vornherein eine verfassungsrechtlich nicht vorgesehene „mittelbare Notlage“ zugrunde.

42

dd) Darüber hinaus seien die in den EKF transferierten Kreditermächtigungen durch Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG in temporaler Hinsicht nicht gedeckt. Es sei völlig offen, wann EKF-Mittel eingesetzt würden. Also sei es gerade nicht so, dass die Mittel, wie im Einleitungssatz der „Verbindlichen Erläuterung“ behauptet, „kurz- und mittelfristig“ zur Pandemiebekämpfung genutzt würden. Vielmehr deute das „Parken“ der Mittel in einem Sondervermögen eher auf eine – zumindest teilweise – längerfristige Vorhaltung hin.

43

Eine solche Vorhaltung sei mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nicht vereinbar. Diese zugleich dem parlamentarischen Budgetrecht entsprechenden Anforderungen, auch konkretisiert in den Haushaltsgrundsätzen der Jährlichkeit, der zeitlichen Spezialität und der Fälligkeit, beschränkten die Notlagenkreditermächtigungen, die in einem bestimmten Haushaltsjahr ausgebracht würden, auf die Deckung von Ausgaben, die für Maßnahmen zur Notlagenbekämpfung in diesem Haushaltsjahr entstünden. Der in Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vorausgesetzte „Fall“ sei jährlich festzustellen und zu verantworten.

44

d) Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der hier gegenständlichen Zuführung von Kreditermächtigungen scheitere – hilfsweise – auch an der Erforderlichkeit. Nicht nur seien im Jahr 2021 Notlagenkreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro ursprünglich nicht benötigt worden. Vielmehr sei die Neuverschuldung im Jahr 2021 um rund 25 Milliarden Euro geringer geblieben als ursprünglich vorgesehen. Zugleich hätten die gesamtstaatlichen Steuereinnahmen Rekordwerte erreicht. Schließlich sei die vormalige Asylrücklage im Umfang von mehr als 48 Milliarden Euro, deren Zweckbindung durch das Nachtragshaushaltsgesetz 2020 aufgehoben worden sei, nicht angetastet worden (unter Verweis auf das Nachtragshaushaltsgesetz 2020 vom 27. März 2020, BGBl I S. 556).

45

Wären weitere Mittel zur Krisenbewältigung notwendig gewesen, hätte nach dem Maßstab der Erforderlichkeit zunächst die Rücklage eingesetzt werden müssen und erst nachrangig zur (fortgesetzten) Notlagenkreditaufnahme ermächtigt werden dürfen. Die Bundesregierung habe keine hinreichende Begründung dafür gegeben, warum auf den Einsatz der Rücklage verzichtet worden sei.

46

2. Unabhängig vom fehlenden Notlagenbezug der in den EKF verbrachten Kreditermächtigungen sei deren Vorhaltung im EKF als solche verfassungswidrig. Sie verstoße gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung und den Einsatz unselbständiger Sondervermögen.

47

a) Verfassungsrechtlich problematisch sei bereits die Ausgestaltung des EKF im Ganzen. Nachdem der Fonds 2011 mit Einnahmen in Höhe von 300 Millionen Euro gestartet sei, ergebe sich infolge des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 ein Volumen des Fonds von insgesamt über 100 Milliarden Euro. Die zeitlichen Perspektiven der Verwendung dieser Mittel seien weitgehend offen. Dies bedeute, dass ein Betrag in Höhe von knapp einem Fünftel des gesamten Bundeshaushalts dem jährlichen prozess der parlamentarischen Prioritätensetzung durch Budgetentscheidungen und dem regulären Haushaltskreislauf entzogen sei.

48

b) Durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 würden Kreditermächtigungen im Umfang von 60 Milliarden Euro in den EKF überführt, um dort für zukünftige Ausgaben vorgehalten, gleichsam „geparkt“ zu werden. Dies sei offenbar mit Blick darauf erfolgt, dass künftig möglicherweise keine neuen notlagenbedingten Kreditermächtigungen mehr erteilt werden könnten.

49

Schließlich und insbesondere verstoße die Vorhaltung von Kreditermächtigungen in periodenübergreifenden Rücklagen gegen die Jahresbezogenheit der Anforderungen aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG. Es sei absehbar, dass die im Jahr 2021 wegen der Corona-Pandemie verfassungsrechtlich gegebenen Möglichkeiten der notlagenbedingten Kreditaufnahme in Zukunft nicht mehr eröffnet seien. Diese zeitsensiblen verfassungsrechtlichen Grenzziehungen würden unterlaufen, wäre es möglich, Kreditermächtigungen durch Bildung einer Rücklage in einem Sondervermögen „über die Zeit zu retten“.

50

c) Während sich die Buchungssystematik bislang an den Finanzierungssalden der Sondervermögen orientiert habe und der Überschuss eines Sondervermögens aufgrund der Zuweisung aus dem Kernhaushalt das entsprechende Defizit oder die Nettokreditaufnahme des Kernhaushalts ausgeglichen habe, würden künftig an Stelle der Finanzierungssalden der Sondervermögen die Zuführungen des Kernhaushalts an die Sondervermögen berücksichtigt werden. In der Folge erhielten einzelne Zuführungen aus dem Kernhaushalt an Sondervermögen unmittelbar Ausgabenrelevanz.

51

Zwar lasse Art. 110 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG verschiedene Buchungsvarianten im Verhältnis zwischen Kernhaushalt und Sondervermögen zu. Die Buchungssystematik finde jedoch in der unter staatsschuldenrechtlichen Gesichtspunkten erforderlichen Einheitsbetrachtung von Kernhaushalt und unselbständigen Sondervermögen ihre Grenze. Für die zeitliche Zuordnung von Kreditermächtigungen und tatsächlichen Kreditaufnahmen wie auch für die Berücksichtigung des Vollzugs auf dem Kontrollkonto könne es keinen Unterschied machen, ob eine Kreditermächtigung im Kernhaushalt oder in einem Sondervermögen angesiedelt sei. Dies entspreche zugleich den EU-rechtlichen, auf den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) aufsetzenden Fiskalregeln. Daraus folge, dass die Verlagerung einer Kreditermächtigung vom Kernhaushalt in ein Sondervermögen staatsschuldenrechtlich neutral, also als solche ohne (Ausgaben-)Relevanz bleiben müsse.

52

Durch die Buchungssystematik dürfe die tatsächliche Kreditaufnahme nicht künstlich vorgezogen werden, um die zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden verfassungsrechtlichen Bedingungen der Kreditaufnahme missbräuchlich auszunutzen.

53

Die Zahlen, von denen im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ausgegangen werde, beruhten auf Berechnungen nach Maßgabe der neuen Buchungssystematik. Dies gelte insbesondere für die Ansätze des Kontrollkontos. Die veränderte Buchungssystematik sei demnach der Türöffner für die Verschiebung der Kreditermächtigungen. Aus diesem Grund sei das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 auch wegen der verfassungsrechtlich unzulässigen neuen Buchungssystematik verfassungswidrig.

54

3. Durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 würden eine globale Mehreinnahme in Höhe von 25 Milliarden Euro und eine globale Minderausgabe in Höhe von 35 Milliarden Euro neu ausgebracht (Einzelplan 60 Kapitel 6002), um Haushaltsspielraum für die Zuführung von Kreditermächtigungen an den EKF zu schaffen. Zusammen hätten diese globalen Titel ein Volumen von 60 Milliarden Euro. Dies entspreche mehr als 10 % des gesamten Haushaltsvolumens.

55

Gemäß den haushaltsverfassungsrechtlichen Vorgaben für den Einsatz globaler Haushaltstitel sei der Ansatz globaler Minderausgaben demgegenüber höchstens in Höhe von etwa 2 % des Haushaltsvolumens akzeptabel. Für den Ansatz globaler Mehreinnahmen gelte Entsprechendes. Im Fall eines Nachtragshaushalts seien die Anforderungen an die Titeldetaillierung eher noch strenger.

56

Vor diesem Hintergrund seien die Globalansätze im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 viel zu hoch. Sie verstießen deshalb gegen das parlamentarische Budgetrecht gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG, namentlich gegen die im parlamentarischen Budgetrecht verankerten Haushaltsgrundsätze der sachlichen Spezialität sowie der Haushaltsklarheit und -wahrheit.

57

4. Nach den haushaltsverfassungsrechtlichen Maßgaben führe die Verkündung eines Nachtragshaushaltsgesetzes erst nach Abschluss des betreffenden Haushaltsjahres zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Das parlamentarische Budgetrecht gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG begründe die verfassungsrechtlichen Haushaltsgrundsätze der Vorherigkeit des Haushalts und der Fälligkeit der Titelansätze. Das erst im Februar 2022 verkündete Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 verstoße hiergegen und sei auch deshalb verfassungswidrig.

III.

58

Von der gemäß § 77 Nr. 1 BVerfGG dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung und allen Landesregierungen gewährten Möglichkeit zur Stellungnahme hat nur die Bundesregierung Gebrauch gemacht. Sie erachtet den Antrag für unbegründet.

59

1. Die kreditfinanzierte Zuweisung der 60 Milliarden Euro an den EKF sei mit den Vorgaben der sogenannten Schuldenbremse aus Art. 115 Abs. 2 GG vereinbar.

60

a) Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ermögliche im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entzögen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigten, eine Überschreitung der Regelobergrenze des Art. 115 Abs. 2 GG. Von dieser Möglichkeit habe der Bundesgesetzgeber angesichts der andauernden Pandemie im Bundeshaushalt 2021 Gebrauch gemacht. Dass die Corona-Pandemie auch im Haushaltsjahr 2021 eine solche Notsituation dargestellt habe, werde von keiner Seite bestritten. Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ermächtige zwar prinzipiell zu einer betragsmäßig nicht limitierten Überschreitung der Regelobergrenze. Allerdings werde nach überwiegender Ansicht verlangt, dass die über die Regelobergrenze hinausgehende Staatsverschuldung entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 115 GG a.F. dazu bestimmt und geeignet sein müsse, die Notsituation zu beseitigen. Es müsse ein finaler Veranlassungszusammenhang zwischen Kreditaufnahme und Beseitigung der konkreten Notsituation, eine sogenannte Krisenkonnexität, gegeben sein. Das Vorliegen einer Notsituation ermächtige den Haushaltsgesetzgeber daher nicht zu einer grenzenlosen Verschuldung. Damit ergebe sich aus Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG zwar keine absolute, jedoch eine – von der Art der jeweiligen Krise abhängige – relative Verschuldungsgrenze.

61

Maßgeblich seien stets die Eigenarten der konkreten Notsituation, die in einer wertenden Gesamtbetrachtung ergäben, wann unter Beachtung der Zwecke des Art. 115 Abs. 2 GG eine hinreichende Krisenkonnexität anzunehmen sei. Zweck der Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG sei es, die Handlungsfähigkeit des Staates zur Krisenbewältigung zu gewährleisten, dies gerade auch im Kontrast zu den engen Grenzen für die Kreditaufnahme in der Normallage. Der Verfassungsgeber habe sich als Korrektiv für die weite Krisenermächtigung nicht für eine tatbestandliche Einengung der möglichen Maßnahmen entschieden, sondern für eine umfassende Tilgungsregelung, die sicherstelle, dass es nicht zu einer dauerhaften Erhöhung der Staatsverschuldung komme.

62

Vor diesem teleologischen Hintergrund seien bei der Ermittlung der geforderten Krisenkonnexität die Art der Krise und ihre konkreten Auswirkungen (aa), die gesamtwirtschaftliche Verantwortung des Bundes (bb) sowie die Vereinbarkeit der kreditfinanzierten Ausgaben mit den Zwecken des Art. 115 Abs. 2 GG (cc) in den Blick zu nehmen. Keine Voraussetzungen seien demgegenüber die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Kreditaufnahme für die Beseitigung der KriseBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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und deren Verhältnismäßigkeit (dd). Dem Haushaltsgesetzgeber komme im Hinblick auf die Eignung der gewählten Maßnahmen im Übrigen ein weitreichender Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu; gerichtlich überprüfbar sei allein die Vertretbarkeit und Nachvollziehbarkeit seiner Entscheidung (ee).

63

aa) Im Grundsatz seien zwei Krisenszenarien zu betrachten, die im Hinblick auf die durch Kredite finanzierbaren Folgen zu unterscheiden seien: zum einen regional und zeitlich begrenzte Krisen (Typ 1-Krisen) und zum anderen zeitlich langanhaltende, die ökonomische Entwicklung im gesamten Bundesgebiet (und darüber hinaus) beeinträchtigende Krisen (Typ 2-Krisen). Im Jahr 2021 seien beide Krisentypen aufgetreten: zum einen die Hochwasserkatastrophe Mitte Juli (Typ 1-Krise), zum anderen die bereits seit Anfang 2020 andauernde Corona-Pandemie (Typ 2-Krise). Die erste Krise habe nur wenige Tage gedauert, aber gleichwohl Schäden in Milliardenhöhe verursacht, die jedoch regional eng begrenzt gewesen seien und die ökonomische Entwicklung in anderen Regionen kaum tangiert hätten. Demgegenüber sei die Corona-Pandemie noch immer nicht überwunden. Die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie seien nicht regional begrenzt, sondern beträfen das gesamte Bundesgebiet oder gar die gesamte Welt. Damit aber unterschieden sich auch die Maßnahmen, die zur Überwindung dieser beiden Krisentypen nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG kreditfinanziert werden könnten.

64

Bei dieser Betrachtungsweise liege keine unzulässige Überschneidung mit der in Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG normierten Konjunkturkomponente vor. Beide Regelungen seien vielmehr unabhängig voneinander und hätten unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen und Zwecke. Während Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG auf die möglichst effektive Überwindung der Krisenfolgen abziele, strebe die Konjunkturkomponente eine symmetrische Berücksichtigung automatischer Stabilisatoren in der Finanzpolitik außerhalb von erheblichen Krisensituationen an. Die Ausnahme der notlagenbedingten Kreditaufnahme setze auf die zulässige Kreditaufnahme einschließlich der Konjunkturkomponente auf.

65

bb) Im Haushalts- und Finanzsystem des Grundgesetzes werde an verschiedenen Stellen deutlich, dass dem Bund eine gesamtwirtschaftliche Verantwortung zukomme. Das zeige sich unter anderem in der Regelung des Art. 104b GG zu möglichen Finanzhilfen des Bundes für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden. Auch Art. 115 Abs. 2 GG gehe von einer solchen Verantwortung des Bundes für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung aus. Diese wirke sich zwar nicht in allen Fällen des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG aus, offenkundig aber jedenfalls in den Konstellationen, in denen es sich um eine Krise des Typs 2 handele und es daher gerade um die Beseitigung krisenbedingter fundamentaler und bundesweit wirksamer ökonomischer Beeinträchtigungen gehe. In diesen Fällen müsse deshalb die gesamtwirtschaftliche Verantwortung des Bundes bei der Auslegung des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG berücksichtigt werden. In der Konsequenz seien dem Bund in weit größerem Maße allgemeine Maßnahmen zur Ankurbelung der bundesweiten wirtschaft zuzugestehen als bei Krisen des Typs 1.

66

cc) Eine Herabsetzung der Konnexitätsanforderungen könne sich im Einzelfall zudem daraus ergeben, dass Sinn und Zweck der mit der Kreditaufnahme ermöglichten Ausgaben dem Sinn und Zweck des Art. 115 Abs. 2 GG und seiner Ausnahmeregelung nicht entgegenstünden oder mit diesen sogar gleichlaufend seien. Der allgemeine Zweck des Art. 115 Abs. 2 GG werde in diesem Zusammenhang in der Verhinderung einer übermäßigen finanziellen Belastung künftiger Generationen gesehen. Sofern die angestrebten kreditfinanzierten Maßnahmen aus verfassungsrechtlicher Sicht ihrerseits dazu beitrügen, entsprechende finanzielle Belastungen der zukünftigen Generation explizit zu reduzieren, förderten sie den Zweck des Art. 115 Abs. 2 GG. Genauso verhalte es sich bei finanziellen Investitionen in die Bekämpfung des Klimawandels zur Überwindung der Folgen der Corona-Pandemie. Die besondere Bedeutung eines effektiven Klimaschutzes gerade im Hinblick auf zukünftige Generationen und daraus resultierende Emissionsminderungspflichten seien vom Bundesverfassungsgericht in seinem Klimabeschluss explizit betont worden. Eine systematische Auslegung des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG müsse diese gleichrangige verfassungsrechtliche Verpflichtung daher aufnehmen und angemessen verarbeiten. Das führe zwar nicht dazu, dass entsprechende kreditfinanzierte Ausgaben von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG generell nicht mehr erfasst würden. Es führe aber zu einer Absenkung der Anforderungen an die notwendige Krisenkonnexität im Vergleich zu Ausgaben, bei denen ein solcher Gleichlauf der Zwecke nicht gegeben sei.

67

Eine Absenkung der Konnexitätsanforderungen scheide auch nicht deshalb aus, weil der verfassungsändernde Gesetzgeber das vormalige Investitionsjunktim bei der Neufassung des Art. 115 GG aufgegeben habe. Hintergrund dieser Entscheidung sei gewesen, dass sich die damalige Norm nicht als geeignet erwiesen habe, die Staatsverschuldung außerhalb realer Krisenzeiten effektiv zu begrenzen. Damit sei aber nicht die Aussage verknüpft gewesen, dass zwischen Investitionen und sonstigen Ausgaben im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit ihrer Kreditfinanzierung generell nicht mehr differenziert werden dürfe.

68

dd) Über die Finalität und Geeignetheit der ergriffenen Maßnahmen zur Beseitigung der Krisen hinaus enthalte Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG keine weiteren materiellen Beschränkungen für eine krisenbedingte Kreditaufnahme des Bundes. Insbesondere müsse sich diese nicht zugleich als erforderlich und angemessen erweisen; eine entsprechende Bindung des Haushaltsgesetzgebers an den Grundsatz der VerhältnismäßigkeitBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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bestehe nicht. Dies entspreche der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur ehemaligen Schuldenregelung des Art. 115 GG. Teleologische und funktionell-rechtliche Überlegungen führten ebenfalls dazu, dass der Grundsatz der VerhältnismäßigkeitBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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jedenfalls bei Krisen des Typs 2 keine Anwendung finden könne. Die Einhaltung der Regelobergrenze für die Neuverschuldung und deren Aussetzung zur Überwindung von Krisensituationen seien nach der Wertung des verfassungsändernden Gesetzgebers gleichrangig. Auch bei der Entscheidung, wie einer Krise des Typs 2 zu begegnen sei, handele es sich um eine hochpolitische Entscheidung, da sie in einem engen Zusammenhang mit der Gewährleistung der staatlichen Handlungsfähigkeit insgesamt und der allgemeinen Wirtschaftspolitik des Bundes stehe. Schon deshalb verbiete sich eine mit der Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips einhergehende pauschale Privilegierung einer möglichst geringen Verschuldung bei der Anwendung des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG.

69

ee) Im Hinblick auf das Vorliegen der relevanten Tatbestandsmerkmale des Art. 115 GG sowie insbesondere auf die Eignung der zur Krisenbeseitigung ergriffenen Maßnahmen gewähre das Bundesverfassungsgericht dem Haushaltsgesetzgeber seit jeher einen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum (unter Verweis auf BVerfGE 79, 311 <343>; 119, 96 <140>).

70

Gerichtlich überprüfbar seien nur die äußeren Grenzen dieses Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums, mithin das „natur-, finanz- und wirtschaftswissenschaftlich Vertretbare und Nachvollziehbare“. Zur Ermöglichung einer solchen gerichtlichen Plausibilitätskontrolle träfen den Haushaltsgesetzgeber korrespondierende Darlegungspflichten dahingehend, dass er eine eigene Beurteilung vorzunehmen und die Eignung der kreditfinanzierten Maßnahmen in ausreichender Form einzuschätzen habe. Dies entspreche ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (unter Verweis auf BVerfGE 119, 96 <140>).

71

b) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe erweise sich die Zuführung an den EKF als mit Art. 115 Abs. 2 GG vereinbar.

72

aa) Die Bundesregierung bezwecke mit der Zuführung an den EKF eine Überwindung der dramatischen ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie und damit einer Krise des Typs 2, die zu einer zusätzlichen Kreditaufnahme nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ermächtige. Diese finale Ausrichtung werde in der Begründung des Gesetzentwurfs ausführlich dargelegt. Dass mit den zugeführten Mitteln zugleich der Klimawandel oder dessen Folgen hätten abgeschwächt werden sollen, stehe dem nicht entgegen. Die Pandemie habe als Krise des Typs 2 erhebliche Auswirkungen auf die allgemeine ökonomische Entwicklung im gesamten Bundesgebiet, sodass der Versuch, diese durch die Stimulierung privater Investitionen wiederzubeleben, durchaus der Beseitigung spezifischer Pandemiefolgen diene. Ähnlich wie bei der Finanzkrise, der von staatlicher Seite teilweise mit rein konsumtiven Ausgaben in völlig anderen Wirtschaftsbereichen wie der Automobilwirtschaft begegnet worden sei („Abwrackprämie“), werde man die gesamtgesellschaftlichen Verwerfungen durch die Corona-Pandemie, die praktisch keinen Wirtschaftsbereich verschont hätten, in einer solchen Konstellation nicht zu „mittelbaren“ Folgen erklären können, denen der Haushaltsgesetzgeber nicht im Wege der notlagenbedingten Kreditaufnahme begegnen könne.

73

Dieser Einschätzung einer final auf die Beseitigung der Folgen der Corona-Pandemie gerichteten Maßnahme stehe nicht entgegen, dass die zugeführten Mittel kassenwirksam erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgezahlt würden, in dem eine erweiterte Kreditaufnahme nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG gegebenenfalls nicht mehr möglich wäre. Dies folge zum einen aus den Besonderheiten der Corona-Pandemie als einer Krise des Typs 2 sowie zum anderen daraus, dass die Bundesregierung bereits gegenwärtig notwendige und in der Zukunft zu Auszahlungen führende Verpflichtungen gegenüber Dritten nur mit einer entsprechenden finanziellen Unterlegung eingehen könne. Die erteilten Kreditermächtigungen verblieben nicht jahrelang „ungenutzt“ im EKF, wie dies bei gewöhnlichen Rücklagen der Fall sei. Sie seien vielmehr die schon jetzt notwendige Grundlage für das Eingehen von Verpflichtungen und damit für die verbindlichen, zum Teil mehrjährigen Zusagen gegenüber Dritten zur Anregung der zur Pandemiebewältigung erforderlichen privaten Investitionen. Jedenfalls sei zur Überwindung der weltweiten Corona-Pandemie, die bereits über zwei Jahre andauere und deren Ende aufgrund steter Mutationen weiterhin nicht konkret absehbar sei, eine länger dauernde Kreditfinanzierungsoption von Ausgaben zulässig.

74

bb) Die durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 eingeräumten Kreditermächtigungen seien – hilfsweise – auch erforderlich und angemessen. Hierbei sei nur eine Vertretbarkeitskontrolle durchzuführen.

75

(1) Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 sei erforderlich, weil die ökonomischen Auswirkungen der Krise ohne seine Maßnahmen, also unter alleiniger Inanspruchnahme der sonstigen haushaltsrechtlichen Möglichkeiten, bei Anspannung aller Konsolidierungskräfte nicht ebenso effektiv bewältigt werden könnten. Der Gesetzgeber habe in der Begründung ausdrücklich dargelegt, dass die Zuweisung an den EKF zur Überwindung der pandemiebedingten Notsituation erforderlich sei. Die Zuführung an den Fonds sei notwendig, damit in der anhaltenden pandemischen Notsituation Planungssicherheit für die Folgejahre bestehe und zusätzliche private Investitionstätigkeit angeregt werde.

76

(2) Die notlagenbedingte Kreditaufnahme und kreditfinanzierten Maßnahmen zur Notlagenbewältigung stünden angesichts der Schwere der durch die Pandemie ausgelösten Krise auch in einem angemessenen Verhältnis zum Ausmaß der Notlage. Die unvermeidliche vorübergehende Erhöhung des Schuldenstands korrespondiere mit den positiven finanziellen Wirkungen einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Tilgungspflicht, die die Rückführung der zusätzlichen Kreditaufnahme in einem angemessenen Zeitraum sicherstelle.

77

2. Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 sei auch im Übrigen mit dem Grundgesetz vereinbar und verstoße insbesondere nicht gegen sonstige verfassungsrechtlich fundierte Haushaltsvorgaben und -grundsätze.

78

a) Der in Art. 110 Abs. 2 GG wurzelnde Haushaltsgrundsatz der Jährlichkeit verlange nach § 11 Bundeshaushaltsordnung (BHO) die Aufstellung eines Haushaltsplans (nicht eines Haushaltsgesetzes) für jedes Haushaltsjahr. Im Grundsatz träten damit auch die Ermächtigungen des Haushaltsplans mit Ende des Haushaltsjahres automatisch außer Kraft (Grundsatz der zeitlichen Spezialität). Mit der Nutzung der bisher nicht in Anspruch genommenen Kreditermächtigungen für die Zuweisung der zusätzlichen Mittel an die Rücklage im EKF solle die Möglichkeit eröffnet werden, die korrespondierenden Ausgaben erst zu einem späteren Zeitpunkt kassenwirksam zu tätigen. Das könne für einen Konflikt mit dem Grundsatz der Jährlichkeit sprechen. Dieser Grundsatz beanspruche jedoch keine absolute Geltung, sondern lasse Ausnahmen zu. Solche Ausnahmen sehe die Bundeshaushaltsordnung etwa in § 19 BHO ausdrücklich vor. So könnten insbesondere Kreditermächtigungen über das Haushaltsjahr hinaus gelten (§ 18 Abs. 3 BHO). Zudem könne das Haushaltsgesetz bestimmen, dass Ermächtigungen zur Kreditaufnahme erst zu einem späteren Zeitpunkt außer Kraft träten (Art. 110 Abs. 4 Satz 2 GG). Zu den zulässigen Ausnahmen vom Jährlichkeitsprinzip zähle ebenfalls die Möglichkeit, Rücklagen und Sondervermögen zu bilden und diese in Anspruch zu nehmen. Beide Instrumente seien haushaltsrechtlich zulässig und durch den Haushaltsgesetzgeber gebilligt. Sie seien sowohl in der Bundeshaushaltsordnung abstrakt vorgesehen als auch durch den jeweiligen Haushaltsgesetzgeber konkret im Haushaltsgesetz (vgl. § 1 Abs. 2 und 3 Haushaltsgesetz 2021), in den Titeln im Bundeshaushalt zur Etatisierung der Zuführungen und Entnahmen sowie in den im Haushaltsplan zum Bundeshaushalt als Anlage beigefügten Wirtschaftsplänen rechtlich verankert.

79

b) Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 sei nicht verspätet verabschiedet worden. Nach § 33 Satz 2 BHO sei der Entwurf eines Nachtragshaushaltsgesetzes bis zum Ende des jeweiligen Haushaltsjahres im Bundestag einzubringen. Das sei hier am 13. Dezember 2021 geschehen. Soweit in der Literatur teilweise vertreten werde, dass darüber hinaus auch eine verfassungsrechtliche Pflicht bestehe, den Nachtragshaushalt im laufenden Haushaltsjahr zu verabschieden, vermöge dies nicht zu überzeugen. Das Bundesverfassungsgericht habe die Frage, ob aus der Verfassung ein Gebot rechtzeitiger Feststellung eines Nachtragshaushalts folge, bisher nicht entschieden, sondern ausdrücklich offengelassen (unter Verweis auf BVerfGE 119, 96 <123>). Es habe diesbezüglich zu Recht betont, dass es weniger auf einen konkreten Zeitpunkt als vielmehr auf die Achtung der Verfassungsorgantreue ankomme.

80

Darüber hinaus rechtfertigten drei Gründe eine späte Einbringung und Verabschiedung: Erstens sei eine frühere Einbringung schon deshalb nicht möglich gewesen, weil die neue Bundesregierung ihr Amt erst zum 8. Dezember 2021 angetreten habe. Zweitens sei die Ausarbeitung des Haushalts mitten in einer Pandemiesituation erfolgt. Drittens spreche für die Einbringung gerade als Nachtragshaushalt der Umstand, dass es der Bundesregierung um eine umgehende Bekämpfung der Pandemiefolgen und das umgehende Aktivieren der notwendigen privaten Investitionen durch Gewährleistung der erforderlichen Planungssicherheit gegangen sei. Eine Zuweisung erst im Haushalt des Jahres 2022 hätte eine mehrmonatige Verzögerung nach sich gezogen.

81

c) Auch die Finanzierung von Ausgaben im EKF durch Kreditermächtigungen begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der EKF genüge den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die Höhe der Kreditermächtigungen ergebe sich aus den zur vollständigen Überwindung der Krise erforderlichen Finanzmitteln. Vor dem Hintergrund der Besonderheiten der Corona-Pandemie als einer Krise des Typs 2 und des Ziels, Planungssicherheit für private Investitionen zu gewährleisten, sei auch die über das Haushaltsjahr hinausreichende Finanzierungsermächtigung gerechtfertigt.

82

d) Die (rückwirkende) Einführung einer neuen Buchungspraxis im Hinblick auf die Behandlung von Kreditermächtigungen unselbständiger Sondervermögen ohne eigene Kreditermächtigung erweise sich ebenfalls als verfassungsgemäß. Im Haushaltsjahr 2021 sei die bisherige Buchungspraxis zur Berücksichtigung der unechten Sondervermögen im Rahmen der Schuldenregel umgestellt worden. Es seien seitdem nicht mehr wie bisher die jeweiligen Finanzierungssalden der Sondervermögen und damit die Mittelabflüsse aus den befüllten Sondervermögen, sondern bereits die Zuführungen des Bundes an die Sondervermögen wirksam für die strukturelle Nettokreditaufnahme im Rahmen der Schuldenregel. Dies führe dazu, dass sich der Zeitpunkt der Berücksichtigung für die Schuldenregel auf den Zeitpunkt der Zuführung (vor-)verschiebe. Die bisherige Buchungspraxis bei den Sondervermögen habe sich an den kassenmäßigen Zahlungsströmen und am Finanzierungssaldo orientiert. Dabei habe ein Überschuss eines Sondervermögens aus einer kreditfinanzierten Zuweisung vom Kernhaushalt die Nettokreditaufnahme des Kernhaushalts ausgeglichen. Somit habe im Ergebnis zum Zeitpunkt der Befüllung des Sondervermögens eine Nettokreditaufnahme von Null beim Bund einschließlich Sondervermögen bestanden. Wenn in Folge von Mittelabflüssen bei einem unechten Sondervermögen ein Finanzierungsdefizit entstanden sei, sei eine Nettokreditaufnahme gebucht worden. Hierfür seien im Rahmen der bisherigen Haushaltsaufstellungen Schätzungen zu den Finanzierungssalden der Sondervermögen vorgenommen worden, die sich im Nachhinein oft als falsch herausgestellt hätten.

83

Gemäß der neuen Buchungspraxis werde nunmehr bereits die Befüllung des Sondervermögens als Nettokreditaufnahme im Sinne der Schuldenbremse gewertet. Wenn das Sondervermögen Mittel ausgebe, würden diese entsprechend der Systematik beim Kernhaushalt durch Entnahme aus der Rücklage finanziert und werde somit eine Wirkung auf die Nettokreditaufnahme vermieden. Damit werde auch das Problem gelöst, dass in der Vergangenheit bei Sondervermögen eine „Nettokreditaufnahme“ gebucht worden sei, obwohl diese gar keine Kreditermächtigungen gehabt hätten. Die Neuregelung der Buchungspraxis führe damit zu einer Erhöhung der Transparenz und beseitige wenig überzeugende systematische Inkonsistenzen. Für die vorgenommene Änderung der bisherigen Buchungspraxis spreche darüber hinaus, dass sie eine Anpassung an die schon bisher praktizierte Buchungssystematik der Länder im Rahmen der Prüfung der Einhaltung der Schuldenbremse im Stabilitätsrat bedeute, die im Kompendium des Stabilitätsrats zur Überwachung der Einhaltung der Schuldenbremse nach Art. 109a Abs. 2 GG aus dem Jahr 2018 festgelegt sei.

IV.

84

Die Antragstellerinnen und Antragsteller hatten das mit Schriftsatz vom 18. März 2022 eingeleitete Normenkontrollverfahren mit dem Antrag verbunden,

im Wege der einstweiligen Anordnung zu regeln, dass die durch Artikel 1 und Artikel 2 des Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 (Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021) vom 18. Februar 2022 (BGBl. I 2022, S. 194) erhöhte Rücklage des Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nur in Anspruch genommen werden darf, wenn und soweit der Deutsche Bundestag entsprechende Ausgaben zur Finanzierung einer Zuführung zum Sondervermögen im Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2022 beschließt.

85

Der Senat hat diesen Antrag mit Beschluss vom 22. November 2022 abgelehnt. Der Antrag sei in der Hauptsache zwar weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die anzustellende Folgenabwägung ergebe jedoch, dass die Nachteile, die sich aus dem Erlass der einstweiligen Anordnung ergäben, die Nachteile deutlich überwögen, die bei einer Ablehnung des Antrags zu besorgen seien (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 22. November 2022 – 2 BvF 1/22 -, Rn. 217 ff. – Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021 – e.A.).

V.

86

Die Beteiligten haben ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung am 21. Juni 2023 vertieft und ergänzt. Als sachkundige Dritte im Sinne von § 27a BVerfGG sind Herr Prof. Dr. Thiess Büttner, Vorsitzender des Unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats, Universität Erlangen-Nürnberg, Prof. Dr. Jens Südekum, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für wirtschaft und Klimaschutz, Universität Düsseldorf, der Vertreter des Bundesrechnungshofs Ministerialrat Dr. Jan Keller und Prof. Dr. Henning Tappe, Universität Trier, angehört worden.

B.

87

Der Antrag auf abstrakte Normenkontrolle ist zulässig. Die Antragstellerinnen und Antragsteller sind antragsbefugt (I.), der Antrag ist auf einen tauglichen Gegenstand gerichtet (II.), ein objektives Klarstellungsinteresse liegt vor (III.).

I.

88

Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG in Verbindung mit § 13 Nr. 6 und § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG kann ein Viertel der Mitglieder des Bundestages einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle stellen, wenn es Bundes- oder Landesrecht wegen seiner förmlichen oder sachlichen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz für nichtig hält. Für die Berechnung des Quorums ist – in Anknüpfung an Art. 121 GG – die sich aus § 1 Abs. 1 Satz 1 Bundeswahlgesetz (BWahlG) ergebende gesetzliche Mitgliederzahl des Deutschen Bundestages zum Zeitpunkt der Antragstellung maßgebend (vgl. BVerfGE 157, 223 <248 f.> – Berliner Mietendeckel; Graßhof, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl. 2022, § 76 Rn. 13; Rozek, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 76 Rn. 11 <Juli 2021>).

89

Die 197 Antragstellerinnen und Antragsteller repräsentieren mehr als ein Viertel der insgesamt 736 Mitglieder des 20. Deutschen Bundestages. Sie werden durch dieselben Bevollmächtigten vertreten und haben denselben Sachantrag gestellt.

II.

90

Mit Artikel 1 und Artikel 2 des Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 vom 18. Februar 2022 liegt ein tauglicher Antragsgegenstand vor.

91

Tauglicher Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG Bundes- oder Landesrecht. Die Regelungen des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes machen hierbei keinerlei Einschränkungen, etwa hinsichtlich des Ranges, des Zeitpunkts des Entstehens (vgl. BVerfGE 2, 124 <131>; 24, 174 <179 f.>; 103, 111 <124>) oder des Inhalts (vgl. BVerfGE 1, 396 <410>; 2, 307 <312 f.>; 20, 56 <91 ff.>; 79, 311 <326>; 119, 96 <117 f.>) der zur Prüfung gestellten Norm. Entscheidend ist allein, dass das zur Prüfung Gestellte seiner äußeren Form nach einen schon existenten (vgl. BVerfGE 1, 396 <405 ff.>; 10, 20 <54>) und noch Rechtswirkungen entfaltenden (vgl. BVerfGE 5, 25 <28>; 20, 56 <93 f.>; 79, 311 <326 ff.>; 97, 198 <213 f.>; 100, 249 <257>; 110, 33 <45>; 119, 394 <410>; 127, 293 <319>) Rechtssatz darstellt (vgl. BVerfGE 2, 307 <312>; 20, 56 <90>).

92

Eine abstrakte Normenkontrolle ist auch gegen ein Haushaltsgesetz zulässig (vgl. BVerfGE 20, 56 <89 ff.>; 79, 311 <326>; 119, 96 <117>). Zwar entfaltet dieses nach Abschluss des Haushaltsjahres grundsätzlich keine Rechtswirkungen mehr, da es regelmäßig (nur) zu Ausgaben im laufenden Haushaltsjahr ermächtigt (vgl. § 3 HGrG, § 3 BHO). Es hat aber jedenfalls so lange Bedeutung, bis im Laufe des nachfolgenden Rechnungsjahres – hier im Jahr 2022, in dem auch der Antrag auf abstrakte Normenkontrolle gestellt worden ist – die Entlastung im Sinne des Art. 114 GG abgeschlossen ist (vgl. BVerfGE 20, 56 <93 f.>). Vorliegend wurde der entsprechende Prüfbericht des Bundesrechnungshofs (vgl. BTDrucks 20/4880, S. 11 f.) dem Bundestag gemäß § 97 Abs. 1 BHO am 6. Dezember 2022 zugeleitet. Der Antrag im Normenkontrollverfahren ist bereits mit Schriftsatz vom 18. März 2022 gestellt worden. Ist der Antrag jedoch einmal zulässig erhoben, bleibt er – aufgrund des objektiven Charakters des Verfahrens – zulässig, auch wenn die Entscheidung erst zu einem Zeitpunkt ergeht, zu dem von dem Haushaltsgesetz keine Rechtswirkungen mehr ausgehen (vgl. BVerfGE 79, 311 <328>; 119, 96 <116 f.>; Tappe/Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2. Aufl. 2019, Rn. 772). Auf die Frage, ob von Artikel 1 und Artikel 2 des Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 vom 18. Februar 2022 auch deshalb noch Rechtswirkungen ausgehen, weil mit diesen Vorschriften die entsprechenden Kreditermächtigungen für eine Zuführung an ein Sondervermögen genutzt und damit dem Verfall gemäß § 18 Abs. 3 BHO entzogen worden sind, kommt es mithin nicht an.

III.

93

Die Antragstellerinnen und Antragsteller bringen vor, dass Artikel 1 und Artikel 2 des Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 mit Art. 109 Abs. 3, Art. 110 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 sowie Art. 115 Abs. 2 GG unvereinbar seien.

94

Damit ist das für eine abstrakte Normenkontrolle notwendige objektive Klarstellungsinteresse (vgl. BVerfGE 6, 104 <110>; 52, 63 <80>; 88, 203 <334>; 96, 133 <137>; 100, 249 <257>; 101, 1 <30>; 103, 111 <124>; 106, 244 <250>; 108, 169 <178>; 110, 33 <44 f.>; 113, 167 <193>; 119, 394 <409>; 127, 293 <319>; 128, 1 <32>; 157, 223 <249 Rn. 66>) an der Gültigkeit der Norm im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG zu bejahen. Es ist indiziert, wenn ein auf das Grundgesetz in besonderer Weise verpflichtetes Organ oder ein Organteil von der Unvereinbarkeit der Norm mit höherrangigem Bundesrecht überzeugt ist und eine diesbezügliche Feststellung beim Bundesverfassungsgericht beantragt (vgl. BVerfGE 6, 104 <110>; 39, 96 <106>; 52, 63 <80>; 96, 133 <137>; 103, 111 <124>; 119, 394 <409>; 127, 293 <319>; 150, 1 <77 f. Rn. 138>; 157, 223 <249 Rn. 66>). Es entfällt lediglich, wenn von der zur Prüfung gestellten Norm unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr Rechtswirkungen ausgehen können (vgl. BVerfGE 97, 198 <213 f.>; 100, 249 <257>; 110, 33 <45>; 133, 241 <259 Rn. 45>; 150, 1 <77 f. Rn. 138>; 151, 152 <161 f. Rn. 27> – Wahlrechtsausschluss Europawahl – Eilantrag; 157, 223 <249 Rn. 66>), was hier zu verneinen ist (vgl. Rn. 208). Eines subjektiven allgemeinen Rechtsschutzinteresses bedarf es dagegen nicht (vgl. BVerfGE 103, 111 <124>).

C.

95

Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 entspricht nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die notlagenbedingte Kreditaufnahme aus Art. 109 Abs. 3 Satz 1 und 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 1 und 6 GG (I.). Daneben verstößt es im Hinblick auf den Zeitpunkt seines Erlasses gegen Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG (II.). Auf einen möglichen Verstoß gegen die Grundsätze der Haushaltsklarheit und -wahrheit gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG kommt es demnach nicht mehr an (III.).

I.

96

1. Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG sieht in Konkretisierung des – an Bund und Länder gerichteten – grundsätzlichen Verbots der strukturellen Neuverschuldung aus Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG („Schuldenbremse“) vor, dass im Rahmen der Haushaltswirtschaft des Bundes Einnahmen und Ausgaben grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Nach Art. 109 Abs. 3 Satz 4, Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG ist diesem Gebot für den Bund Genüge getan, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten.

97

Hinzu tritt nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG eine sogenannte „Konjunkturkomponente“ (vgl. zu diesem Begriff § 2 Abs. 2, § 5 des G 115), wonach bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch berücksichtigt werden können. Die Einzelheiten der Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung regelt nach Art. 115 Abs. 2 Satz 5 GG ein Bundesgesetz (vgl. § 2 Abs. 2, § 5 G 115).

98

Der hier im Zentrum stehende Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG gibt dem Bundestag das Recht zu beschließen, dass die sich aus den dargestellten Maßgaben ergebenden Kreditobergrenzen im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, überschritten werden dürfen. Dabei handelt es sich um eine abschließende Ausnahmeregelung (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11; Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 109 Rn. 37; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 109 Rn. 144; Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 39).

99

Neben den geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 bis 8 GG (a) ist ein Veranlassungszusammenhang zwischen der Notsituation und der Überschreitung der Kreditobergrenzen erforderlich (b). Weiter sind bei der notlagenbedingten Kreditaufnahme die Prinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit zu beachten, welche auch der Schuldenbremse zugrunde liegen (c).

100

a) Art. 115 Abs. 2 Satz 6 bis 8 GG formuliert formelle (aa) und materielle (bb) Voraussetzungen für die Überschreitung der Kreditobergrenze bei Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen, deren Einhaltung einer abgestuften verfassungsgerichtlichen Überprüfungsdichte unterliegt (cc).

101

aa) In formeller Hinsicht verlangt Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG für die Überschreitung der Kreditobergrenze bei Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen einen Beschluss der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gemäß Art. 121 GG. In dem qualifizierten Mehrheitserfordernis kommt die Tragweite der parlamentarischen Entscheidung, eine Ausnahme von der Schuldenbremse zu beschließen, zum Ausdruck. Ob der Bundestag den Beschluss nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG in Gestalt eines Gesetzesbeschlusses oder eines schlichten Parlamentsbeschlusses fasst, ist ihm anheimgestellt (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 13; vgl. auch Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 109 Rn. 208 <Mai 2011>; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, S. 376).

102

bb) In materieller Hinsicht setzt Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG eine Naturkatastrophe oder eine außergewöhnliche Notsituation voraus (1), die sich der Kontrolle des Staates entzieht (2) und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt (3). Zudem verlangt Art. 115 Abs. 2 Satz 7 und 8 GG einen Tilgungsplan zur Kreditrückführung in einem angemessenen Zeitraum (4).

103

(1) Der Anlass für die Ausnahme von der regelmäßigen Kreditobergrenze muss in einer Naturkatastrophe oder einer außergewöhnlichen Notsituation liegen. Das Begriffsverständnis von einer „Naturkatastrophe“ im Sinne von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG kann im Wesentlichen an die Auffassungen anknüpfen, die sich zu Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG entwickelt haben (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11, 13; vgl. auch Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 43). Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG setzt den verfassungsrechtlichen Rahmen für die bundesstaatliche Hilfe zwischen Bund und Ländern oder unter Ländern „bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall“. Der Begriff der „Naturkatastrophe“ bezeichnet dabei unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse ausgelöst werden, wie etwa Erdbeben, Hochwasser, Unwetter, Dürre oder Massenerkrankungen (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11, 13; vgl. auch Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 44).

104

Demgegenüber ist der Begriff der „außergewöhnlichen Notsituation“ im Sinne von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG abweichend von dem Tatbestandsmerkmal des „besonders schweren Unglücksfalls“ aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG zu bestimmen. Unter Letzterem wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Schadensereignis von großem Ausmaß verstanden, das – wie ein schweres Flugzeug- oder Eisenbahnunglück, ein Stromausfall mit Auswirkungen auf lebenswichtige Bereiche der Daseinsvorsorge oder ein Unfall in einem Kernkraftwerk – wegen seiner Bedeutung in besonderer Weise die Öffentlichkeit berührt und auf menschliches Fehlverhalten oder technische Unzulänglichkeiten zurückgeht (BVerfGE 115, 118 <143>).

105

Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat im Jahr 2009 bei der Schaffung der geltenden Fassung von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG darauf verzichtet, neben dem Begriff der „Naturkatastrophe“ auch denjenigen des „besonders schweren Unglücksfalls“ aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG als Tatbestandsmerkmal der Ausnahmevorschrift zum grundsätzlichen Verbot struktureller Neuverschuldung aufzugreifen. Der stattdessen verwendete Begriff der „außergewöhnlichen Notsituation“ ist im Kontext des Staatsschuldenrechts haushaltsrechtsspezifisch zu interpretieren und daher nicht auf die Anwendungsfälle eines „besonders schweren Unglücksfalls“ beschränkt, wenngleich er bei haushaltswirtschaftlicher Relevanz auch diesen umfassen kann.

106

Im Hinblick auf Sinn und Zweck von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG, die haushalts- und finanzpolitische Handlungsfähigkeit des Staates zur Krisenbewältigung zu gewährleisten (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11), sind unter einer „außergewöhnlichen Notsituation“ auch außergewöhnliche Störungen der Wirtschafts- und Finanzlage zu fassen. Dieses Begriffsverständnis entspricht demjenigen der Fraktionen im Deutschen Bundestag, welche den Gesetzentwurf für die Änderung von Art. 109, Art. 115 GG in den verfassungsändernden prozess eingebracht haben. Danach soll eine „außergewöhnliche Notsituation“ auch bei einer plötzlichen Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe in einem extremen Ausmaß aufgrund eines „exogenen Schocks“ vorliegen, falls deshalb aus Gründen des Gemeinwohls aktive Stützungsmaßnahmen des Staates zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Wirtschaftsabläufe geboten sind (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11). Daneben soll ein „Ereignis von positiver historischer Tragweite“ wie die deutsche Wiedervereinigung, das einen erheblichen Finanzbedarf auslöst, einen Anwendungsfall von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG bilden (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11).

107

Durch das Attribut der Außergewöhnlichkeit der Notsituation kommt zugleich zum Ausdruck, dass nicht jede Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe der Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG unterfällt. Insbesondere sind Beeinträchtigungen der Finanz- und Wirtschaftslage nicht schon dann ein Anwendungsfall dieser Norm, wenn es sich um bloße Auf- und Abschwungbewegungen eines zyklischen Konjunkturverlaufs handelt (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11). Dem Regelungszusammenhang von Art. 115 Abs. 2 Satz 3, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG lässt sich vielmehr entnehmen, dass solche Entwicklungen abschließend im Rahmen der Konjunkturkomponente des grundsätzlichen Verbots struktureller Neuverschuldung Niederschlag finden sollen und keine weitergehende Durchbrechung desselben rechtfertigen können (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 109 Rn. 150; zustimmend auch Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 45).

108

(2) Die Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation, welche den Anlass für die Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der strukturellen Neuverschuldung geben soll, muss sich nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG der Kontrolle des Staates entziehen.

109

Dieses zusätzliche Merkmal findet eine unionsrechtliche Entsprechung in Art. 122 Abs. 2 AEUV, wonach die Europäische Union einem Mitgliedstaat im Fall von Schwierigkeiten aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, finanziellen Beistand leisten kann (vgl. Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 45). Maßgeblich ist insoweit ein Moment der Unbeherrschbarkeit des Ereignisses, wodurch mittel- oder längerfristige Entwicklungen, etwa eine schleichende Anhäufung von Staatsschulden, ausgeschlossen werden sollen (vgl. Herrmann/Dausinger, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 2017, Art. 122 <AEUV> Rn. 17). Die Folgen von Krisen, die lange absehbar waren oder gar von der öffentlichen Hand verursacht worden sind, dürfen nicht mit Notkrediten finanziert werden (vgl. G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 100).

110

(3) Darüber hinaus muss die Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation gemäß Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG eine „erhebliche Beeinträchtigung“ der staatlichen Finanzlage zur Folge haben. Dieses Tatbestandsmerkmal stellt einen Bezug zwischen dem von der Notlage ausgelösten Finanzbedarf und der staatlichen Haushaltswirtschaft her. Nach dem Verständnis der Fraktionen im Deutschen Bundestag, welche den Gesetzentwurf für die Änderung von Art. 109, Art. 115 GG eingebracht haben, soll sich der relevante Finanzbedarf aus dem Aufwand für die Schadensbeseitigung wie auch aus dem etwaigen Aufwand für vorbeugende Maßnahmen ergeben können (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11; daran anschließend auch Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 109 Rn. 207 <Mai 2011>).

111

(a) Zwischen der Notsituation und dem Neuverschuldungsbedarf muss eine kausale Beziehung bestehen (vgl. Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 109 Rn. 151; Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 115 Rn. 188 <Okt. 2009>; R. Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 51; Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 45). Erforderlich ist, dass die Notsituation ursächlich zu einer Reaktion des Staates führt, die sich in einer erheblichen Weise auf die „Finanzlage“ des Bundes auswirkt und gerade deshalb die Rechtfertigung für eine Neuverschuldung bietet. Der Finanzbedarf, der durch die Reaktion des Staates auf die Naturkatastrophe oder die außergewöhnliche Notlage sowie durch mögliche vorbeugende Maßnahmen entsteht, muss den Gesamthaushalt spürbar belasten (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11; G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 100).

112

(b) Eine Notsituation, die nur „unerhebliche“ Folgen für die Finanzlage des Staates mit sich bringt, kann keine notlagenbedingte Neuverschuldung tragen. In solchen Fällen muss ein plötzlich auftretender Finanzbedarf ohne zusätzliche Kreditaufnahme, beispielsweise durch Haushaltsumschichtungen, Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen, gedeckt werden (vgl. Christ, NVwZ 2009, S. 1333 <1336>). Das Tatbestandsmerkmal der „erheblichen“ Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage stellt damit in allgemeiner Weise auf den Einfluss der äußeren Krise auf die staatlichen Finanzen in ihrer Gesamtheit ab. Weitere Anforderungen ergeben sich aus dem Merkmal der Erheblichkeit nicht (a.A. Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 109 Rn. 151 f.; Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 46).

113

(4) Der Beschluss zur Überschreitung der regulären Verschuldungsgrenzen in Notlagen ist nach Art. 109 Abs. 3 Satz 3 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 7 GG mit einem Tilgungsplan zu verbinden. Hierfür genügt ein einfacher Parlamentsbeschluss. Ein förmlicher Gesetzesbeschluss ist nicht notwendig (a.A. Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 115 Rn. 190 <Okt. 2009>; Reimer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 115 Rn. 47 <Aug. 2023>). Dem steht bereits der Wortlaut des Art. 115 Abs. 2 Satz 7 GG entgegen, wonach der Tilgungsplan mit dem zuvor oder gleichzeitig zu fassenden „Beschluss“ über die Feststellung der Notlage nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG und nicht etwa mit dem Haushaltsgesetz zu verbinden ist. Gegen das Erfordernis eines Tilgungsplans in Form eines Bundesgesetzes im Sinne des Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG spricht zudem die Gesetzesbegründung (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 13). Danach soll die Feststellung einer Notlage nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ausdrücklich auch durch einfachen Parlamentsbeschluss möglich sein. Auch die Verwendung der Begrifflichkeit des (Tilgungs)„Plans“, der im Vergleich zum Begriff der Regelung in Art. 109 Abs. 3 Satz 3 GG („Tilgungsregelung“) lediglich ein gewisses Mindestmaß an Verbindlichkeit anklingen lässt, deutet in diese Richtung (vgl. Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <98>). Richtigerweise folgt die Verbindlichkeit des Tilgungsplans nicht erst aus der rechtlichen Bindungswirkung eines förmlichen Gesetzesbeschlusses, sondern unmittelbar aus der Verfassung, die auch einem einfachen Parlamentsbeschluss Verbindlichkeit zusprechen kann (vgl. Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 44).

114

Materielle Anforderung an den Tilgungsplan ist nach Art. 115 Abs. 2 Satz 8 GG, dass die darin vorgesehene Rückführung der notlagenbedingt aufgenommenen Kredite binnen eines angemessenen Zeitraums zu erfolgen hat. Nach dem Willen der Fraktionen im Deutschen Bundestag, die den Gesetzentwurf für die Änderung von Art. 109, Art. 115 GG eingebracht haben, soll diese Rückführungspflicht dazu beitragen, ein weiteres Anwachsen der Staatsschulden zu verhindern (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 13).

115

cc) Die geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen für die notlagenbedingte Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der strukturellen Neuverschuldung nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG sind grundsätzlich verfassungsgerichtlich voll überprüfbar (1). Einschränkungen der Überprüfungsdichte gelten allerdings für das Erfordernis einer erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage (2) und für die Ausgestaltung der Rückführung der aufgenommenen Kredite binnen eines angemessenen Zeitraums (3).

116

(1) Ob eine Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation vorliegt, die sich der Kontrolle des Staates entzieht, unterliegt vollumfänglicher verfassungsgerichtlicher Prüfung. Durchgreifende Gründe für eine Einschränkung der Justiziabilität dieser Voraussetzungen sind nicht ersichtlich. Obschon die denkbaren Anwendungsfälle von Naturkatastrophen und Notsituationen äußerst vielfältig sind, handelt es sich um Rechtsbegriffe, deren Auslegung und Anwendung nach den oben dargestellten Maßstäben gerichtlicher Kontrolle zugänglich sind (vgl. Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 109 Rn. 235 <Mai 2011>; G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 98; vgl. im Wesentlichen auch Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 43).

117

(a) Eine Einschränkung der Prüfungsdichte des Bundesverfassungsgerichts lässt sich nicht daraus herleiten, dass Auslegung und Anwendung von Normen des Haushaltsverfassungsrechts in Rede stehen. Wie bei den Vorschriften des bundesstaatlichen Finanzverfassungsrechts handelt es sich bei dem Haushaltsverfassungsrecht und insbesondere bei dem Staatsschuldenrecht nicht um „minder verbindlich[e] Regelungen“ im Sinne von „soft law“ (vgl. zur bundesstaatlichen Finanzverfassung BVerfGE 72, 330 <388>) oder um „Normen minderer Geltungskraft“ (vgl. Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, S. 388).

118

(b) Die Annahme der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit dieser Tatbestandsmerkmale wird durch die Entstehungsgeschichte von Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG gestützt. Die bis zur Einfügung dieser Vorschriften im Wege der Verfassungsänderung im Jahr 2009 (vgl. Art. 1 Nr. 4 und 6 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes <Artikel 91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d> vom 29. Juli 2009, BGBl I S. 2248) bestehende Verfassungsrechtslage zur Zulässigkeit von Krediteinnahmen durch den Bund war nach der Rechtsprechung des Zweiten Senats durch einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers und eine erhebliche Einschränkung der verfassungsgerichtlichen Prüfungsdichte auf eine Kontrolle der Nachvollziehbarkeit und Vertretbarkeit der Darlegungen des Gesetzgebers gekennzeichnet. Daran ist nach der Neuregelung von Art. 109, Art. 115 GG nicht festzuhalten.

119

(aa) Nach Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG a.F. durften die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten. Ausnahmen waren nur zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zulässig. Dabei führen die konkreten Anwendungsvoraussetzungen des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG a.F. zu einer verfassungsgerichtlich nur begrenzt kontrollierbaren Abwägung. Nur wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört war oder eine solche Störung unmittelbar drohte, durfte von der Ausnahmevorschrift Gebrauch gemacht werden. Dem Haushaltsgesetzgeber stand bei der Prüfung, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorlag oder unmittelbar drohte, ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Damit korrespondierte eine Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren. Dem Bundesverfassungsgericht oblag im Streitfall die Prüfung, ob die im Gesetzgebungsverfahren dargelegte Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar war (vgl. BVerfGE 79, 311 <343>; 119, 96 <140 f.>).

120

(bb) Diese Einschränkung der gerichtlichen Prüfungsdichte bei der Überprüfung der Einhaltung der Vorgaben des Staatsschuldenrechts alter Fassung blieb nicht ohne Kritik. Sie verwies darauf, dass die Begrenzungen der Kreditaufnahme gerade auch mangels Justiziabilität ineffektiv seien (vgl. das Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff, BVerfGE 119, 155 <162 f.>). Der Zweite Senat führte in der zitierten Entscheidung aus, dass sich die von ihm insoweit anzuwendenden Vorschriften des Staatsschuldenrechts in der Vergangenheit als nicht hinreichend steuerungskräftig erwiesen hätten (vgl. BVerfGE 119, 96 <142 f., 146>). Die Schaffung ausreichend konkreter Direktiven zur sachgerechten Begrenzung der Staatsverschuldung sei allerdings nicht dem Bundesverfassungsgericht aufgegeben, sondern dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten (vgl. BVerfGE 119, 96 <143>).

121

(cc) Die Verfassungsänderung des Jahres 2009 schuf neben dem grundsätzlichen Verbot struktureller Neuverschuldung in Art. 109 Abs. 3 Satz 1, Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG n.F. auch Vorgaben für die Zulässigkeit von Überschreitungen der regulären Grenzen für die Kreditaufnahme des Bundes in außergewöhnlichen Notsituationen in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG n.F. Soweit der notlagenbezogene Ausnahmetatbestand nunmehr auf einen „Fall von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“, abstellt, enthält er Voraussetzungen, welche einer gerichtlichen Überprüfung – gegenüber dem Tatbestandsmerkmal „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ nach der alten Rechtslage – besser zugänglich sind (vgl. Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 109 Rn. 235 <Mai 2011>; Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 43; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, S. 389). Insoweit korrespondiert mit dem grundlegenden Anliegen des verfassungsändernden Gesetzgebers, die Grenzen für die Kreditaufnahme des Bundes enger und handhabbarer zu fassen, eine erhöhte verfassungsgerichtliche Kontrolldichte (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 7: „Die Ausnahmeregel wird deutlich enger gefasst“; vgl. auch Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 48: „Verrechtlichung“; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, S. 389).

122

(2) Das in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG weiter vorgesehene Erfordernis einer „erheblichen Beeinträchtigung“ der staatlichen Finanzlage ist demgegenüber nur eingeschränkt verfassungsgerichtlich kontrollierbar. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht zu prüfen, ob die außergewöhnliche Notsituation zu einem außerordentlich – also nicht nur unerheblich – erhöhten Finanzbedarf geführt hat und damit grundsätzlich geeignet war, die staatliche Finanzlage erheblich zu beeinträchtigen. Für die Frage, ab welcher konkreten Höhe des finanziellen Mehrbedarfs eine erhebliche Beeinträchtigung der Finanzlage vorliegt, kommt dem Gesetzgeber aber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu (vgl. – bezogen auf „die Höhe des Bedarfs“ – Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 46).

123

(3) Die Ausgestaltung der Rückführung der aufgenommenen Kredite binnen eines angemessenen Zeitraums gemäß Art. 109 Abs. 3 Satz 3, Art. 115 Abs. 2 Satz 8 GG unterliegt gleichfalls einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit. Hinsichtlich der Angemessenheit des Rückführungszeitraums steht dem Gesetzgeber insoweit ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu (vgl. Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Kommentar, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 56; G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 101; Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 48). Zur Beurteilung, welcher Zeitraum als angemessen für die Rückführung anzusehen ist, ist das Parlament aufgerufen; es hat darüber bei der Aufstellung des Tilgungsplans in Ansehung der Größenordnung der erhöhten Kreditaufnahme sowie der konkreten konjunkturellen Situation zu entscheiden (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 13).

124

b) Sind die geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, „können diese Kreditobergrenzen […] überschritten werden“ (Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG). Dem Wortlaut der Vorschrift ist – jedenfalls unmittelbar – keine quantitative oder qualitative, absolute oder relative Grenze der zulässigen Neuverschuldung zu entnehmen (vgl. Gröpl, NJW 2020, S. 2523 <2525>; Korioth, JZ 2009, S. 729 <733> „exzeptionelle Verschuldungsmöglichkeit“).

125

Über den Wortlaut hinaus ist jedoch ein sachlicher Veranlassungszusammenhang zwischen der Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation und der Überschreitung der Kreditobergrenzen erforderlich (aa), bei dessen Beurteilung dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zukommt (bb). Eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der notlagenbedingten Kreditaufnahme scheidet indes aus (cc), insbesondere eine Überprüfung von deren Erforderlichkeit und Angemessenheit (dd). Allerdings ergeben sich Darlegungslasten des Gesetzgebers, um eine verfassungsrechtliche Überprüfung der Nachvollziehbarkeit und Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Entscheidungen über die Kreditaufnahme zu ermöglichen (ee).

126

aa) Bereits nach dem geschriebenen Tatbestand des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ist zu prüfen, ob gerade die Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, ob also eine Kausalbeziehung zwischen der Notlage, dem erhöhten Finanzbedarf und der Störung der Lage der staatlichen Finanzen besteht.

127

Die verfassungsgemäßheit der Überschreitung der Kreditobergrenzen ist jedoch weitergehend davon abhängig, dass die konkreten Verschuldungsermächtigungen in einem sachlichen Veranlassungszusammenhang mit der Notsituation stehen (vgl. Gröpl, NJW 2020, S. 2523 <2525> „notlagenspezifisches Konnexitätsprinzip“; Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <100 f.>). Während das Tatbestandsmerkmal der erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage in allgemeiner Weise auf den Einfluss der äußeren Krise auf die staatlichen Finanzen abstellt, verlangt das Erfordernis des sachlichen Veranlassungszusammenhangs einen konkreten Bezug zu den außerregulären Kreditermächtigungen und fragt inhaltlich danach, ob diese – auch der Höhe nach – gerade auf die Notlage als Anlass rückführbar sind.

128

(1) Dieses zusätzliche Erfordernis eines Veranlassungszusammenhangs findet keine ausdrückliche Stütze im Wortlaut von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG. Gleichwohl lässt sich insoweit an die Präposition „für“ („Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen“) in Art. 109 Abs. 3 Satz 2 GG anknüpfen. Hinzu kommt, dass Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG die notlagenbedingte Überschreitung der Kreditobergrenze ausdrücklich nur „im Falle“ der Notsituation zulässt.

129

(2) Das Erfordernis eines Veranlassungszusammenhangs ergibt sich zudem im Wege der Auslegung von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG unter Berücksichtigung von dessen Regelungsumfeld. Der Systematik der Art. 109, 115 GG lässt sich das allgemeine Verbot der strukturellen Neuverschuldung gemäß Art. 109 Abs. 3 Satz 1, Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG als Grundsatz und im Falle außergewöhnlicher Notlagen nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG eine tatbestandlich klar konturierte Ausnahme entnehmen (vgl. Gröpl, NJW 2020, S. 2523 <2525>), welche eine gewichtige Grundentscheidung des Haushaltsverfassungsrechts durchbricht. Daraus folgt, dass – selbst wenn die geschriebenen Voraussetzungen von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vorliegen – eine grenzen- und maßstabslose Kreditaufnahme verfassungsrechtlich nicht zulässig ist. Es bestehen zwar keine absoluten betragsmäßigen Grenzen der Kreditaufnahme, wohl aber relative sachliche Grenzen (vgl. Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 38; Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <99 f.>). Um den Charakter von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG als notlagenspezifische Ausnahmevorschrift zu wahren, muss die Kreditaufnahme im Einzelnen sachlich gerade auf die konkrete Notsituation und den Willen des Gesetzgebers, diese zu bewältigen, rückführbar sein (vgl. Gröpl, NJW 2020, S. 2523 <2525>).

130

(a) Ausgangspunkt dieser Begrenzung ist die parlamentarische Feststellung (Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG), welche die Kreditüberschreitung mit den Kosten der zur Bewältigung der außerordentlichen Notlage notwendigen Maßnahmen verknüpft. Zugleich definiert diese Feststellung diejenige Notlage, die aus Sicht des Bundestages die Handlungsfähigkeit des Staates herausfordert und als Krise bewältigt werden muss. Mit der genauen Bezeichnung der Notlage wird, wie die Antragsteller zutreffend formulieren, für die Öffentlichkeit die „Identität des geschichtlichen Vorgangs“ klargestellt und zugleich in transparenter Weise verdeutlicht, zur Bewältigung welcher Krise von der Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht wird. Aus dem Beschluss des Bundestages folgt damit eine Umgrenzungsfunktion, die der demokratischen Öffentlichkeit eine Kontrolle ermöglicht.

131

(b) Zudem führt der Beschluss dem Haushaltsgesetzgeber den Ausnahmecharakter der Überschreitung der Kreditobergrenzen vor Augen und veranlasst ihn damit, sowohl die Feststellung der Notlage als auch die Überschreitung der Kreditobergrenzen im Blick zu behalten und mit besonderer Sorgfalt zu prüfen. An der mit dieser Regelungssystematik eingerichteten „Warnfunktion“ wird nicht zuletzt der hohe Stellenwert erkennbar, der einer grundsätzlichen Einhaltung der Kreditobergrenze aus Sicht des verfassungsändernden Gesetzgebers zukommt (vgl. BVerfGE 132, 195 <245 Rn. 120>).

132

(3) Bereits zu der nach der alten Verfassungsrechtslage bestehenden staatsschuldenrechtlichen Ausnahmevorschrift bei Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG a.F. hat der Senat ein dem Veranlassungszusammenhang bei Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG n.F. strukturähnliches Erfordernis statuiert und dabei das Element der Finalität gefordert (vgl. Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <100, dort in Fn. 49>). Die ausnahmsweise erhöhte Kreditaufnahme musste demzufolge „nach Umfang und Verwendung geeignet sein, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren“, wobei es gerade nicht ausreichte, „dass eine erhöhte Kreditaufnahme durch eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts veranlasst“ war; sie musste darüber hinaus auch final auf die Abwehr dieser Störung bezogen sein (vgl. BVerfGE 79, 311 <339>; 119, 96 <140>).

133

Ein solcher Veranlassungszusammenhang muss nach der nunmehr geltenden strengeren Regelungssystematik erst recht vorliegen. Überschreitungen der regulären Kreditobergrenze können verfassungsrechtlich nur gedeckt sein, wenn der Haushaltsgesetzgeber mit ihnen zweckgerichtet Maßnahmen zur Überwindung oder Vorbeugung einer Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation finanziert (vgl. Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <100>). Nicht erfasst sind dagegen Neukredite für allgemeinpolitische Maßnahmen, die allenfalls anlässlich der vermeintlich günstigen Gelegenheit des Aussetzens der Schuldenbremse ergriffen werden, aber nicht auf die Überwindung der Krisensituation zielen (vgl. Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <100>; Gröpl, NJW 2020, S. 2523 <2525>).

134

(4) Die kreditfinanzierten Maßnahmen müssen als Folge des zu überprüfenden Veranlassungszusammenhangs geeignet sein, den Zweck der Überwindung oder Vorbeugung einer Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation zu fördern (vgl. Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <100>; Schwarz, COVID-19 und Recht <COVuR> 2020, S. 74 <77>; Tappe/Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, 2. Aufl. 2019, Rn. 457; zur alten Rechtslage BVerfGE 119, 96 <140>). Die Eignung bezieht sich dabei auf die Gesamtheit der Maßnahmen und nicht auf jede einzelne Maßnahme, denn die einzelnen Maßnahmen können sich gegenseitig verstärken, unterstützen oder überhaupt erst zur Wirkung bringen (vgl. Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <100>; BVerfGE 79, 311 <340>). Es ist daher „nicht Aufgabe der Eignungsprüfung […], einzelne Ausgabenansätze aus diesem Gefüge herauszubrechen und isoliert auf ihre Eignung, auf gegebene Einsparungsmöglichkeiten o.ä. zu untersuchen“ (BVerfGE 79, 311 <340>).

135

(5) Welche Anforderungen an die Kreditermächtigungen aus diesem Erfordernis eines Veranlassungszusammenhangs im Einzelnen abzuleiten sind, ist von der Art der Notsituation und den zu ihrer Bekämpfung sowie zur Anpassung und Nachsorge gebotenen Maßnahmen abhängig. Denn die Überschreitung der regulären Kreditaufnahmegrenzen ist nur im Hinblick auf diese spezifisch notlagenbezogenen Maßnahmen zulässig.

136

(6) Noch strengere Anforderungen sind – anders als die Antragstellerinnen und Antragsteller meinen – an das Erfordernis des Veranlassungszusammenhangs hingegen nicht zu stellen. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass die notlagenbedingte Kreditaufnahme auf die Beseitigung der unmittelbaren Folgen einer etwaigen Notlage beschränkt sein könnte. Dem verfassungsändernden Gesetzgeber stand bei der Neufassung der Art. 109, 115 GG als „Notlage“ auch eine „plötzliche Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe in einem extremen Ausmaß aufgrund eines exogenen Schocks, wie beispielsweise der aktuellen Finanzkrise“ vor Augen, „die aus Gründen des Gemeinwohls aktive Stützungsmaßnahmen des Staates zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Wirtschaftsabläufe gebietet“ (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11). Ebenfalls vor Augen hatte der Gesetzgeber das (positive) Ereignis der Deutschen Einheit. Die in der Gesetzesbegründung genannte Finanz- und Bankenkrise der Jahre 2007 bis 2009 führte mittelbar zu einer weltweiten Wirtschaftskrise mit weitreichenden Folgen. Eine randscharfe Abgrenzung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Krisenfolgen dürfte überdies praktisch nicht durchführbar sein.

137

bb) Sowohl für die Diagnose der Art und des Ausmaßes der Notsituation als insbesondere auch für die Ausgestaltung der Maßnahmen zur Bekämpfung, Anpassung und gegebenenfalls Nachsorge kommt dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu (vgl. G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 98; Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <100>; Reimer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 109 Rn. 67 <Aug. 2023>; Schwarz, COVuR 2020, S. 74 <77>; Christ, NVwZ 2009, S. 1333 <1336>). Dies gilt namentlich für die Höhe der für die finanzielle Absicherung dieser Maßnahmen vorgesehenen Kreditermächtigungen (vgl. für die Höhe des Bedarfs auch Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 46). Dem Bundesverfassungsgericht obliegt die Prüfung, ob die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers auch vor dem Hintergrund der Auffassungen in Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft nachvollziehbar und vertretbar ist (vgl. BVerfGE 79, 311 <343>; 119, 96 <147 ff.>).

138

Je weiter allerdings das auslösende Ereignis in der Vergangenheit liegt, je mehr Zeit zur Entscheidungsfindung gegeben ist und je entfernter die Folgen sind, desto stärker wird sich der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers verengen, weil die Folgen seines Handelns mit der Zeit besser abzuschätzen sind und so verhindert werden kann, dass die Ausnahme der Überschreitung der Kreditobergrenzen zur Regel wird, wie es bei der grundgesetzlichen Vorgängerregelung bemängelt wurde (vgl. Oebbecke, NVwZ 2019, S. 1173 <1175>; Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <100>).

139

(1) Der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers hinsichtlich des Vorliegens eines Veranlassungszusammenhangs findet eine Parallele in der nach der alten Verfassungsrechtslage bestehenden staatsschuldenrechtlichen Ausnahmevorschrift bei Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG a.F. Die hierzu ergangene Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 79, 311 <343>; 119, 96 <140>) ist daher auf die neue Verfassungsrechtslage grundsätzlich übertragbar. Dem steht nicht entgegen, dass Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG n.F. gegenüber Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG a.F. tatbestandlich konkreter gefasst ist, da sich der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum nicht auf die Anwendung der geschriebenen Tatbestandsmerkmale, sondern auf das zusätzliche Erfordernis des Veranlassungszusammenhangs bezieht. Unter diesem Gesichtspunkt bleibt die neue mit der alten Verfassungsrechtslage vergleichbar.

140

(2) Hinzu kommt, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber durch die tatbestandliche Konkretisierung und sachliche Verschärfung der Regeln für die Kreditaufnahme von Bund und Ländern (insb. Art. 109 Abs. 3 und 5, Art. 109a, Art. 115, Art. 143d Abs. 1 GG) klargestellt hat, dass eine Selbstbindung der Parlamente und die damit einhergehende fühlbare Beschränkung ihrer haushaltspolitischen Handlungsfähigkeit gerade im Interesse einer langfristigen Erhaltung der demokratischen Gestaltungsfähigkeit notwendig sein können (vgl. BVerfGE 129, 124 <170>). „Mag eine derartige Bindung die demokratischen Gestaltungsspielräume in der Gegenwart auch beschränken, so dient sie doch zugleich deren Sicherung für die Zukunft. Zwar stellt auch eine langfristig besorgniserregende Entwicklung des Schuldenstandes keine verfassungsrechtlich relevante Beeinträchtigung der Kompetenz des Gesetzgebers zu einer situationsabhängigen diskretionären Fiskalpolitik dar. Dennoch führt sie zu einer faktischen Verengung von Entscheidungsspielräumen […]. Deren Vermeidung ist ein legitimes (verfassungs-)gesetzgeberisches Ziel“ (BVerfGE 135, 317 <403 f. Rn. 169>).

141

Es ist dabei in erster Linie Sache des Gesetzgebers, abzuwägen, ob und in welchem Umfang zur Erhaltung demokratischer Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume auch für die Zukunft Bindungen in Bezug auf das Ausgabeverhalten geboten und deshalb – spiegelbildlich – eine Verringerung des Gestaltungs- und Entscheidungsspielraums in der Gegenwart hinzunehmen ist. Das Bundesverfassungsgericht kann sich hier nicht mit eigener Sachkompetenz an die Stelle der dazu zuvörderst berufenen Gesetzgebungskörperschaften setzen (vgl. BVerfGE 129, 124 <183>; 135, 317 <404 f. Rn. 173>).

142

Mit diesem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers korrespondiert eine eingeschränkte verfassungsgerichtliche Kontrolldichte, welche sich auf eine Prüfung der Nachvollziehbarkeit und Vertretbarkeit der Einschätzungen und Beurteilungen des Gesetzgebers zum sachlichen Veranlassungszusammenhang beschränkt (vgl. Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <100>).

143

(3) Für eine solche eingeschränkte Überprüfung spricht zudem, dass auch die Landesverfassungsgerichte bei den strukturähnlichen Vorschriften zur notlagenbedingten Kreditaufnahme durch die Länder von einem entsprechenden Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des (Landes)Gesetzgebers ausgehen (vgl. Hessischer StGH, Urteil vom 27. Oktober 2021 – P.St. 2783, P.St. 2827 -, juris, Rn. 248; VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1. April 2022 – VGH N 7/21 -, juris, Rn. 110).

144

cc) Die Vorschrift des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG sieht darüber hinaus keine weiteren materiellen Beschränkungen für eine krisenbedingte Kreditaufnahme des Bundes vor. Insbesondere ist der Haushaltsgesetzgeber nicht an den Grundsatz der VerhältnismäßigkeitBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
gebunden. Vielmehr ist die konkrete Abwägung zwischen den geeigneten Mitteln zur Abwehr der außergewöhnlichen Notsituation eine Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers, die er auch politisch zu verantworten hat. Für politisches Handeln räumt das Grundgesetz dem Gesetzgeber, soweit es sich nicht um – hier nicht gegebene – Eingriffe in Rechts- oder Freiheitsbereiche handelt, einen Gestaltungsspielraum ein, dem es nur einen Rahmen setzt. Innerhalb dieses Rahmens ist der Gesetzgeber frei, politische Entscheidungen zu treffen.

145

dd) Das bedeutet im vorliegenden Zusammenhang, dass die Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers zwar geeignet zur Krisenbewältigung sein muss, unter mehreren geeigneten Mitteln jedoch keine Abstufung im Sinne einer Erforderlichkeit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu treffen ist (vgl. BVerfGE 79, 311 <342 f.>; vgl. auch jüngst VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1. April 2022 – VGH N 7/21 -, juris, Rn. 112). Die krisenbedingte Kreditaufnahme ist deshalb verfassungsgerichtlich nicht darauf zu überprüfen, ob sie sich als erforderlich und angemessen erweist (vgl. Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <101>; Korioth, JZ 2009, S. 729 <733> kein „die Kredithöhe begrenzendes Kriterium“; wohl auch Siekmann, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 115 Rn. 53; a.A. Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 109 Rn. 153; Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 53a; Pünder, in: Berliner Kommentar, Art. 115 Rn. 145 f. <Juli 2010>; Reimer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 109 Rn. 67, 67a, 67b <Aug. 2023>; Schwarz, COVuR 2020, S. 74 <77>).

146

(1) Vor der Inanspruchnahme einer notlagenbedingten Kreditaufnahme nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ist der Gesetzgeber insbesondere nicht von Verfassungs wegen zur Ausschöpfung anderer Konsolidierungsspielräume gehalten (Erforderlichkeit der notlagenbedingten Kreditaufnahme). Es ist allein Sache des Parlaments, entsprechende (politische) Grundentscheidungen zu treffen und hierbei alternativ bestehende Finanzierungsmöglichkeiten wie Steuererhöhungen, andere haushaltspolitische Schwerpunktsetzungen und eventuelle Rücklagen in die Abwägung miteinzubeziehen. Eine „Subsidiarität der Kreditaufnahme“ lässt sich Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG gerade nicht entnehmen (vgl. VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1. April 2022 – VGH N 7/21 -, juris, Rn. 113; a.A. Schmidt, JZ 2021, S. 382 <386>; Gröpl, NJW 2020, S. 2523 <2526>).

147

Gegen ein Erforderlichkeitskriterium spricht zudem die in Art. 115 Abs. 2 Satz 8 GG geregelte Tilgungsverpflichtung für krisenbedingte Kreditaufnahmen. Das Grundgesetz unterscheidet insoweit zwischen der eigentlichen Krisensituation und der Zeit nach Überwindung der Krise, in welcher der Gesetzgeber zumindest an einen angemessenen Pfad der Schuldenrückführung gebunden ist. Damit wird das Erfordernis zur Ausschöpfung etwaiger Konsolidierungsmöglichkeiten wesentlich in die Tilgungsphase, also in die Zeit, in der die Krise überwunden ist, verlagert. Erst in der Zeit nach der Naturkatastrophe oder der außergewöhnlichen Notsituation besteht eine verfassungsrechtliche Konsolidierungspflicht, während in der akuten Notsituation die Krisenbewältigung im Vordergrund steht. Der Erweiterung des Handlungsspielraums durch die Inanspruchnahme notlagenbedingter Kreditmittel in Krisenzeiten folgt dessen anschließende Verengung in den folgenden Haushaltsjahren (vgl. Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <102>).

148

(2) Die Angemessenheit der notlagenbedingten Kreditaufnahme unterliegt im Weiteren keiner verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Ein Grundsatz der „haushaltsverfassungsrechtlichen Angemessenheit“ lässt sich der Verfassung gerade nicht entnehmen (a.A. Hessischer StGH, Urteil vom 27. Oktober 2021 – P.St. 2783, P.St. 2827 -, juris, Rn. 252 zur Hessischen Landesverfassung; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 109 Rn. 154; Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 53a). Der Verzicht auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne führt auch nicht zu einer – der Zielrichtung des Art. 115 Abs. 2 GG widersprechenden – Eröffnung der Möglichkeit unkontrollierbarer Erhöhung der Staatsverschuldung. Die notlagenbedingte Kreditaufnahme ist von den Tatbestandsmerkmalen des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG abhängig, deren Vorliegen grundsätzlich vollumfänglich verfassungsgerichtlich überprüfbar ist. Erst auf der Ebene der Rechtsfolge beschränkt sich der Prüfungsmaßstab auf das Kriterium der Vertretbarkeit und Nachvollziehbarkeit, insbesondere im Hinblick auf die Annahme des Veranlassungszusammenhangs. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG führen demnach schon für sich genommen zu einem vom verfassungsändernden Gesetzgeber gewollten Schutz vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung zur Schuldenbremse.

149

ee) Dem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers entspricht eine Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren (vgl. BVerfGE 119, 96 <140>). Dies ermöglicht dem Bundesverfassungsgericht im Streitfall die Prüfung, ob die entsprechende Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers anhand der von ihm gegebenen Begründung nachvollziehbar und vertretbar ist (vgl. BVerfGE 79, 311 <343>; 119, 96 <140 f.>).

150

(1) Im Gesetzgebungsverfahren darzulegen sind die Diagnose der Naturkatastrophe oder der außergewöhnlichen Notsituation sowie ihrer Ursachen, die Absicht, durch die erhöhte Kreditaufnahme diese Notlage abzuwehren oder zu überwinden, und die begründete Prognose, dass und wie durch die erhöhte Kreditaufnahme dieses Ziel erreicht werden kann, sie also zur Beseitigung der Notlage geeignet erscheint (vgl. Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 109 Rn. 153; Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 109 Rn. 214 <Mai 2011>; Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 52; ähnlich Gröpl, NJW 2020, S. 2523 <2525>). Dabei wird gegebenenfalls die Koordination der Haushaltsplanung mit flankierenden gesetzgeberischen Maßnahmen und der längerfristigen Politik darzulegen sein. Falls der Haushaltsgesetzgeber entgegen der bisherigen Finanzplanung handelt, hat er dies zu begründen (vgl. im Hinblick auf die alte Rechtslage BVerfGE 79, 311 <345>). Welche Anforderungen an die im Einzelfall geforderten Darlegungspflichten des Gesetzgebers bestehen, bestimmt sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles und ist insbesondere von der Art der jeweiligen Krisensituation – und der Vielschichtigkeit von Lösungen zur Krisenüberwindung – abhängig. Dabei müssen stets Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG im Blick behalten werden, denn diese soll die Handlungsfähigkeit des Staates zur Krisenbewältigung gewährleisten (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11).

151

(2) Macht der Gesetzgeber wiederholt innerhalb eines Haushaltsjahres oder innerhalb aufeinander folgender Haushaltsjahre von der Möglichkeit notlagenbedingter Kreditmittel Gebrauch, so wachsen auch die Anforderungen an seine Darlegungslasten. Je länger die Krise dauert und je umfangreicher der Gesetzgeber notlagenbedingte Kredite in Anspruch genommen hat, desto detaillierter hat er die Gründe für das Fortbestehen der Krise (Krisendiagnose) und die aus seiner Sicht weiter gegebene Geeignetheit der von ihm geplanten Maßnahmen zur Krisenbewältigung darzulegen.

152

(3) Dies gilt, bezogen auf die Höhe der Kreditermächtigungen, insbesondere dann, wenn notlagenbedingte Kreditmittel entgegen der ursprünglichen Haushaltsplanung und dem konstitutiven Beschluss nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nicht oder nicht in voller Höhe benötigt worden sind und nunmehr für andere als die ursprünglich avisierten Maßnahmen zur Krisenbewältigung genutzt werden sollen.

153

(4) Besondere Anforderungen an die Darlegungslast des Gesetzgebers ergeben sich vor dem Hintergrund der notwendigen Abgrenzung einer notlagenbedingten Kreditaufnahme gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vom Anwendungsbereich der erweiterten Kreditaufnahmemöglichkeiten gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG wegen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung, bei der die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen sind. Der Verfassungstext verdeutlicht damit, dass nicht schon jede wirtschaftliche Krisensituation mit einer außergewöhnlichen Notsituation gleichzusetzen ist. Demgemäß hat auch der Haushaltsgesetzgeber diese Abgrenzung nachvollziehbar darzulegen.

154

(5) Die insoweit im Gesetzgebungsverfahren dargelegte Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers ist verfassungsgerichtlich daraufhin zu überprüfen, ob sie nachvollziehbar und vertretbar ist (vgl. BVerfGE 79, 311 <342>; 119, 96 <140 f.>; Meickmann, NVwZ 2021, S. 97 <101>). Diese Aufgabenverteilung zwischen parlamentarischer Gesetzgebung und verfassungsgerichtlicher Kontrolle ist bei der Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Ermächtigung und Verpflichtung zu einer situationsgebundenen, auf dynamische Entwicklungen reagierenden Kreditaufnahme sachlich geboten (vgl. VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1. April 2022 – VGH N 7/21 -, juris, Rn. 106; vgl. zur alten Rechtslage BVerfGE 79, 311 <342>).

155

c) Dem systematischen Gefüge der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Kreditaufnahme des Bundes nach den Art. 109 Abs. 3, Art. 115 GG sind darüber hinaus die haushaltsrechtlichen Prinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit – flankiert vom Haushaltsgrundsatz der Fälligkeit – zu entnehmen, welche dem grundsätzlichen Verbot der strukturellen Neuverschuldung zugrunde liegen (aa). Diese Prinzipien gelten auch für die Ausnahmeregelung zur Schuldenbremse bei Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG (bb) und können nicht durch den Einsatz von Sondervermögen umgangen werden (cc). Die Einhaltung der Prinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit unterliegen einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle (dd).

156

aa) Die vom grundsätzlichen Verbot der strukturellen Neuverschuldung nach Art. 109 Abs. 3 Satz 1, Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG unter Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 3 bis 5 GG vorgesehene Regelungsmöglichkeit unterliegt den Geboten der Jährlichkeit und Jährigkeit. Dies folgt aus einer systematischen Auslegung der verfassungsrechtlichen Vorgaben und ihres normativen Umfelds.

157

(1) Ein erster gewichtiger Anhaltspunkt dafür, dass die Vorgaben aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 GG auf Jährlichkeit und Jährigkeit angelegt sind, ergibt sich aus der Formulierung der Grundentscheidung zum Verbot struktureller Neuverschuldung in Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG: Indem Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG statuiert, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind, verknüpft er die Begrenzung der staatlichen Kreditaufnahme mit der staatlichen Haushaltswirtschaft und auf diese Weise auch mit dem allgemeinen Haushaltsgrundsatz der Jährlichkeit nach Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG (a) sowie mit den damit in Verbindung stehenden Prinzipien der Jährigkeit (b) und Fälligkeit (c).

158

(a) Das Prinzip der Jährlichkeit (vgl. zum Begriff Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 64 ff.; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, S. 328 f.; vgl. ferner Gröpl, in: Bonner Kommentar, Art. 110 Rn. 257 <Sept. 2015>) des Haushalts des Bundes nach Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG geht dahin, dass der Haushaltsplan für ein oder mehrere Rechnungsjahre, nach Jahren getrennt, vor Beginn des ersten Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festzustellen ist. Das allgemeine Jährlichkeitsprinzip, welches Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG enthält, dient der Sicherung des Budgetrechts des Parlaments, insbesondere im Hinblick darauf, dass das Budget bei längeren Haushaltsperioden seine Aussagekraft und Verbindlichkeit verlöre (vgl. nur Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 110 Rn. 13 i.V.m. Rn. 28). Das Parlament könnte zudem mangels eines entsprechenden Gesetzesinitiativrechts von sich aus keine Nachtragshaushalte initiieren (vgl. Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 64; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, S. 329).

159

(b) In einem engen funktionalen Zusammenhang zu dem in Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich verankerten Prinzip der Jährlichkeit der Haushaltsaufstellung steht das Prinzip der Jährigkeit des Haushaltsvollzugs; während Ersteres Anforderungen an die Periodizität der Aufstellung des Haushalts stellt, adressiert Letzteres die Frage nach dem Geltungszeitraum der Ermächtigungen in den Haushaltsplänen (vgl. Gröpl, in: Bonner Kommentar, Art. 110 Rn. 257 <Sept. 2015>). Das Jährigkeitsprinzip betrifft die Begrenzung des beplanten Zeitraums in materieller (inhaltlicher) Hinsicht, mithin also eine zeitliche Beschränkung der Ausgaben- und Kreditermächtigungen (vgl. Tappe, in: Gröpl, BHO/LHO, 2. Aufl. 2019, § 11 Rn. 10). Es ist einfach-rechtlich in § 27 Abs. 1 Satz 1 HGrG, § 45 Abs. 1 Satz 1 BHO niedergelegt. Danach dürfen Ermächtigungen nur zu im Haushaltsplan bezeichneten Zwecken und Leistungen, soweit und solange sie fortdauern, und nur bis zum Ende des Haushaltsjahres geleistet oder in Anspruch genommen werden. Anschließend verfallen sie ersatzlos, soweit nichts anderes bestimmt ist (vgl. Gröpl, in: Bonner Kommentar, Art. 110 Rn. 257 <Sept. 2015>; Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 102).

160

(aa) Das Prinzip der Jährigkeit gilt nicht absolut. So sehen § 27 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 bis 4 HGrG und § 45 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 bis 4 BHO Durchbrechungen dieses Grundsatzes vor, unter anderem im Hinblick auf die Bildung von Ausgaberesten, die unter näheren Voraussetzungen für die jeweilige Zweckbestimmung über das Haushaltsjahr hinaus bis zum Ende des auf die Bewilligung folgenden zweitnächsten Haushaltsjahres verfügbar bleiben dürfen. Eine weitere Ausnahme stellt die wegen Art. 110 Abs. 4 Satz 2 GG in Verbindung mit § 18 Abs. 3 BHO vorgesehene vorläufige „Weitergeltung“ von Kreditermächtigungen dar.

161

(bb) Damit adressiert das Jährigkeitsprinzip in erster Linie die Exekutive in der Phase des Haushaltsvollzugs. Es begrenzt daneben aber auch den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des Haushaltsplans. Aus ihm folgt die Verpflichtung des Haushaltsgesetzgebers, Ausgabe- und Verpflichtungsermächtigungen jedenfalls grundsätzlich nicht überjährig übertragbar auszuweisen. Die Möglichkeiten der Übertragbarkeit können im Einzelfall, etwa im Hinblick auf den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit verfassungsrechtlicher Rechtfertigung zugänglich sein, müssen jedoch auf Ausnahmen reduziert bleiben (vgl. Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 102 f.).

162

(cc) Das inhaltliche Prinzip der Jährigkeit ergänzt das äußerliche Prinzip der Jährlichkeit in seiner Schutzwirkung zugunsten des parlamentarischen Budgetrechts, indem es verhindert, dass der Entscheidungsspielraum künftiger Haushaltsgesetzgeber durch fortwirkende Vorfestlegungen aus früheren Haushalten eingeschränkt wird (vgl. Gröpl, in: Bonner Kommentar, Art. 110 Rn. 257 <Sept. 2015>). Es verhindert damit eine Lastenverschiebung in die Zukunft (vgl. Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 111). Wegen dieses engen funktionalen Zusammenhangs zum Jährlichkeitsprinzip gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG kommt auch dem Grundsatz der Jährigkeit Verfassungsrang zu (vgl. Siekmann, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 110 Rn. 62; Gröpl, in: Bonner Kommentar, Art. 110 Rn. 257 <Sept. 2015>; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, S. 331; implizit auch Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 103).

163

(c) Das Prinzip der kassenwirksamen Fälligkeit findet keine ausdrückliche Erwähnung im Text des Grundgesetzes, ist jedoch der Sache nach in § 8 Abs. 2 Nr. 1 und 2 HGrG und § 11 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BHO einfach-rechtlich normiert. Der Fälligkeitsgrundsatz betrifft die zeitliche Zuordnung der Haushaltsmittel, wobei auf die voraussichtliche Kassenwirksamkeit, also die tatsächlichen Ein- und Auszahlungen von Finanzmitteln abgestellt wird (vgl. Gröpl, in: Bonner Kommentar, Art. 110 Rn. 258 <Sept. 2015>). Im Haushaltsplan dürfen demnach nur diejenigen Einnahmen und Ausgaben veranschlagt werden, die im Haushaltsjahr voraussichtlich kassenwirksam werden (vgl. Tappe, in: Gröpl, BHO/LHO, 2. Aufl. 2019, § 11 Rn. 32).

164

(2) Indem Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG als Grundnorm des grundgesetzlichen Staatsschuldenrechts festlegt, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind, verknüpft er – über seine Bezugnahme auf die Verpflichtung zur formellen Ausgeglichenheit des Haushalts gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG – die Vorgaben zur Kreditaufnahme mit den vorstehend dargestellten allgemeinen Haushaltsgrundsätzen der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit (vgl. Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, S. 335 f.). Auf diese Weise wird dem Gebot der formellen Ausgeglichenheit gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG das staatsschuldenrechtliche Gebot der materiellen Ausgeglichenheit des Haushalts in Gestalt eines Verbots struktureller Neuverschuldung gemäß Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG zur Seite gestellt (vgl. Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, S. 336). Aus dieser Bezugnahme ist zu folgern, dass auch die Vorgaben zur Kreditaufnahme des Bundes aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 GG grundsätzlich den Prinzipien der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit folgen müssen, was indes spezifische Modifikationen unter Rücksicht auf die sachlichen und funktionalen Besonderheiten der Vorschriften zur Kreditaufnahme nicht ausschließt.

165

(3) Auch aus der Ausgestaltung der Regeln über die Begrenzung der Neuverschuldung des Bundes in Art. 109 Abs. 3, Art. 115 GG ergibt sich, dass die Grundsätze der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit im Staatsschuldenrecht Geltung beanspruchen. Denn nach der Konzeption der Art. 109 Abs. 3, Art. 115 GG stellt das Staatsschuldenrecht auf einen jährlichen Bezugsrahmen ab. Dies zeigt sich besonders deutlich an der in Art. 115 Abs. 2 Satz 5 GG verwendeten Formulierung, wonach in einem Bundesgesetz die „Berechnung der Obergrenze der jährlichen Nettokreditaufnahme“ zu regeln ist.

166

(a) Jährlichkeit im Bereich der Vorgaben über die Kreditaufnahme des Bundes bedeutet, dass die zulässige Höhe der Kreditaufnahme nach Jahren getrennt zu ermitteln ist. Nach Ablauf eines Jahres ist die zulässige Nettokreditaufnahme für das Folgejahr neu zu ermitteln.

167

(b) Jährigkeit erfordert, dass Kreditermächtigungen, die in den Rahmen der zulässigen Nettokreditaufnahme für ein bestimmtes Jahr fallen und auf die zulässige Kreditaufnahme in diesem Jahr angerechnet werden, grundsätzlich auch in eben diesem Jahr tatsächlich genutzt werden müssen, die Kredite also aufzunehmen sind.

168

(c) Schließlich folgt aus der Formulierung „Obergrenze der jährlichen Nettokreditaufnahme“ in Art. 115 Abs. 2 Satz 5 GG, dass im Sinne des Fälligkeitsprinzips für die zeitliche Zuordnung der Kreditermächtigungen in Bezug auf einzelne Jahre und die entsprechenden Obergrenzen für die Kreditaufnahme die tatsächliche Aufnahme der Kredite maßgeblich sein soll.

169

(4) Ein weiterer normativer Anhaltspunkt für diese Sichtweise folgt aus Art. 115 Abs. 1 GG, soweit es dort heißt, dass Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, einer bundesgesetzlichen Ermächtigung bedürfen. Durch das Abstellen auf mögliche „Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren“ hat der verfassungsändernde Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die Begrenzungen im Staatsschuldenrecht eine zeitliche, nach Rechnungsjahren gestaffelte Schutzwirkung zugunsten späterer Haushalte entfalten sollen.

170

(5) Schließlich wird das Ergebnis, wonach die Regelungsmechanik der sogenannten Schuldenbremse aus Art. 109 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG den Prinzipien der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit unterliegt, durch teleologische Erwägungen weiter gefestigt. Die Ziele, die Staatsverschuldung des Bundes effektiv zu begrenzen und Belastungen künftiger Haushalte durch Rückführungsverpflichtungen gering zu halten, sind in die Zukunft gerichtet und verfügen damit ebenfalls über eine spezifisch zeitbezogene Dimension.

171

bb) Die Geltung der Grundsätze der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit im Staatsschuldenrecht erstreckt sich auch auf die Ausnahmeregelung des Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG für Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen. Zwar rechtfertigen diese Normen gerade die Überschreitung der Obergrenze der jährlichen Nettokreditaufnahme. In ihrem auf die Durchbrechung der regulären Grenze gerichteten Ausnahmecharakter bleiben die Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG aber eng auf das jährliche Berechnungssystem der Schuldenbremse bezogen.

172

(1) Demgemäß hat auch der Beschluss des Bundestages nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG, die Kreditobergrenzen zu überschreiten, für ein konkretes Rechnungsjahr zu ergehen. Schon die Berechnung der jeweiligen für den Regelfall geltenden regulären Verschuldungsgrenze bezieht sich auf das einzelne Haushaltsjahr. Sollten eine Notsituation oder ihre Wirkungen über den Zeitraum eines Jahres anhalten und fortdauernden Kreditbedarf veranlassen, so haben Beschlüsse nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nach Jahren getrennt zu ergehen. Es entspricht im Übrigen der Staatspraxis, dass sich Beschlüsse nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG auf Haushalts- oder Rechnungsjahre beziehen; sie ergehen unter Hinweis auf ein entsprechendes Haushaltsgesetz oder Nachtragshaushaltsgesetz (vgl. den Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG vom 25. März 2020, BTDrucks 19/18108, 19/18131; den Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG vom 23. April 2021, BTDrucks 19/28464, 19/28740; den Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG vom 3. Juni 2022, BTDrucks 20/2036). Auf diese Weise wird dem – äußerlichen – Prinzip der Jährlichkeit im Rahmen der Ausnahmeregelung nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG Rechnung getragen.

173

(2) Das – stärker vollzugsgerichtete – Prinzip der Jährigkeit fordert im Zusammenspiel mit dem Grundsatz der kassenwirksamen Fälligkeit weiter, dass die auf ein bestimmtes Rechnungsjahr bezogenen notlagenbedingten Kreditermächtigungen, soll von ihnen Gebrauch gemacht werden, unmittelbar in dem betreffenden Jahr tatsächlich kassenwirksam werden müssen. Die Kredite sind deshalb in dem der Ermächtigung zugrundeliegenden Jahr tatsächlich aufzunehmen, weil sie in diesem Jahr zur Bewältigung der Notlage gebraucht werden. Nach dem Ablauf des Rechnungsjahres verfallen die entsprechenden Kreditermächtigungen, denn im Unterschied zu „gewöhnlichen“ Kreditermächtigungen (Art. 110 Abs. 4 Satz 2 GG i.V.m. § 18 Abs. 3 BHO) existiert für notlagenbedingte Kreditermächtigungen keine normierte Ausnahme von den Grundsätzen der Jährigkeit und Jährlichkeit. Anderenfalls würden die durch den Beschluss des Bundestages festgestellte Notsituation und die tatsächliche Kreditaufnahme in unzulässiger Weise voneinander getrennt, obwohl sie inhaltlich aufeinander bezogen sind.

174

cc) Die Prinzipien der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit können nicht dadurch außer Kraft gesetzt werden, dass der Gesetzgeber eine Gestaltungsform wählt, bei der Kredit-ermächtigungen für ein juristisch unselbständiges Sondervermögen (Nebenhaushalte) nutzbar gemacht werden. Auch juristisch unselbständige Nebenhaushalte werden von dem Verbot der Neuverschuldung nach Art. 109 Abs. 3 Satz 1, Art. 115 Abs. 2 GG umfasst (1), weshalb die allgemeinen Anforderungen aus dem Zeitbezug der Schuldenbremse bei dem Einsatz eines Sondervermögens im Grundsatz anwendbar bleiben (2).

175

(1) Das Verbot struktureller Neuverschuldung nach Art. 109 Abs. 3 Satz 1, Art. 115 Abs. 2 GG umfasst auch juristisch unselbständige Nebenhaushalte (vgl. Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 109 Rn. 117 <Mai 2011>; vgl. zu Art. 109 Abs. 3 GG i.V.m. der Landesverfassung von Rheinland-Pfalz: VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1. April 2022 – VerfGH N 7/21-, juris, Rn. 51).

176

(a) Dies legt bereits der Wortlaut von Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG nahe, wonach die Haushalte von Bund und Ländern umfassend dem Staatsschuldenrecht des Art. 109 Abs. 3 GG unterworfen sind.

177

(b) Auch aus teleologischer Sicht ist es angezeigt, zum Zwecke einer effektiven Begrenzung der Nettoneuverschuldung unselbständige Nebenhaushalte von der Schuldenbremse zu erfassen, da anderenfalls erhebliches Umgehungspotential bestünde (vgl. – in Auseinandersetzung mit der alten Verfassungsrechtslage bis 2009 nach Art. 115 Abs. 2 GG a.F. – Kube, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 115 Rn. 51 <Okt. 2009>).

178

(c) Dieses Ergebnis wird gestützt durch eine Auslegung der Art. 109 Abs. 3 Satz 1, Art. 115 Abs. 2 GG unter Berücksichtigung der bis zur Reform des Staatsschuldenrechts im Jahr 2009 geltenden Verfassungsrechtslage sowie des Vorgehens des verfassungsändernden Gesetzgebers des Jahres 2009: Während Art. 115 Abs. 2 GG a.F. noch ausdrücklich vorsah, dass für Sondervermögen des Bundes durch Bundesgesetz Ausnahmen von den Grenzen für die Kreditaufnahme des Bundes aus Art. 115 Abs. 1 GG a.F. zugelassen werden können, fehlt eine solche Klausel im 2009 neu geschaffenen Staatsschuldenrecht. Hieraus lässt sich schließen, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber bewusst davon absehen wollte, (weiterhin) Ausnahmen für Sondervermögen zu ermöglichen. Zugleich verdeutlicht die alte Verfassungsrechtslage, dass unselbständige Sondervermögen des Bundes grundsätzlich den Vorgaben zur Kreditaufnahmebegrenzung unterfielen, da anderenfalls die frühere ausdrückliche Ausnahmeermächtigung ins Leere gelaufen wäre.

179

(d) Für dieses Verständnis spricht schließlich auch der Wortlaut von Art. 143d Abs. 1 Satz 2 GG. Nach dieser Regelung ist eine Neuverschuldung über die (zum damaligen Zeitpunkt bestehenden) Kreditermächtigungen für bereits eingerichtete Sondervermögen hinaus seit dem 1. Januar 2011 nicht mehr möglich.

180

(2) (a) Dem Umstand, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der Reform des Staatsschuldenrechts im Jahr 2009 darauf verzichtet hat, eine Art. 115 Abs. 2 GG a.F. entsprechende Ausnahmeermächtigung für Sondervermögen beizubehalten, lässt sich entnehmen, dass er beabsichtigte, die Durchsetzung der neu geschaffenen Schuldenbremse gerade auch gegenüber finanzrechtlichen Gestaltungsformen sicherzustellen, die mit der Einrichtung und Beschickung von Sondervermögen arbeiten (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 7; ferner Lenz/Burgbacher, NJW 2009, S. 2561 <2565>). Folglich müssen auch bei solchen Gestaltungsformen die besonderen zeitbezogenen Restriktionen der (notlagenbedingten) Kreditaufnahme des Bundes nach den Prinzipien der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit gelten, welche die Wirksamkeit der Schuldenbremse erst garantieren.

181

(b) Demgemäß führt die unter Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung für Notsituationen kreditfinanzierte Zuführung an ein Sondervermögen nach dem Grundsatz der Jährlichkeit verfassungsrechtlich dazu, dass die dem Sondervermögen zugeführten Mittel grundsätzlich nur in demjenigen Rechnungsjahr, für welches sie durch den Beschluss nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG bereitgestellt sind, eingesetzt werden können.

182

Im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse und der Berechnung der zulässigen Neuverschuldung sind der Kernhaushalt und unselbständige Sondervermögen als Einheit zu betrachten. Eine kreditfinanzierte Zuführung an ein Sondervermögen kann deshalb – unbeschadet der buchungstechnischen Vorgehensweise – nicht von den Begrenzungen der staatlichen Kreditaufnahme für das jeweils betroffene Haushaltsjahr entbinden.

183

Anderenfalls könnte der Bund in Haushaltsjahren, in denen aus ganz bestimmten, zeit- und umstandsbezogenen Gründen Kreditaufnahmespielräume bestehen, diese Spielräume weit über den Bedarf hinaus wahrnehmen und notlagenbedingte Kreditermächtigungen für Zuführungen an Sondervermögen nutzen, um sie gleichsam „anzusparen“. In späteren Jahren, für die die grundgesetzliche Schuldenbremse wiederum neue sach- und zeitgerechte eigenständige Vorgaben macht, könnte der Bund die so für die Zukunft nutzbar gemachten (ursprünglich) notlagenbedingten Kreditermächtigungen nach freiem Belieben einsetzen, ohne dass diese auf die Schuldenbremse angerechnet würden. Dem stehen Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG entgegen, die es nicht zulassen, dass die notlagenbedingten Kreditermächtigungen und das Haushaltsjahr, in welchem die Notlage festgestellt wurde, staatsschuldenrechtlich durch buchhalterische Maßnahmen voneinander entkoppelt werden.

184

dd) Die zeitbezogenen Anforderungen in Gestalt der Prinzipien der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit an die Ausnahmeregelung zur Schuldenbremse für den Fall von Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG, die auch im Fall des Einsatzes von Sondervermögen gelten, unterliegen einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Dies entspricht dem Anliegen des verfassungsändernden Gesetzgebers, durch die Reform des Jahres 2009 die Effektivität des Staatsschuldenrechts zu verwirklichen. Angesichts der eindeutigen Schutzrichtung der neugeschaffenen Vorgaben in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG sowie der Klarheit der zeitbezogenen Begrenzungen für Kreditermächtigungen ist ein diesbezüglicher Einschätzungs-, Beurteilungs- oder Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nicht gegeben.

185

2. Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 muss sich an Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG messen lassen (a), mit deren geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen es in Einklang steht (b). Der Gesetzgeber hat jedoch den notwendigen Veranlassungszusammenhang zwischen den notlagenbedingten Kreditermächtigungen und den ergriffenen Maßnahmen zur Krisenbewältigung jedenfalls nicht ausreichend dargelegt (c). Zudem entspricht die im Rahmen des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 vorgenommene Zuführung an den KTF nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben an die notlagenbedingte Kreditaufnahme des Bundes im Hinblick auf die Prinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit (d).

186

a) Zentraler Regelungsbestandteil des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 ist die rückwirkende Erhöhung des Volumens des Sondervermögens EKF (heute KTF) von 42.694.600.000 auf 102.694.600.000 Euro. Der hierfür erforderliche Haushaltsspielraum wurde durch den Ansatz einer globalen Mehreinnahme in Höhe von 25 Milliarden Euro und einer globalen Minderausgabe in Höhe von 35 Milliarden Euro geschaffen. Unverändert geblieben sind dabei die auf der Basis des (Ersten) Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 erteilten Ermächtigungen zur Nettokreditaufnahme in Höhe von 240.175.714.000 Euro. Diese aufgrund des Beschlusses des Deutschen Bundestages gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vom 23. April 2021 zur Bewältigung der Corona-Pandemie bereits durch das (Erste) Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ausgebrachten Kreditermächtigungen, die nicht in vollem Umfang zur Bekämpfung der Pandemiefolgen entsprechend der im Nachtragshaushaltsgesetz 2021 erteilten Ermächtigung verwandt worden waren, sind die Grundlage der Zuführung von weiteren 60 Milliarden Euro an den KTF. Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 unterliegt demzufolge ebenfalls den Maßstäben der Art. 109 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG sowie Art. 115 Abs. 2 Satz 1, 2 und 6 GG.

187

b) Die geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 bis Satz 8 GG sind erfüllt.

188

aa) Die Corona-Pandemie stellte mit ihren vielfältigen Folgen in gesundheitlicher und wirtschaftlicher Hinsicht eine Notsituation im Sinne von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG dar (vgl. Henneke, DVBl. 2020, S. 725 <728>).

189

bb) Diese entzog sich der Kontrolle des Staates. Die Schwierigkeiten einer weltweit grassierenden Pandemie mit ihren vielschichtigen Auswirkungen haben das staatliche Gemeinwesen von Beginn der Pandemie an vor Herausforderungen gestellt, die sich insbesondere aus ihrer immanenten Unberechenbarkeit ergaben. Dabei war die Corona-Pandemie in ihrer Entwicklung weder absehbar, noch ist sie von der öffentlichen Hand verursacht worden.

190

cc) Die Bekämpfung der Corona-Pandemie war von Beginn der Krise an mit einem außerordentlichen Bedarf an Haushaltsmitteln verknüpft und beeinträchtigte die staatliche Finanzlage demnach erheblich. Schon vor Ergreifen der ersten Maßnahmen im Jahr 2020 musste der Gesetzgeber davon ausgehen, dass eine weltweit ausgebrochene Pandemie spürbare Folgen für den Gesamthaushalt haben werde. An der Dimension der Herausforderungen, die mit der staatlichen Pandemiebekämpfung verbunden waren und sind, hatte sich zum Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses und der abermaligen Feststellung der Notlage durch den Deutschen Bundestag im April 2021 nichts geändert. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Krise und einer erheblichen Beeinträchtigung des Bundeshaushalts bestand fort.

191

dd) Mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 23. April 2021 gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG erfolgte die zur Aufnahme von notlagenbedingten Krediten erforderliche Feststellung einer Notlage für das Haushaltsjahr 2021 (vgl. BTDrucks 19/28464 i.V.m. BTDrucks 19/28740). Eine erneute Feststellung für das Haushaltsjahr 2021 ist nicht erfolgt und war verfassungsrechtlich auch nicht geboten.

192

ee) Mit dem Beschluss war ein entsprechender Tilgungsplan im Sinne des Art. 115 Abs. 2 Satz 7 GG verbunden (vgl. BTDrucks 19/28464 i.V.m. BTDrucks 19/28740).

193

(1) Der Wirksamkeit dieses Tilgungsplans steht schon mit Blick auf den Wortlaut des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nicht entgegen, dass er in der Form eines einfachen Parlamentsbeschlusses gefasst und nicht als Gesetz erlassen wurde (vgl. Rn. 113).

194

(2) Schließlich ist nicht ersichtlich, dass sich der Gesetzgeber im Hinblick auf die Angemessenheit des vorgesehenen Rückführungszeitraums außerhalb des ihm zustehenden Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums bewegte (vgl. Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 56; G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 101; Heun, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 115 Rn. 48).

195

c) Den Veranlassungszusammenhang zwischen der festgestellten Notsituation und den durch die notlagenbedingte Kreditaufnahme finanzierten Maßnahmen zur Krisenbewältigung hat der Gesetzgeber dagegen nicht ausreichend dargelegt.

196

aa) Im Ausgangspunkt nachvollziehbar ist die Krisendiagnose des Gesetzgebers: So wird in der Gesetzesbegründung eine Bestandsaufnahme der volkswirtschaftlichen Lage in Folge der Corona-Pandemie zum Ende des Jahres 2021 vorgenommen (vgl. BTDrucks 20/300, S. 4). Gemäß der Herbstprojektion der Bundesregierung zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung falle das Wachstum im Jahr 2021 aufgrund der pandemiebedingt bestehenden Lieferengpässe geringer aus als noch im Frühjahr erwartet. Die erneut steigende Infektionsdynamik und die Unsicherheiten wegen einer neu aufgetretenen Virusvariante stellten zudem ein hohes Risiko für die weitere Entwicklung dar. Es bedürfe demnach zur Abmilderung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und angesichts des massiven wirtschaftlichen Einbruchs im Jahr 2020 weiterhin umfangreicher angebots- und nachfrageseitiger Maßnahmen, um die deutsche Volkswirtschaft wieder auf einen langfristig nachhaltigen Wachstumspfad führen zu können. Ein wesentliches Element zur Bewältigung der Folgen der Pandemie seien konjunkturunterstützende erhöhte staatliche Investitionen sowie die Förderung privatwirtschaftlicher Investitionen. Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen stünden demgegenüber dem notwendigen Kurs einer nachhaltigen Stabilisierung massiv entgegen.

197

bb) Hingegen hat der Gesetzgeber die Notwendigkeit der konkret ergriffenen Maßnahmen nicht dargelegt.

198

(1) Die Bundesregierung verweist hierzu auf ihre Absicht, die Förderung der pandemiebedingt geschwächten wirtschaft mit einem weiteren politischen Anliegen – der Förderung von Klimaschutz, Transformation und Digitalisierung – zu verbinden: Eine verlässliche staatliche Finanzierung und eine Förderung privatwirtschaftlicher Ausgaben für bedeutende Zukunfts- und Transformationsaufgaben in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung seien unter den besonderen Bedingungen der Pandemiebewältigung wesentliche Voraussetzungen, um die Folgen der Krise schnell zu überwinden, die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft zu sichern und damit das wirtschaftliche Wachstum anzuregen und nachhaltig zu stärken. Viele diesbezügliche Investitionen seien unter dem Einfluss der Pandemie nicht erfolgt. Deshalb bedürfe es einer weiteren Steigerung öffentlicher Investitionen, um gezielt private Investitionen in Zukunftsbereichen zu aktivieren und einen entsprechenden Nachholprozess anzustoßen. Dem Klimaschutz und dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energiequellen komme zur nachhaltigen Stärkung der Volkswirtschaft auf ihrem Weg aus der Pandemie eine besondere Qualität zu (vgl. zu den hierzu in den „Verbindlichen Erläuterungen“ genannten Einzelmaßnahmen BTDrucks 20/400, S. 3).

199

(2) Diese Begründung erweist sich als nicht ausreichend tragfähig. Zum Zeitpunkt der Gesetzesberatungen dauerte die Corona-Pandemie bereits fast zwei Jahre an. Je länger das auslösende Krisenereignis in der Vergangenheit liegt, je mehr Zeit dem Gesetzgeber deshalb zur Entscheidungsfindung gegeben ist und je mittelbarer die Folgen der ursprünglichen Krisensituation sind, desto stärker wird der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers eingeengt (vgl. Rn. 138). Hiermit geht eine Steigerung der Anforderungen an die Darlegungslast des Gesetzgebers einher (vgl. Rn. 149 ff.). Dies gilt umso mehr, wenn der Gesetzgeber – wie hier – wiederholt innerhalb eines Haushaltsjahres oder innerhalb aufeinander folgender Haushaltsjahre von der Möglichkeit der Aufnahme notlagenbedingter Kreditmittel Gebrauch macht.

200

(3) Je länger die von ihm diagnostizierte Krise anhält und je umfangreicher der Gesetzgeber notlagenbedingte Kredite in Anspruch genommen hat, desto detaillierter hat er die Gründe für das Fortbestehen der Krise und die aus seiner Sicht fortdauernde Geeignetheit der von ihm geplanten Maßnahmen zur Krisenbewältigung aufzuführen. Er muss insbesondere darlegen, ob die von ihm in der Vergangenheit zur Überwindung der Notlage ergriffenen Maßnahmen tragfähig waren und ob er hieraus Schlüsse für die Geeignetheit künftiger Maßnahmen gezogen hat. Dies gilt insbesondere dann, wenn notlagenbedingte Kreditmittel entgegen der ursprünglichen Haushaltsplanung und dem konstitutiven Beschluss nach Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nicht oder nicht in voller Höhe benötigt worden sind.

201

(a) Eine solche Evaluation und Einordnung der bisherigen Krisenbewältigungsmaßnahmen findet sich in der Gesetzesbegründung allenfalls im Ansatz. Hierzu heißt es, es werde an die bereits im Jahr 2020 im Zusammenhang mit dem Konjunktur- und Zukunftspaket erfolgten und „zur Pandemiebewältigung bewährten“ Zuweisungen an den EKF „angeknüpft“ (vgl. BTDrucks 20/300, S. 4 f.). Die hiesigen Mittel ergänzten damit die bereits im Jahr 2020 zur Pandemiebewältigung dem EKF zugeführten Mittel und dienten damit weiterhin der Pandemiebewältigung. Die Entwicklung zeige, dass die bislang zur Überwindung der außergewöhnlichen Notsituation ergriffenen staatlichen Maßnahmen wirkten. Sie seien geeignet, erforderlich und angemessen, um die akuten wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzufedern und somit Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern. Nach dem wirtschaftlichen Einbruch im Jahr 2020 steige das deutsche Bruttoinlandsprodukt im laufenden und in den kommenden Jahren wieder an. Deutschland komme bisher vergleichsweise gut durch die Krise. Ohne die ergriffenen umfangreichen Stabilisierungs- und Unterstützungsmaßnahmen oder mit einem geringeren Mitteleinsatz wären der wirtschaftliche Einbruch und damit die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie weitaus tiefgreifender.

202

(b) Welche konkreten Maßnahmen der EKF schon aufgrund der ersten Zuweisung ergriffen und welche (messbaren) Folgen diese Maßnahmen hatten, bleibt jedoch unerörtert. Es ist deshalb schon unklar, ob durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 letztlich die gleichen Maßnahmen finanziert werden sollen wie mit der ursprünglichen notlagenbedingten Kreditermächtigung im Jahr 2020. Nicht weiter ausgeführt wird auch die Annahme, wonach das Bruttoinlandsprodukt wegen der ergriffenen Maßnahmen wieder ansteige.

203

(c) Eine Begründung, weshalb die noch im (Ersten) Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für erforderlich erachteten Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro zum Ende des Haushaltsjahres 2021 entgegen der ursprünglichen Planung nicht zur Krisenbewältigung verwendet worden sind, gibt der Gesetzgeber – obwohl die Gesetzesbegründung selbst auf die Erforderlichkeit der bisherigen Mittelhöhe abstellt – nicht. Eine solche Begründung war hier umso mehr angezeigt, als zwischen der Feststellung einer Notlage für das Haushaltsjahr 2021 gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG durch Beschluss vom 23. April 2021 (vgl. BTDrucks 19/28464 i.V.m. BTDrucks 19/28740) und dem Zeitpunkt der Beschlussfassung über das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 fast ein Jahr vergangen war.

204

(d) Anlass zu einer vertieften argumentativen Auseinandersetzung bestand auch mit Blick auf den Umstand, dass der EKF bereits sehr viel früher errichtet worden und die Zielsetzung der durch ihn finanzierten Programme bereits zum damaligen Zeitpunkt festgelegt worden war, ohne dass die bereits laufenden Programme den Eintritt der Krisenfolgen verhindert oder ihre Folgen begrenzt hätten (vgl. Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ <EKFG> vom 8. Dezember 2010 <BGBl I S. 1807>). Daher ist die Geeignetheit der vom Sondervermögen finanzierten Programme zur Krisenbewältigung nicht indiziert.

205

(e) Schließlich lässt die Gesetzesbegründung die notwendige Abgrenzung einer notlagenbedingten Kreditaufnahme aus Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vom Anwendungsbereich der erweiterten Kreditaufnahmemöglichkeiten aus Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG wegen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung, bei welcher die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen sind, nicht deutlich werden. Die Notwendigkeit dieser Abgrenzung folgt schon daraus, dass auch für den Rückgriff auf die Konjunkturkomponente aus Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG die Wirkungen der geplanten konjunkturpolitischen Maßnahmen durch den Bundestag hinreichend ermittelt und dargelegt werden müssen (vgl. G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 109 Rn. 96). Zyklische Konjunkturverläufe im Sinne von Auf- und Abschwung sind demgegenüber gerade keine außergewöhnlichen Ereignisse im Sinne von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG (vgl. BTDrucks 16/12410, S. 11).

206

d) Die Zuführung an den KTF durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 widerspricht zudem den sich aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG ergebenden Verfassungsgeboten der Jährlichkeit und Jährigkeit:

207

aa) Die nach der Gesamtkonzeption des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 vorgesehene faktische Vorhaltung von Kreditermächtigungen in periodenübergreifenden Rücklagen verstößt gegen die Maßgaben aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG als jahresbezogene Anforderungen. Der vom Deutschen Bundestag gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG zu fassende Beschluss im Hinblick auf die Feststellung einer Notlage bezieht sich auf ein konkretes Haushaltsjahr (vgl. Art. 115 Abs. 1 GG: „Rechnungsjahr“) und ist deshalb für jedes Haushaltsjahr gesondert zu treffen. Eine Entkoppelung der notlagenbedingten Kreditermächtigungen von der tatsächlichen Verwendung der Kreditmittel ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nicht vereinbar, wonach Kreditermächtigungen, die in einem bestimmten Haushaltsjahr ausgebracht werden, sich auf die Deckung von Ausgaben beschränken müssen, die für Maßnahmen zur Notlagenbekämpfung in eben diesem Haushaltsjahr anfallen. Der in Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vorausgesetzte „Fall“ ist jährlich festzustellen und zu verantworten. Die Mittel sind entsprechend in dem betreffenden Jahr zu verwenden.

208

bb) Mit dem Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 werden dem KTF als unselbständigem Sondervermögen des Bundes kreditfinanzierte Mittel in Höhe von 60 Milliarden Euro zugeführt, die sich auf die Berechnung der zulässigen Kreditaufnahme für das Jahr 2021 auswirken, während die vom Gesetzgeber zur Krisenbewältigung ins Auge gefassten Maßnahmen, deren Finanzierung die Kreditermächtigungen dienen sollen, für kommende Haushaltsjahre geplant sind. Tatsächlich wirksame Verschuldung entsteht für den Bund nach dieser Konzeption vor allem in den kommenden Jahren und voraussichtlich über die dann für das jeweilige Haushaltsjahr geltende verfassungsrechtliche Verschuldungsgrenze hinaus. Dabei werden die jetzt geschaffenen Kreditermächtigungen ohne Anrechnung auf die Verschuldungsgrenze des dann aktuellen Haushaltsjahres nutzbar gemacht, weil die Anrechnung bereits mit der Ermächtigung im Ausnahmejahr 2021, nicht aber mit der späteren Kreditaufnahme selbst erfolgen soll. Dies ist mit dem Grundsatz der Jährigkeit in Verbindung mit dem Grundsatz der Fälligkeit bei Anwendung der Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG nicht zu vereinbaren.

209

cc) Eine Rechtfertigung des Verstoßes gegen die Maßgaben der Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ergibt sich – entgegen der Ansicht der Bundesregierung – weder aus den Besonderheiten der Corona-Pandemie als solcher noch daraus, dass die Bundesregierung „bereits gegenwärtig notwendige und in der Zukunft zu Auszahlungen führende Verpflichtungen gegenüber Dritten nur mit einer entsprechenden finanziellen Unterlegung“ eingehen könnte.

210

(1) Der Bundesregierung ist zwar zuzugestehen, dass die Corona-Pandemie aufgrund ihrer weltweiten Tragweite und ihres ungewissen zeitlichen Verlaufs Besonderheiten aufweist. Daraus lassen sich jedoch keine Ausnahmen von den zeitlichen Maßgaben der Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ableiten, die eine länger wirkende Kreditfinanzierungsoption zu ihrer Krisenüberwindung erlaubten.

211

(2) Wenn und soweit auch in den Folgejahren die Tatbestandsvoraussetzungen einer notlagenbedingten Kreditaufnahme (erneut) erfüllt sein sollten, wäre eine solche Kreditaufnahme in der zum jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich gebotenen Höhe zulässig. Es besteht daher mit Blick auf das verfassungsgemäße Ziel der gegenwärtigen und künftigen Pandemiebewältigung weder hinsichtlich des „Ob“ noch hinsichtlich des „Wieviel“ ein sachlicher Grund dafür, auf Kreditermächtigungen aus dem Jahr 2021 zurückzugreifen.

212

(3) Dies gilt auch mit Blick auf das von der Bundesregierung vorgebrachte Argument, verbindliche finanzielle Verpflichtungen durch die Inanspruchnahme von Verpflichtungsermächtigungen durch die Bundesregierung seien in der hiesigen spezifischen Notlagensituation notwendig, um die erwünschten privaten Investitionen anzustoßen und für sie Planungssicherheit zu gewährleisten. Insoweit ist nicht ersichtlich, wieso der langfristig angenommenen Krisensituation nicht mit jährlich wiederholten Feststellungen im Sinne der Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ausreichend begegnet werden könnte.

II.

213

Schließlich entspricht das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 nicht den Anforderungen an den Zeitpunkt des Erlasses eines Nachtragshaushaltsgesetzes aus Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG.

214

1. Der Haushaltsplan ist aufgrund des Gebots der Vorherigkeit gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich vor Beginn des Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festzustellen.

215

a) Das Gebot der Vorherigkeit gemäß Art. 110 Abs. 2 GG dient der wirksamen Ausgestaltung des parlamentarischen Budgetrechts. Dieser Grundsatz zielt auf die Sicherung der Budgethoheit des Parlaments in zeitlicher Hinsicht und will insbesondere die Leitungsfunktion des Haushalts für das gesamte Haushaltsjahr gewährleisten (vgl. BVerfGE 119, 96 <120>). Wenngleich sich der Vorherigkeitsgrundsatz nach seinem Wortlaut in erster Linie an den Gesetzgeber richtet, ist Verpflichtungsadressat dieses Grundsatzes nicht nur das Parlament. Alle am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane sind gehalten, an der Erfüllung des Vorherigkeitsgebots mitzuwirken (vgl. BVerfGE 45, 1 <33>; 66, 26 <38>). Dies gilt auch für die Bundesregierung, der das alleinige Initiativrecht zur Einbringung eines (Nachtrags-)Haushaltsgesetzes zusteht (vgl. BVerfGE 45, 1 <46>). Von dieser ausschließlichen haushaltsgesetzlichen Initiativkompetenz sind das Recht und die Pflicht zur rechtzeitigen Einbringung und damit auch zum rechtzeitigen Abschluss der Vorbereitungsarbeiten zu den Entwürfen der Einzelpläne und des Gesamthaushaltsplans umfasst (vgl. BVerfGE 119, 96 <120 f.>).

216

b) Das Gebot der Vorherigkeit gilt grundsätzlich auch bei der Aufstellung von Nachtragshaushalten (noch offenlassend BVerfGE 119, 96 <122 f.>). Zwar bezieht sich Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG nach seinem Wortlaut nicht unmittelbar auf Nachtragshaushalte, die wesensgemäß erst während des laufenden Haushaltsjahres eingebracht werden können. Im Hinblick auf den Schutzzweck des Vorherigkeitsgebots, das im Zusammenspiel mit den Grundsätzen der Vollständigkeit und Wahrheit des Haushalts auf die Gewährleistung der Lenkungs- und Kontrollfunktionen des Haushaltsgesetzes und damit auf die Wirksamkeit der Budgethoheit des Parlaments zielt, ist jedoch eine entsprechende Anwendung auf die Einbringung eines Nachtragshaushalts geboten. Das Vorherigkeitsgebot wird dann zu einem Verfassungsgebot rechtzeitiger, nicht willkürlich verzögerter Korrektur oder Anpassung ursprünglich oder nachträglich realitätsfremder Haushaltsansätze (vgl. BVerfGE 119, 96 <122>).

217

c) Der Senat hat die Frage, ob dem Vorherigkeitsgebot im Zusammenhang mit dem Erlass eines Nachtragshaushalts Verfassungsrang zukommt und welche Folge ein Verstoß gegen das Vorherigkeitsgebot beim Erlass eines Nachtragshaushalts nach sich zieht, bislang offengelassen (vgl. BVerfGE 119, 96 <123 f.>). Ausgangspunkt der damaligen Entscheidung war eine Konstellation, bei der „erst Mitte Oktober 2004 statt zu einem bereits wesentlich früheren Zeitpunkt“ ein Nachtragshaushaltsgesetz für das Haushaltsjahr 2004 eingebracht worden war. Verfassungsrechtlicher Maßstab für diese Konstellation sei die (Verfas- sungs-)Organtreue, das heißt die Verpflichtung zu gegenseitiger Rücksichtnahme, und die Beachtung von Sorgfaltspflichten bei der Kompetenzwahrnehmung der beteiligten Organe (vgl. BVerfGE 119, 96 <124 f.>). Im Zentrum des Verfahrens stand deshalb die Problematik, ob organschaftliche Pflichtverletzungen im Wege einer Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) geltend gemacht werden können, das heißt, ob die betreffenden Pflichten als verfassungsrechtliche Anforderungen zu qualifizieren sind und deshalb auf das Haushaltsgesetz als solches durchschlagen oder ob hierfür nicht allein das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) berufen ist (vgl. BVerfGE 119, 96 <122 f.>). Eine entsprechende Pflichtverletzung der Bundesregierung vermochte der Senat nicht festzustellen, weshalb er die Frage dahinstehen lassen konnte.

218

d) Im vorliegenden Fall geht es dagegen nicht um eine organschaftliche Pflichtverletzung, weil ein Nachtragshaushalt nicht im laufenden Haushaltsjahr „verspätet“ verabschiedet wurde, sondern darum, dass ein Nachtragshaushaltsgesetz für das Jahr 2021 überhaupt erst nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 beschlossen wurde.

219

aa) Einfachrechtlich folgt aus § 33 Satz 2 BHO, dass ein Nachtragsentwurf bis zum Ende des Haushaltsjahres einzubringen ist. In der Literatur besteht jedoch die einhellige Meinung, diese Vorschrift verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass ein Nachtragsentwurf bis zum Jahresende parlamentarisch zu beschließen ist, weil er anderenfalls nichtig wäre (vgl. v. Lewinski/Burbat, Bundeshaushaltsordnung, 1. Aufl. 2013, § 33 Rn. 7; Nebel, in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, Art. 110 GG Rn. 77 <Mai 2020> und § 33 BHO Rn. 1 <Juli 2012>; Mayer, in: Heuer/Scheller, Kommentar zum Haushaltsrecht, § 33 BHO, Rn. 31-35 <Dez. 2019>; Tappe, in: Gröpl, BHO/LHO, 2. Aufl. 2019, § 33 BHO Rn. 31-33; Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 205; Dittrich, in: Bundeshaushaltsordnung, § 33 BHO Rn. 5 <Juli 2020>; Reimer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 110 Rn. 18 <Aug. 2023>).

220

bb) Für diese Auffassung spricht, dass ein Nachtragshaushalt die ursprüngliche Planung den neuen oder geänderten Bedürfnissen anpassen soll und aus diesem Grunde selbst – wie § 33 Satz 1 BHO und § 45 Abs. 1 BHO zeigen – planenden Charakter für den Rest des laufenden Haushaltsjahres haben muss (vgl. Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 205). Dieser Planungscharakter entfällt bei der Verabschiedung eines Nachtragshaushalts erst nach Ablauf des Haushaltsjahres. Der Haushaltsvollzug ist dann abgeschlossen und kann nicht mehr beeinflusst werden (vgl. Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 206). Die parlamentarische Beschlussfassung über einen Nachtragsentwurf nach Abschluss eines Haushaltsjahres widerspricht damit der Funktion eines Haushaltsplans als Planungsinstrument. Ein nach Ablauf seiner Geltungsdauer im Folgejahr beschlossener Nachtragshaushalt ist deshalb kein zulässiges und zielführendes Instrument, um den abgeschlossenen Haushaltsvollzug im Nachhinein zu verändern (vgl. Stellungnahme des Bundesrechnungshofs zum zweiten Nachtragshaushaltsentwurf 2021, S. 7). Haushaltsgesetze und die dazugehörigen Haushaltspläne sollen die staatliche Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft für das jeweilige Haushaltsjahr steuern. Nach dessen Ablauf ist eine Steuerung grundsätzlich aber nicht mehr möglich, denn „Ausgaben können rückwirkend nicht mehr getätigt und Verpflichtungen rückwirkend nicht mehr eingegangen werden“ (vgl. Gröpl, ZG 2022, S. 141 <150>). Es besteht demnach kein Grund, solche Maßnahmen rückwirkend durch Kreditermächtigungen zu decken oder durch aufgenommene Kredite zu finanzieren.

221

cc) Während Verstöße gegen das Vorherigkeitsgebot beim Erlass des Stammhaushalts mit Blick auf die Systematik von Art. 111 GG sanktionslos bleiben, kann dies nicht auf einen verspäteten Nachtragshaushalt übertragen werden. Art. 111 GG erlaubt der Bundesregierung für eine etatlose Zeit eine vorläufige Haushalts- und Wirtschaftsführung über die Einräumung gewisser Nothaushaltskompetenzen. Für den Fall eines verspäteten Nachtragshaushaltes gibt es jedoch keine dem Art. 111 GG entsprechende Vorschrift (vgl. Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 214 f.).

222

2. An diesen Maßstäben gemessen ist das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 mit Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar.

223

a) Die Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes für das Jahr 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 – das Gesetz wurde vom Deutschen Bundestag am 27. Januar 2022 beschlossen und am 25. Februar 2022 im Bundesgesetzblatt verkündet – widerspricht damit dem verfassungsrechtlich in Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Haushaltsgrundsatz der Vorherigkeit. Bei diesem Grundsatz handelt es sich nicht nur um einen Ausdruck organschaftlicher Pflichten, sondern um eine verfassungsrechtlich justiziable Maßgabe an ein Nachtragshaushaltsgesetz.

224

b) Dass die rückwirkende Änderung des Haushaltsgesetzes 2021 durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz die Funktion eines Haushaltsgesetzes als Planungsinstrument verfehlt, ergibt sich im Übrigen aus der Gesetzesbegründung selbst. Dort weist die Bundesregierung darauf hin, dass staatliche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung für das Haushaltsjahr 2021 nicht mehr umsetzbar seien (vgl. BTDrucks 20/300, S. 5).

225

c) Unabhängig von der Frage, ob eine Rechtfertigung dieses Verstoßes überhaupt in Betracht kommt, sind Gründe hierfür weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

226

aa) Dem Gesetzentwurf sind keine Ausführungen hierzu zu entnehmen. Dabei bestand für den Erlass eines Nachtragshaushaltsgesetzes kein zwingendes sachliches Erfordernis, denn notwendige nachträgliche Korrekturen nach Abschluss eines Haushaltsjahres gehören nicht in einen Nachtragshaushalt, sondern sind im Haushaltsplan des Folgejahres zu berücksichtigen (vgl. Mayer, in: Heuer/Scheller, Kommentar zum Haushaltsrecht, § 33 BHO, Rn. 35 <Dez. 2019>). Dies kann entweder durch die Aktualisierung des noch in der parlamentarischen Beratung befindlichen Entwurfs für das Haushaltsgesetz des Folgejahres oder durch Einbringung eines Nachtragshaushaltsgesetzes für das bereits beschlossene Haushaltsgesetz des Folgejahres geschehen.

227

bb) Etwas anderes folgt – entgegen der Ansicht der Bundesregierung – nicht daraus, dass in Anbetracht der hiesigen Verfahrensabläufe eine Beeinträchtigung des parlamentarischen Budgetrechts des Deutschen Bundestages fernliegen würde. Das Vorherigkeitsgebot zielt im Zusammenspiel mit den Grundsätzen der Vollständigkeit und Wahrheit des Haushalts auf die Gewährleistung der Lenkungs- und Kontrollfunktionen des Haushaltsgesetzes und damit auf die Wirksamkeit der Budgethoheit des Parlaments ab. Im Falle eines Nachtragshaushaltsgesetzes wird der Vorherigkeitsgrundsatz zu einem Verfassungsgebot rechtzeitiger, nicht willkürlich verzögerter Korrektur oder Anpassung ursprünglich oder nachträglich realitätsfremder Haushaltsansätze (vgl. BVerfGE 119, 96 <122>). Der Verabschiedung eines Nachtragshaushalts nach Ablauf des Haushaltsjahres kann gedanklich schon keine Lenkungs- und Kontrollfunktion mehr zukommen.

228

cc) Die von der Bundesregierung angeführte Planungssicherheit für private Investoren hätte sich – wenn auch mit einer gewissen Verzögerung – mit einer Aufnahme in den ohnehin bereits in der Planung befindlichen Jahreshaushalt 2022 realisieren lassen.

III.

229

Ob in Anbetracht des weitreichenden Gebrauchs sogenannter globaler Ansätze zugleich ein Verstoß gegen den Grundsatz der Haushaltsklarheit und -wahrheit gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG gegeben ist, brauchte der Senat nicht mehr zu entscheiden.

D.

230

Die Unvereinbarkeit von Art. 1 und Art. 2 des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes mit Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG führt zur Nichtigkeit des Gesetzes.

231

Für eine von der grundsätzlichen Regelung in § 95 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 78 Satz 1 BVerfGG abweichende Unvereinbarkeitserklärung besteht mangels Vorliegens der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierfür erforderlichen Voraussetzungen (vgl. BVerfGE 105, 73 <133>) kein Anlass.

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BGH, Urteil vom 9. November 2023 – III ZR 105/22

Donnerstag, 9. November 2023

unerlaubte Bankgeschäfte

§ 32 Abs 1 KredWG, § 54 Abs 1 Nr 2 Alt 1 KredWG, § 54 Abs 2 KredWG, § 14 Abs 1 Nr 1 StGB, § 276 BGB, § 823 Abs 2 BGB

Haftung eines Organs für unerlaubte Bankgeschäfte

1. Wer entgegen § 32 Abs. 1 KWG ohne entsprechende Erlaubnis Bankgeschäfte erbringt, macht sich bei fahrlässigem oder vorsätzlichem Handeln gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1, Abs. 2 KWG strafbar. Wirken die Geschäfte berechtigend und verpflichtend für eine juristische Person, trifft die strafrechtliche Verantwortlichkeit gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB denjenigen, der in organschaftlicher Stellung für die juristische Person tätig ist (Bestätigung von BGH, Urteile vom 15. Mai 2012 – VI ZR 166/11, NJW 2012, 3177 Rn. 19 und vom 12. Dezember 2019 – IX ZR 77/19, NJW-RR 2020, 292 Rn. 35).(Rn.16)

2. Die objektive Organstellung allein ist nicht hinreichend, um eine Haftung zu begründen. Es bedarf zusätzlich des Verschuldens, § 276 BGB, das gesondert festgestellt werden muss.

3. Interne Zuständigkeitsregelungen in der Geschäftsleitung einer juristischen Person können zwar nicht zu einer Aufhebung, wohl aber zu einer Beschränkung der straf- und haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit führen. Es bestehen jedoch in jedem Fall gewisse Überwachungspflichten, die das danach unzuständige Organ zum Eingreifen veranlassen müssen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Erfüllung der der Gesellschaft obliegenden Aufgaben durch das zuständige Organ nicht mehr gewährleistet ist (Fortführung von BGH, Urteil vom 15. Oktober 1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 377 f).

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird der Beschluss des 5. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 23. Mai 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Der Kläger macht aus eigenem sowie von seiner Ehefrau abgetretenem Recht Schadensersatzansprüche wegen gescheiterter Investitionen in Tochtergesellschaften der E.   C.    AG (nachfolgend auch: Gesellschaft) mit Sitz in der Schweiz geltend. Der Beklagte war „Direktor“ der Gesellschaft und Geschäftsführer der Tochtergesellschaften, die als Projektgesellschaften Immobilienprojekte durchführen sollten. Inzwischen sind die E.    C.    AG und die Projektgesellschaften insolvent. Keine dieser Gesellschaften verfügte über eine Erlaubnis zum Betrieb von Bankgeschäften.Randnummer2

Am 6. April 2018 schlossen der Kläger und seine Ehefrau mit der E.  C.    AG einen „Beteiligungsvertrag“, nach dem sie 50.000 € in das Projekt „M.             K.       “ investierten. Der Vertrag sah eine Laufzeit von 24 Monaten, eine Verpflichtung „zur vollständigen Rückzahlung der Investitionssumme bis spätestens zum Ende der vorgenannten Festlegungsfrist“ und eine feste Verzinsung von 6 % p.a. vor. Die E.   C.    AG wurde beim Vertragsschluss durch K.  B.   , Mitglied des Verwaltungsrats und Prokurist der Projektgesellschaften, vertreten.Randnummer3

Der Kläger hat behauptet, die E.    C.     AG sei eine reine Briefkastenfirma gewesen, die gesamte Geschäftstätigkeit sei über die deutschen Projektgesellschaften abgewickelt worden. Auf Vorgabe des Beklagten und des K.  B.   sei den Investoren eine feste Verzinsung zugesagt worden. Kerngeschäft der E.    C.     AG sei das Einsammeln von Geldern gewesen. Der Kläger begehrt Rückzahlung des von ihm investierten Betrags nebst Zinsen Zug um Zug gegen Abtretung seiner Rechte aus dem Beteiligungsvertrag sowie die Feststellung des Verzugs des Beklagten mit der Annahme dieser Rechte aus dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der E.    C.     AG.Randnummer4

Der Beklagte hat sich insbesondere damit verteidigt, lediglich Direktor mit einem eingeschränkten Aufgabenbereich gewesen zu sein. Er sei als Architekt allein mit der Leitung und Überwachung der Bauprojekte von der technischen Seite befasst gewesen. Die Wahrnehmung von Aufgaben im finanziellen Bereich sei ihm nicht übertragen gewesen. Dementsprechend habe er keine Kenntnis von den Beteiligungsverträgen gehabt, die K.  B.   für die E.   C.    AG abgeschlossen habe.Randnummer5

Das Landgericht hat der Klage bis auf einen geringen Teil der Zinsen stattgegeben. Die Berufung des Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision möchte der Beklagte die Abweisung der Klage erreichen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

Das Oberlandesgericht hat ausgeführt, dem Kläger stehe ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 32 Abs. 1 Satz 1 KWG zu. Deutsche Gerichte seien zuständig und nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 EGBGB, § 3 StGB sei deutsches Recht anwendbar. Die E.    C.    AG habe gegen § 32 Abs. 1 Satz 1 KWG, der Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sei, verstoßen, indem sie unbedingt rückzahlbare Gelder angenommen und damit im Inland gewerbsmäßig ein Einlagengeschäft ohne die hierzu erforderliche Erlaubnis betrieben habe.Randnummer8

Der Beklagte habe das Betreiben der unerlaubten Bankgeschäfte (mit) zu verantworten. Wirkten die Bankgeschäfte für eine juristische Person, ergebe sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB und treffe danach denjenigen, der in organschaftlicher Stellung für diese tätig sei.Randnummer9

Der Beklagte hafte als Organ der E.   C.     AG. Er sei nach dem insofern maßgeblichen Schweizer Recht als Direktor der Gesellschaft deren Organ und für diese neben K.  B.   alleinvertretungsberechtigt gewesen. Der Direktor sei zwar kein zwingendes Organ einer Aktiengesellschaft, auf ihn könnten jedoch Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnisse übertragen werden.Randnummer10

Der Beklagte hafte aber auch ohne organschaftliche Stellung als Leitungsperson der E.    C.    AG. Selbst im Falle einer Beschränkung seiner Geschäftsführungsbefugnisse sei er bei der Gesamtbetrachtung seiner Stellung in der E.   -C.    Gruppe für das Betreiben der unerlaubten Bankgeschäfte mitverantwortlich gewesen. Er sei bei der E.   C.    AG alleinvertretungsberechtigt und zudem Geschäftsführer der Projektgesellschaften gewesen. Auch im Außenverhältnis, nämlich im Internetauftritt und in der Werbebroschüre, sei er als maßgeblich handelnde Person aufgetreten. Dort sei angegeben, man habe von Anfang an auf Eigenkapital bei der Finanzierung gesetzt. Auf eine Beschränkung seiner Zuständigkeit könne sich der Beklagte nicht berufen, da das Einwerben privater Gelder wesentlicher Teil des Geschäftsmodells der E.    C.    Gruppe gewesen sei. Zudem habe den Beklagten als Geschäftsführer der Projektgesellschaften eine grundsätzliche Verantwortung auch für die Finanzierung und für die Frage, wie und in welcher Art und Weise die Finanzmittel eingeworben werden sollten, getroffen. Auf eine Haftung aufgrund von § 25a KWG komme es daher nicht an.Randnummer11

Der Beklagte habe schuldhaft, jedenfalls fahrlässig, gehandelt. Ein eventueller Verbotsirrtum sei jedenfalls vermeidbar gewesen. Dem Beklagten habe klar sein müssen, dass es nicht ohne weiteres zulässig sei, Gelder von Privatpersonen einzuwerben und für die Durchführung von Gewerbeprojekten zu nutzen. Im Falle einer Nachfrage hätte er eine entsprechende Auskunft über die Erlaubnispflicht der streitgegenständlichen Geschäfte erlangen können, so dass er hätte nachfragen müssen.Randnummer12

Dem Kläger und seiner Ehefrau sei ein Schaden in Höhe der Anlagesumme entstanden, den geltend zu machen der Kläger berechtigt sei.

II.

Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung nicht in allen Punkten stand.Randnummer14

1. Zutreffend hat das Berufungsgericht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte und die Anwendbarkeit deutschen Rechts bejaht. Auch die Revision bringt hiergegen nichts vor.Randnummer15

2. Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht zudem davon ausgegangen, dass § 32 Abs. 1 Satz 1 KWG (in der hier maßgeblichen bis zum 11. August 2022 geltenden Fassung) ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist und dass die E.   C.    AG hiergegen verstoßen hat. Dagegen lässt sich auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht sicher beurteilen, ob der Beklagte für aus den Bankgeschäften der E.   C.     AG entstandene Schäden haftet.Randnummer16

a) Zutreffend hat das Berufungsgericht zugrunde gelegt, dass derjenige, der entgegen § 32 Abs. 1 KWG ohne entsprechende Erlaubnis Bankgeschäfte erbringt, sich bei fahrlässigem oder vorsätzlichem Handeln gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1, Abs. 2 KWG strafbar macht. Wirken die Geschäfte berechtigend und verpflichtend für eine juristische Person, so ist diese zivilrechtlich der Betreiber der Geschäfte; die strafrechtliche Verantwortlichkeit ergibt sich in diesen Fällen aus § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Sie trifft denjenigen, der in organschaftlicher Stellung für die juristische Person tätig ist (BGH, Urteile vom 15. Mai 2012 – VI ZR 166/11, NJW 2012, 3177 Rn. 19 und vom 12. Dezember 2019 – IX ZR 77/19, NJW-RR 2020, 292 Rn. 35; jew. mwN).Randnummer17

Daraus folgt, dass die objektive Organstellung allein nicht hinreichend ist, um eine Haftung zu begründen. Es bedarf zusätzlich des Verschuldens, § 276 BGB, das dementsprechend gesondert festgestellt werden muss. Zwar begründen die generelle Legalitätspflicht (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 10. Juli 2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 Rn. 22) wie auch die Pflichten des Geschäftsleiters nach § 25a Abs. 1 Satz 2 KWG weitreichende Sorgfaltspflichten. Diese schließen eine Delegation von Aufgaben und damit eine Übertragung von Verantwortung jedoch nicht aus. So können etwa interne Zuständigkeitsregelungen in der Geschäftsleitung einer Gesellschaft mit beschränkter HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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Haftung
zwar nicht zu einer Aufhebung, wohl aber zu einer Beschränkung der straf- und haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit führen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Oktober 1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 377). Dies beruht auf dem Gedanken, dass der Geschäftsführer den ihm zukommenden Handlungspflichten für die Gesellschaft als Ganzes auf unterschiedliche Weise nachkommen kann. Auch durch organisatorische Maßnahmen kann er zur Erfüllung der der Gesellschaft obliegenden Pflichten beitragen, indem er etwa an einer Regelung mitwirkt, durch die jedem Geschäftsführer bestimmte Aufgaben zugewiesen werden. Durch eine derartige Aufteilung der Geschäfte wird die Verantwortlichkeit des nicht betroffenen Geschäftsführers nach innen und außen beschränkt, denn im allgemeinen kann er sich darauf verlassen, dass der zuständige Geschäftsführer die ihm zugewiesenen Aufgaben erledigt. Doch verbleiben dem nicht betroffenen Geschäftsführer in jedem Fall kraft seiner Allzuständigkeit gewisse Überwachungspflichten, die ihn zum Eingreifen veranlassen müssen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Erfüllung der der Gesellschaft obliegenden Aufgaben durch den zuständigen Geschäftsführer nicht mehr gewährleistet ist (vgl. BGH aaO S. 377 f mwN).Randnummer18

Wie die interne Organisation der Gesellschaft ausgestaltet ist, entzieht sich in der Regel ebenso der Wahrnehmung des einzelnen Anlegers wie die Umstände, aus denen sich Anhaltspunkte ergeben können, die das Organ verpflichten, die Führung der Geschäfte auch außerhalb seines eigentlichen Verantwortungsbereichs näher zu kontrollieren und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen, um deren Gesetzmäßigkeit sicherzustellen. Bezüglich dieser Umstände trifft daher das Organ nach allgemeinen Grundsätzen eine sekundäre Darlegungslast (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 4. Februar 2021 – III ZR 7/20, NJW 2021, 1759 Rn. 19).Randnummer19

b) Ob der Beklagte für die Bankgeschäfte der E.   C.     AG im Allgemeinen und den Vertragsschluss mit dem Kläger und seiner Ehefrau im Besonderen nach diesen Maßstäben verantwortlich war, ist auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts offen. Das Berufungsgericht hat lediglich festgestellt, dass der Beklagte zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses Organ der E.   C.    AG war. Zu dessen Behauptung, für den Abschluss von Verträgen nicht zuständig gewesen zu sein und von den Beteiligungsverträgen keine Kenntnis gehabt zu haben, hat es keine Feststellungen getroffen. Unterstellt man diese Behauptung, kommt eine Haftung des Beklagten nur wegen der Verletzung von Überwachungspflichten in Betracht. Ob solche bestanden, hat das Berufungsgericht indes nicht erörtert.Randnummer20

Die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts genügen auch nicht, um dem Senat die Würdigung zu ermöglichen, ob für den Beklagten Anhaltspunkte bestanden, die Überwachungspflichten ausgelöst hätten. Insbesondere kann allein daraus, dass ihm bekannt war, dass die E.    C.     AG Gelder einwarb, nicht darauf geschlossen werden, es sei für ihn erkennbar gewesen, dass die Gesellschaft Einlagen- und damit Bankgeschäfte betrieb. Gegenteiliges folgt auch nicht aus der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (NJW-RR 2017, 547). Soweit dort ausgeführt ist, die Unzuständigkeit eines Geschäftsführers für den Abschluss von Verträgen lasse seine Verantwortlichkeit dann nicht entfallen, wenn diese Tätigkeit Teil des Geschäftsmodells der Gesellschaft sei, lag dem die Feststellung zugrunde, dass „sämtliche entsprechenden Geschäftsabschlüsse mit seinem [des Geschäftsführers] Wissen und Wollen“ erfolgt waren (OLG FrankfurtBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Frankfurt
aaO Rn. 28). Bei einer solchen Kenntnis – die hier gerade nicht festgestellt ist – bestehen nach den dargestellten Maßstäben bereits nicht mehr nur Überwachungspflichten, sondern ist das Organ zum Einschreiten gegen die Geschäftspraxis verpflichtet.Randnummer21

Hinreichende Feststellungen zu einem Verschulden des Beklagten ergeben sich auch nicht aus den Erwägungen des Berufungsgerichts, dass der Beklagte (auch) faktischer GeschäftsführerBitte wählen Sie ein Schlagwort:
faktischer Geschäftsführer
Geschäftsführer
der E.   C.     AG gewesen sei. Soweit es festgestellt hat, in Werbematerialien der Gesellschaft sei ausgeführt, man habe „von Anfang an auf Eigenkapital bei der Finanzierung der Projekte gesetzt“, lässt sich hieraus nichts dafür herleiten, dass der Beklagte Kenntnis von den unerlaubten Bankgeschäften hatte oder hätte haben müssen. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass – wie die Revision zutreffend rügt – aus der Ankündigung, „Eigenkapital“ einwerben zu wollen, nicht geschlossen werden kann, dass K.   B.   Fremdkapital in Form von Einlagen einwerben würde. Denn der Verstoß gegen § 32 Abs. 1 Satz 1 KWG besteht gerade darin, dass die eingeworbenen Gelder nicht Eigenkapital waren und damit am Risiko der Gesellschaft teilgenommen hätten, sondern es sich um Fremdkapital handelte, das sich durch eine unbedingte Rückzahlungsverpflichtung auszeichnete.

III.Randnummer22

Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache ist, da sie zur Endentscheidung nicht reif ist, zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO).

Schlagworte: Erlaubnispflicht § 32 Abs. 1 KWG, Haftung Vorstand, unerlaubte Bankgeschäfte

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BGH, Urteil vom 9. November 2023 – VII ZR 190/22

Donnerstag, 9. November 2023

Verstoß gegen § 3 RDG

BGB § 134, § 311, § 823 Abs. 2 Bf; RDG § 3; HOAI (2009) § 33

Eine Vereinbarung, durch die sich ein Architekt verpflichtet, eine von ihm selbst entworfene, der Interessenlage des Bestellers entsprechende Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung zu stellen, ist wegen eines Verstoßes gegen das in § 3 RDG geregelte gesetzliche Verbot nach § 134 BGB nichtig.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 30. September 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Klägerin verlangt vom dem beklagten Architekten Schadensersatz.2

Anfang 2010 beauftragte M.  V.   e.K., der Rechtsvorgänger der Klägerin (nachfolgend einheitlich: Klägerin), den Beklagten mit Architektenleistungen der Leistungsphasen 1 bis 8 gemäß § 33 HOAI (2009) hinsichtlich des Neubaus eines Fabrikations- und Verwaltungsgebäudes. Der Beklagte stellte der Klägerin unter anderem einen Bauvertragsentwurf mit einer von ihm formulierten Skontoklausel zur Verfügung, den diese bei der Beauftragung von zumindest vier bauausführenden Unternehmern verwandte.3

Unter Verwendung dieses Bauvertragsentwurfs beauftragte die Klägerin im März 2011 auch die J.  & J.  Bau GmbH mit Erd- und Kanalisations- sowie Rohbauarbeiten. Dieser Vertrag enthält unter „E. Auftragsbestätigung“ folgende Vereinbarung:

„Die Fa. J.  gewährt … ein Skonto von 3 % bei Zahlungen der durch die Bauleitung geprüften und angewiesenen Abschlagszahlungen bzw. Schlussrechnung innerhalb 10 Arbeitstagen nach Eingang bei der Bauherrschaft.“4

Von der Schlussrechnung der J.  & J.  Bau GmbH behielt die Klägerin einen 3 %-igen Skontoabzug von 105.125,00 € netto (entsprechend 125.098,75 € brutto) ein.5

In einem Rechtsstreit der Klägerin gegen die J.  & J.  Bau GmbH erhob diese Widerklage auf Zahlung von 125.098,75 € mit der Begründung, die Skontoklausel sei als Allgemeine Geschäftsbedingung unwirksam, so dass die Klägerin zu Unrecht von der Schlussrechnung 125.098,75 € einbehalten habe. In diesem Prozess schlossen die Klägerin und die J.  & J.  Bau GmbH einen Vergleich, in dem sich die Klägerin den von der Schlussrechnung zurückbehaltenen Betrag auf die von ihr gegen die J.  & J.  Bau GmbH geltend gemachten Ansprüche anrechnen ließ.6

Die Klägerin ist der Auffassung, ihr sei der auf die Schlussrechnung der J.  & J.  Bau GmbH vorgenommene Skontoabzug nur deshalb nicht verblieben, da die vom Beklagten vorgeschlagene Skontoklausel unwirksam gewesen sei. Der Beklagte sei deshalb zum Schadensersatz in Höhe von 125.098,75 € verpflichtet.7

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.9

Auf das Schuldverhältnis der Parteien ist das Bürgerliche Gesetzbuch in der Fassung anzuwenden, die für ab dem 1. Januar 2002 und bis zum 31. Dezember 2017 geschlossene Verträge gilt, Art. 229 § 5 Satz 1, § 39 EGBGB.

I.10

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:11

Ein Anspruch der Klägerin aus § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB bestehe nicht.12

Zwar habe der Beklagte mit der Skontoklausel eine Allgemeine Geschäftsbedingung vorgeschlagen, die einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht standhalte. Denn nach der Skontoklausel beginne die Skontofrist erst nach der Prüfung der Rechnung durch den Architekten und der Weiterleitung der geprüften Rechnung mit dem Eingang beim Auftraggeber, ohne dass der Auftragnehmer auf diesen Zeitraum vom Eingang der Rechnung beim Architekten bis zu deren Eingang beim Auftraggeber irgendeinen Einfluss hätte. Damit könne der Beginn der Skontofrist von Seiten des Auftraggebers auf einen vom Auftragnehmer nicht beherrschbaren Zeitraum verschoben werden, der unter Umständen Monate nach Rechnungseingang beim Architekten liege. Dies stelle eine unangemessene Benachteiligung des Auftragnehmers dar.13

Der Beklagte habe mit dem Vorschlag zur Verwendung der Skontoklausel jedoch keine Pflicht verletzt. Nach Anlage 11 zu § 33 Satz 3 HOAI (2009) gehöre zur Leistungsphase 7 gemäß Buchst. h) die Mitwirkung bei der Auftragserteilung. Unter Mitwirkung bei der Auftragserteilung sei die Vorbereitung und Anpassung der Verträge zu verstehen. Damit komme jedoch nicht zum Ausdruck, dass der Beklagte einen juristisch geprüften, rechtlich einwandfreien Vertragsentwurf geschuldet habe. Ein Architekt würde wie ein Rechtsanwalt behandelt werden, wenn man ihm die Pflicht auferlegte, jede selbst entworfene oder aus einen ihm zur Kenntnis gelangten Bauvertrag entnommene Klausel einem Anwalt zur Überprüfung vorzulegen. Anderenfalls könnte der Architekt einer Haftung im Bereich der Vertragsgestaltung nur entgehen, wenn er sich selbst anwaltlich beraten lassen würde. Das Architektenhonorar decke jedoch grundsätzlich die Leistung des Architekten ab und nicht zusätzliche Anwaltskosten. Ein Bauherr könne auch von seinem Architekten angesichts von dessen Ausbildung bei der Vertragsgestaltung keine vertieften juristischen Kenntnisse erwarten.14

Vor diesem Hintergrund sei eine Verletzung einer – beschränkten – Pflicht des Beklagten zur juristischen Kontrolle der von ihm vorgeschlagenen Skontoregelung nicht festzustellen. Eine nähere Prüfung oder die Anregung einer rechtlichen Überprüfung einer Vertragsbestimmung in einem Bauvertrag müsse der mit der Leistungsphase 7 beauftragte Architekt nur vornehmen oder veranlassen, wenn es hierfür einen konkreten Anlass gebe, was hinsichtlich der hier verwendeten Skontoklausel nicht der Fall sei. Eine eigene AGB-rechtliche Kontrolle der Klausel habe der Beklagte nicht vornehmen können und müssen.15

Den Beklagten habe des Weiteren keine Hinweispflicht auf nur begrenzte Rechtskenntnisse getroffen, da auch ohne einen solchen Hinweis jedem klar sei und damit auch der Klägerin hätte klar gewesen sein müssen, dass von einem Architekten als Nicht-Juristen keine vertieften Rechtskenntnisse zu erwarten seien und auch nicht zu erwarten sei, dass der Architekt alle Verträge auf eigene Kosten rechtlich prüfen lasse.16

In der Berufungsinstanz habe der Beklagte in der mündlichen Verhandlung erklärt, er habe die Skontoklausel entworfen und diese Fassung mit einem inzwischen verstorbenen Rechtsanwalt abgestimmt. Die Klägerin habe diesen Vortrag des Beklagten bestritten, aber nicht widerlegt. Damit habe der Beklagte seine Pflichten zur Mitwirkung an der Vertragsgestaltung dadurch vertragsgemäß erfüllt, dass er die Skontoklausel einem Rechtsanwalt zur Prüfung vorgelegt habe, der keinen Grund gesehen hätte, diese Klausel zu beanstanden.17

Mangels Pflichtverletzung des Beklagten könne dahingestellt bleiben, ob die Klägerin und die J.  & J.  Bau GmbH die Skontoklausel individualvertraglich vereinbart hätten und ob der Klägerin tatsächlich ein Schaden entstanden sei.

II.18

Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Klage nicht abgewiesen werden.19

Zwar hat das Berufungsgericht jedenfalls im Ergebnis zu Recht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin aus § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB verneint. Der Revision kann aber gleichwohl der Erfolg nicht versagt werden, weil das Berufungsgericht bei seiner rechtlichen Würdigung den Streitstoff nicht ausgeschöpft hat. Auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts kommt nämlich ein Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz aus § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB beziehungsweise aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 RDG in Betracht, weil der Beklagte durch die Zurverfügungstellung der von ihm selbst entworfenen Skontoklausel gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen hat. Unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt hat das Berufungsgericht den Sachverhalt nicht geprüft und deshalb eine hierauf gestützte Haftung des Beklagten in seine Erwägungen nicht einbezogen.20

1. a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Beklagte einen Vertragstext mit der von ihm selbst entworfenen Skontoklausel der Klägerin zu deren Verwendung in ihren eigenen Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung gestellt. Die Klägerin hat diese Klausel in der Annahme, dass sie ihrer Interessenlage gerecht wird, bei Vertragsabschlüssen mit zumindest vier bauausführenden Unternehmern – darunter der Beauftragung der J.  & J.  Bau GmbH im März 2011 – verwendet. Dieser Erwartung der Klägerin wollte der Beklagte auch entsprechen, da er nach seinem Vortrag die von ihm entworfene Skontoklausel vor ihrer Verwendung einem Rechtsanwalt zur Prüfung vorgelegt hat.21

b) Auf dieser Grundlage kann eine Haftung des Beklagten – entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – nicht damit abgelehnt werden, „jedem“ habe klar sein müssen, dass der Beklagte als Architekt nicht über entsprechende juristische Kenntnisse verfüge. Ein solcher Erfahrungssatz besteht nicht. Dem Besteller als im Regelfall Laien auf dem Gebiet des Bauens und des Rechts erschließt sich grundsätzlich nicht, was von der Kompetenz des Architekten noch umfasst wird oder ausschließlich zum Aufgabenbereich der Anwaltschaft gehört.22

c) Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft außer Betracht gelassen, dass die Parteien mit der Zurverfügungstellung der Skontoklausel durch den Beklagten, damit die Klägerin diese zur Wahrnehmung ihrer Interessen in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern verwenden konnte, eine gemäß § 3 RDG unzulässige Rechtsdienstleistung zum Gegenstand ihres Architektenvertrages gemacht haben (dazu unter 2.). Der Verstoß gegen § 3 RDG entzieht zwar einem Schadensersatzanspruch aus § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB die erforderliche vertragliche Grundlage, da er jedenfalls insoweit zur Nichtigkeit des Vertrages gemäß § 134 BGB führt, als dieser die unerlaubte Rechtsdienstleistung umfasst. Er schließt aber eine Haftung des Beklagten aus § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB beziehungsweise aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 RDG nicht aus (dazu unter 3.).23

2. Nach § 3 RDG ist die selbständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch das Rechtsdienstleistungsgesetz oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird.24

Die Voraussetzungen von § 3 RDG liegen vor. Der Beklagte erbrachte eine Rechtsdienstleistung nach § 2 Abs. 1 RDG (a), die weder durch § 5 Abs. 1 Satz 1, 2 RDG (b) noch durch Anlage 11 Leistungsphase 7 Buchstabe h) zu § 33 Satz 3 HOAI (2009) erlaubt wird (c) und für die es auch sonst keine Rechtfertigung gibt (d).25

a) Der Beklagte hat eine Rechtsdienstleistung erbracht, indem er der Klägerin eine vermeintlich ihrer Interessenlage entsprechende Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung gestellt hat.26

Nach § 2 Abs. 1 RDG ist eine Rechtsdienstleistung jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine Prüfung des Einzelfalls erfordert. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst diese Vorschrift jede konkrete Subsumtion eines Sachverhalts unter die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen, die über die bloße schematische Anwendung von Rechtsnormen ohne weitere rechtliche Prüfung hinausgeht. Ob es sich um eine einfache oder schwierige Rechtsfrage handelt, ist unerheblich (BGH, Urteil vom 31. März 2016 – I ZR 88/15 Rn. 23, NJW 2016, 3441).27

Nach diesen Maßstäben erforderte die Zurverfügungstellung der Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern eine Prüfung im Einzelfall, ob die Regelung der Interessenlage der Klägerin entspricht.28

b) Die Rechtsdienstleistung des Beklagten war nicht nach § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 RDG erlaubt. Danach sind Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit erlaubt, wenn sie als Nebenleistung zum Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören. Ob eine Nebenleistung vorliegt, ist nach ihrem Inhalt, Umfang und sachlichen Zusammenhang mit der Haupttätigkeit unter Berücksichtigung der Rechtskenntnisse zu beurteilen, die für die Haupttätigkeit erforderlich sind. Ziel dieser Regelungen ist es einerseits, diejenigen, die in einem nicht spezifisch rechtsdienstleistenden Beruf tätig sind, in ihrer Berufsausübung nicht zu behindern und andererseits, den erforderlichen Schutz der Rechtsuchenden vor unqualifiziertem Rechtsrat zu gewährleisten (BGH, Urteil vom 31. März 2016 – I ZR 88/15 Rn. 32, NJW 2016, 3441; BT-Drucks. 16/3655, S. 51). Auf dieser Grundlage handelte es sich bei der vom Beklagten übernommenen Pflicht, der Klägerin eine ihrer Interessenlage entsprechende Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung zu stellen, nicht um eine Nebenleistung, die zum Berufs- oder Tätigkeitsbild des Architekten gehört.29

aa) Der Architekt hat die Pflicht, die Leistungen zu erbringen, die erforderlich sind, um die mit dem Besteller vereinbarten Planungs- und Überwachungsziele zu erreichen. Dieses Aufgabengebiet und damit das Berufsbild des Architekten hat in vielfacher Hinsicht Berührungen zu Rechtsdienstleistungen. So kann es zum Erreichen der vereinbarten Planungs- und Überwachungsziele notwendig sein, über Kenntnisse des öffentlichen und privaten Baurechts zu verfügen und diese in der Beratung des Bauherrn umzusetzen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Architekt als geschäftlicher Oberleiter, sachkundiger Berater und Betreuer des Bauherrn nicht unerhebliche Kenntnisse des Werkvertragsrechts, des BGB und der entsprechenden Vorschriften der VOB/B besitzen (BGH, Urteil vom 26. April 1979 – VII ZR 190/78, BGHZ 74, 235, 238). Die Tätigkeit des Architekten kann zudem erfordern, dem Bauherrn das planerische, wirtschaftliche und rechtliche Umfeld des Vorhabens zu erläutern und in diesem Zusammenhang öffentlich-rechtliche Vorschriften zum Bauplanungs- und Bauordnungsrecht in seine Beratung einzubeziehen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2021 – I ZR 227/19 Rn. 52, BauR 2021, 990 = NZBau 2021, 259). Insoweit soll der Architekt in seiner Berufsausübung durch das Rechtsdienstleistungsgesetz nicht behindert werden.30

bb) Der Architekt ist jedoch nicht einem Rechtsberater des Bauherrn gleichzusetzen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2021 – I ZR 227/19 Rn. 53, BauR 2021, 990 = NZBau 2021, 259; Urteil vom 25. Oktober 1984 – III ZR 80/83, NJW 1985, 1692, 1693 zu 2). Eine allgemeine Rechtsberatung wird von dem Berufsbild des Architekten nicht erfasst, da es insoweit an einer hinreichenden juristischen Qualifikation fehlt. Insoweit greift der Zweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes, den Schutz der Rechtsuchenden vor unqualifiziertem Rechtsrat zu gewährleisten.31

cc) Die Zurverfügungstellung einer der Interessenlage der Klägerin entsprechenden Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern geht über die typischerweise mit der Verwirklichung von Planungs- und Überwachungszielen verbundenen Aufgaben und damit über das Berufsbild des Architekten hinaus. Denn die Erfüllung einer solchen Pflicht erfordert qualifizierte Rechtskenntnisse, wie sie grundsätzlich nur in der Anwaltschaft vorhanden sind. Es bedarf deshalb des Schutzes des Bauherrn als Rechtsuchenden vor unqualifiziertem Rat (vgl. Keldungs, Festschrift Ulrich Werner, S. 81, 86; Rath, Festschrift Koeble, S. 457, 460). Demgegenüber wird der Architekt in seiner Berufsausübung nicht behindert, da er die mit dem Bauherrn vereinbarten Planungs- und Überwachungsziele erreichen kann, ohne selbst eine Skontoklausel zur Verfügung zu stellen, die die Interessenlage des Bauherrn im Verhältnis zu den bauausführenden Unternehmern abbildet. Der Architekt muss den Bauherrn nur darauf hinweisen, dass ihm eine solche Tätigkeit nicht erlaubt ist und sich der Bauherr insoweit an einen Rechtsanwalt zu wenden hat (vgl. schon zum Rechtsberatungsgesetz Kniffka, ZfBR 1994, 253, 256; vgl. des Weiteren Kniffka/Jurgeleit – Zahn, Bauvertragsrecht, 4. Aufl., § 650p Rn. 152). Die vom Senat getroffene Auslegung des Rechtsdienstleistungsgesetzes verletzt deshalb den Beklagten nicht in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG).32

c) Die von dem Beklagten übernommene Rechtsdienstleistung war des Weiteren durch Anlage 11 Leistungsphase 7 h) zu § 33 Satz 3 HOAI (2009) weder unmittelbar noch mittelbar erlaubt.33

aa) Nach dieser Regelung erhält ein Architekt ein Entgelt für das „Mitwirken bei der Auftragserteilung“. Insoweit wird vertreten, der Architekt sei verpflichtet, Verträge zu entwerfen bzw. sämtliche Vertragsunterlagen zusammenzustellen, die auf die Interessen des Bauherrn abgestellt sind (vgl. OLG BrandenburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Brandenburg
, Urteil vom 26. September 2002 – 12 U 63/02, BauR 2003, 1751 = NZBau 2003, 684, juris Rn. 24; Locher/Koeble/Frik-Koeble, Kommentar zur HOAI, 15. Aufl., § 34 Rn. 205; Langen, AnwBl. 2009, 436, 438; Bruns, NZBau 2007, 737, 738; Preussner, Architektenrecht, 2. Aufl., Teil D Rn. 84 f.; ähnlich Korbion in Korbion/Mantscheff/Vygen, Kommentar zur HOAI, 9. Aufl., § 34 HOAI Rn. 239; a.A. Scholtissek, HOAI, 2. Aufl., § 34 Rn. 297; Keldungs, Festschrift Ulrich Werner, S. 81, 85 f.; Rath, Festschrift für Koeble, S. 457, 460). Soweit der Verordnungsgeber insbesondere für rechtsbesorgende Tätigkeiten im Rahmen der HOAI eine Vergütung vorgesehen habe, sei damit ein Erlaubnistatbestand im Sinne von § 5 Abs. 1 RDG geschaffen, weil ansonsten eine Leistung vergütet werde, die wegen § 134 BGB nicht wirksam vereinbart werden könne (Locher/Koeble/Frik-Locher, Kommentar zur HOAI, 15. Aufl., Einl. Rn. 209; vgl. zudem Langen AnwBl. 2009, 436, 438).34

bb) Ein Erlaubnistatbestand im Sinne von § 5 Abs. 1 RDG kann unmittelbar aus Anlage 11 Leistungsphase 7 h) zu § 33 Satz 3 HOAI (2009) bereits deshalb nicht abgeleitet werden, weil der Verordnungsgeber durch die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage in Art. 10 § 1 MRVG nicht ermächtigt wurde, Erlaubnistatbestände für die selbständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen im Sinne von § 3 RDG zu regeln.35

Gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der dem Verordnungsgeber erteilten Ermächtigung in dem ermächtigenden Gesetz bestimmt werden. Beachtet die Verordnung diese Grenzen der Ermächtigung nicht, ist sie insoweit unwirksam (vgl. BVerfG, Urteil vom 6. Juli 1999 – 2 BvF 3/90, BVerfGE 101, 1, juris Rn. 111 ff.; BGH, Urteil vom 24. April 2014 – VII ZR 164/13 Rn. 13 ff., BGHZ 201, 32). Mit Art. 10 § 1 MRVG hat der Gesetzgeber die Bundesregierung ausschließlich ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats eine Honorarordnung für Ingenieur- und Architektenleistungen zu erlassen. Art. 10 § 1 MRVG enthält dagegen über die reinen Honorarregelungen hinaus keine Ermächtigung, das Architekten- und Ingenieurrecht zu gestalten und beispielsweise Erlaubnistatbestände für grundsätzlich unzulässige Rechtsdienstleistungen zu normieren. Dementsprechend ist Anlage 11 Leistungsphase 7 zu § 33 HOAI Satz 3 (2009) verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass diese Regelung keinen Erlaubnistatbestand im Sinne von § 3 RDG enthält.36

cc) Aus Anlage 11 Leistungsphase 7 h) zu § 33 Satz 3 HOAI (2009) kann daher auch nicht mittelbar geschlossen werden, eine Vereinbarung über die Zurverfügungstellung einer Skontoklausel, die die Interessen des Bauherrn berücksichtigt, zur Verwendung in den Verträgen mit bauausführenden Unternehmern sei vom Berufsbild des Architekten gedeckt. Eine solche Auslegung verkennt zudem das Verhältnis von formellen und materiellen Gesetzen wie dem Rechtsdienstleistungsgesetz zu bloß materiellen Gesetzen wie der HOAI als Rechtsverordnung.37

Die HOAI steht als Rechtsverordnung im Rahmen der Normenhierarchie unter dem Rechtsdienstleistungsgesetz als formellem Gesetz, das deshalb Vorrangwirkung entfaltet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 1981 – 1 BvR 413/80, 768/80, 820/80, BVerfGE 56, 216, juris Rn. 74). Dementsprechend ist nicht das Rechtsdienstleistungsgesetz unter Heranziehung der Honorarregelungen der HOAI auszulegen. Vielmehr ist umgekehrt bei der Frage der Auslegung von Anlage 11 Leistungsphase 7 h) zu § 33 HOAI Satz 3 (2009) zu berücksichtigen, dass es keine Vergütung für eine Verpflichtung geben kann, die nach § 3 RDG in Verbindung mit § 134 BGB nichtig ist.38

d) Schließlich ist die von dem Beklagten übernommene unzulässige Rechtsdienstleistung nicht deshalb gerechtfertigt, weil er sich nach seinem Vortrag hinsichtlich der Skontoklausel der Hilfe eines Rechtsanwalts bedient hat. Die Einbeziehung eines Rechtsanwalts als Erfüllungsgehilfen zur Erbringung der Rechtsdienstleistung ändert nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nichts an der Unzulässigkeit der Rechtsdienstleistung und der Nichtigkeit der entsprechenden schuldrechtlichen Vereinbarung (BGH, Urteil vom 30. Juli 2019 – VI ZR 486/18 Rn. 21 m.w.N., NJW-RR 2019, 1524).39

3. Vereinbarungen, die auf die Erbringung einer unerlaubten Rechtsdienstleistung zielen, sind nach § 134 BGB nichtig (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2019 – VIII ZR 285/18 Rn. 58 m.w.N., NJW 2020, 208).40

Die Nichtigkeit der Vereinbarung der Parteien zur Pflicht des Beklagten, eine der Interessenlage der Klägerin entsprechende Skontoklausel zur Verwendung in den Verträgen mit den bauausführenden Unternehmern zur Verfügung zu stellen, führt nicht dazu, dass der streitgegenständliche Anspruch nicht besteht. Zwar ergibt sich ein solcher Anspruch, wie vom Berufungsgericht ausschließlich geprüft, nicht aus § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB. Er kann jedoch unter den Voraussetzungen von § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2019 – VIII ZR 285/18 Rn. 94, NJW 2020, 208) beziehungsweise gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 RDG (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2019 – VI ZR 486/18 Rn. 19, NJW-RR 2019, 1524; OLG KoblenzBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Koblenz
, Urteil vom 7. Mai 2020 – 3 U 2182/19, BauR 2021, 99 = NZBau 2021, 187, juris Rn. 13) zuzusprechen sein.

III.41

Das Berufungsurteil kann deshalb keinen Bestand haben und ist aufzuheben. Der Senat kann nicht gemäß § 563 ZPO in der Sache selbst entscheiden. Die Sache ist vielmehr zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um diesem Gelegenheit zu geben, die erforderlichen weiteren Feststellungen zu einem Anspruch der Klägerin aus § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB bzw. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 RDG zu treffen.42

Sollte es für die neue Verhandlung und Entscheidung darauf ankommen, ob die von dem Beklagten zur Verfügung gestellte Skontoklausel einer Inhaltskontrolle nach § 307 BGB standhält, weist der Senat darauf hin, dass die Erwägungen des Berufungsgerichts zu § 307 BGB rechtlich nicht zu beanstanden sind.

Schlagworte: RDG § 3, Verstoß gegen § 3 RDG

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BGH, Urteil vom 26. Oktober 2023 – I ZR 107/22

Donnerstag, 26. Oktober 2023

energycollect.de Domain

EU-Grundrechtecharta Art. 17; GG Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 A; BGB § 12 Satz 1 Fall 2; MarkenG
§§ 5, 14, 15, 49 Abs. 1

energycollect.de

Bei der Prüfung einer unberechtigten Namensanmaßung (§ 12 Satz 1 Fall 2 BGB) durch die Aufrechterhaltung einer vor Entstehung des Namensrechts registrierten Internetdomain sind im Rahmen der Interessenabwägung auf Seiten des Domaininhabers nicht nur spezifisch namens- oder kennzeichenrechtliche, sondern sämtliche interessen an der Aufrechterhaltung der Domainregistrierung zu berücksichtigen, deren Geltendmachung nicht rechtsmissbräuchlich ist. Hierzu zählt auch ein wirtschaftliches Interesse an der Fortführung eines Weiterleitungsgebrauchs, um durch eine Verbesserung der Trefferquote und des Rankings der Zielseite in Suchmaschinen das Besucheraufkommen zu erhöhen (Fortführung von BGH, Urteil vom 24. April 2008 – I ZR 159/05, GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 30 bis 34] = WRP 2008, 1520 – afilias.de; Abgrenzung zu BGH, Urteil vom 6. November 2013 – I ZR 153/12, GRUR 2014, 506 [juris Rn. 30] = WRP 2014, 584 – sr.de).

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe – 6. Zivilsenat – vom 8. Juni 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Klägerin ist eine Kommanditgesellschaft mit Sitz in Freiburg im Breisgau, die unter „energy COLLECT GmbH & Co. KGBitte wählen Sie ein Schlagwort:
GmbH
GmbH & Co. KG
GmbH & Co. KG
KG
“ firmiert. Sie ist nach eigenem Vortrag unter ihrer Firma seit Sommer 2020 als Inkasso-Dienstleister für Energieversorgungsunternehmen im geschäftlichen Verkehr tätig. Der Beklagte ist Rechtsanwalt und Inhaber der Domains „energycollect.de“ und „energy-collect.de“, die seit dem 16. bzw. 19. April 2010 bei der DENIC eG registriert sind.2

Die Domains des Beklagten sind zu keinem Zeitpunkt als Adresse einer mit Inhalten versehenen Internetseite verwendet worden. Vielmehr werden sie mittels URL-Redirects zur Weiter- und Umleitung auf die Website des Unternehmens „on-collect solutions AG“ (nachfolgend „Drittunternehmen“) unter der URL www.on-collect.de genutzt. Das Drittunternehmen, dessen Vorstand der Beklagte ist, betätigt sich unter anderem gleichfalls als Inkasso-Dienstleister für die Energieversorgungsbranche.3

Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß zur Einwilligung in die Löschung seiner Domains gegenüber der DENIC eG verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.4

Mit der vom Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt der Beklagte seinen Antrag auf Abweisung der Klage weiter.

Entscheidungsgründe

I. Das Berufungsgericht hat die geltend gemachten Löschungsansprüche gemäß § 12 BGB für begründet erachtet und hierzu ausgeführt:6

§ 12 BGB sei neben markenrechtlichen Ansprüchen anwendbar. Der Klägerin stehe an dem prägenden und unterscheidungskräftigen Zeichenbestandteil „energy COLLECT“ auf Grund der Aufnahme der Benutzung ihrer Firma im geschäftlichen Verkehr ein Namensrecht zu.7

In der Aufrechterhaltung der Domainregistrierung durch den Beklagten liege eine unberechtigte Namensanmaßung. Der Beklagte benutze den Namen der Klägerin in seinen Domains unbefugt und es bestehe die Gefahr einer Zuordnungsverwirrung.8

Die Aufrechterhaltung der Registrierung der Domainnamen verletze auch schutzwürdige interessen der Klägerin. Angesichts des Umstands, dass das Namensrecht der Klägerin erst nach der Registrierung der Domains des Beklagten entstanden sei, könne zwar nicht ohne weiteres angenommen werden, dass sich die interessen der Klägerin gegen den Beklagten als nichtberechtigten Domaininhaber durchsetzten. Die Interessenabwägung gehe im Streitfall jedoch zugunsten der Klägerin aus, weil der Beklagte die Domainnamen nicht selbst namensmäßig nutzen wolle, sondern sich sein Interesse darauf beschränke, sie zur bloßen Weiterleitung auf die Internetseite des Drittunternehmens zu gebrauchen. Es fehle deshalb auf Seiten des Beklagten an abwägungsrelevanten namensrechtlichen interessen.9

Aufgrund der Verletzung des Namensrechts habe die Klägerin einen Freigabeanspruch und könne Zustimmung des Beklagten zur Löschung verlangen.10

II. Die Revision wendet sich mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht den geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf Löschung der beiden Domains wegen unberechtigter Namensanmaßung gemäß § 12 Satz 1 Fall 2 BGB (dazu nachfolgend II 1) bejaht hat. Das Berufungsgericht hat zwar zu Recht den Anwendungsbereich des § 12 BGB als eröffnet angesehen (dazu nachfolgend II 2) und ein Namensrecht der Klägerin (dazu nachfolgend II 3), einen unbefugten Namensgebrauch durch den Beklagten (dazu nachfolgend II 4) und das Vorliegen einer Zuordnungsverwirrung angenommen (dazu nachfolgend II 5). Die vom Berufungsgericht gegebene Begründung trägt jedoch nicht seine Annahme, der Namensgebrauch durch den Beklagten verletze schutzwürdige interessen der Klägerin (dazu nachfolgend II 6).11

1. Die im Streitfall allein in Betracht kommende unberechtigte Namensanmaßung im Sinne des § 12 Satz 1 Fall 2 BGB setzt voraus, dass ein Dritter unbefugt den gleichen Namen gebraucht, dadurch eine Zuordnungsverwirrung eintritt und schutzwürdige interessen des Namensträgers verletzt werden (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 2001 – I ZR 138/99, BGHZ 149, 191 [juris Rn. 33] – shell.de; Urteil vom 28. April 2016 – I ZR 82/14, GRUR 2016, 810 [juris Rn. 40] – profitbricks.es; Urteil vom 24. Februar 2022 – I ZR 2/21, GRUR 2022, 665 [juris Rn. 78] = WRP 2022, 601 – Tina Turner, jeweils mwN).12

2. Das Berufungsgericht hat zu Recht den Anwendungsbereich des Namensschutzes gemäß § 12 BGB als neben §§ 5, 15 MarkenG eröffnet angesehen. Mit der uneingeschränkten Löschung der Domainnamen werden Rechtsfolgen begehrt, die aus kennzeichenrechtlichen Vorschriften grundsätzlich nicht hergeleitet werden können (vgl. BGH, Urteil vom 9. November 2011 – I ZR 150/09, GRUR 2012, 304 [juris Rn. 32] = WRP 2012, 330 – Basler Haar-Kosmetik; BGH, GRUR 2016, 810 [juris Rn. 38] – profitbricks.es, mwN; BeckOK.MarkenR/Thalmaier, 34. Edition [Stand 1. Juli 2023], § 15 Rn. 127 f., 130 mwN; aA Goldmann, Unternehmenskennzeichen, 5. Aufl., § 16 Rn. 11 f.). Aus § 12 Satz 1 BGB kann sich hingegen ein Anspruch auf Löschung eines Domainnamens ergeben, weil die den Berechtigten ausschließende Wirkung bei der unbefugten Verwendung des Namens als Domainadresse nicht erst mit der Benutzung des Domainnamens, sondern bereits mit der Registrierung eintritt (BGHZ 149, 191 [juris Rn. 33] – shell.de; BGH, GRUR 2016, 810 [juris Rn. 38] – profitbricks.es, mwN).13

3. Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass der Klägerin ein Namensrecht an dem Zeichenbestandteil „energy COLLECT“ ihrer Firma „energy COLLECT GmbH & Co. KGBitte wählen Sie ein Schlagwort:
GmbH
GmbH & Co. KG
GmbH & Co. KG
KG
“ zusteht.14

a) Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Klägerin stehe ein Namensrecht am Zeichenbestandteil „energy COLLECT“ in ihrer Firma zu, weil sie die Firma im geschäftlichen Verkehr benutze und der genannte Zeichenbestandteil über hinreichende originäre Unterscheidungskraft verfüge. Die Benutzung im geschäftlichen Verkehr sei im Hinblick darauf unzweifelhaft, dass die Klägerin unter ihrer Firma nicht nur eine Registrierung als Inkassodienstleister beim Landgericht Freiburg erwirkt, sondern auch in ihrem unter www.energycollect-Inkasso.de abrufbaren Internetauftritt mit dem Unternehmensschlagwort ENERGYCOLLECT bzw. energyCOLLECT gegenüber potentiellen Kunden auf ihre Dienstleistungen hingewiesen und Kontaktmöglichkeiten offeriert habe. Zudem habe die Klägerin unter ihrer Firma einen Rahmenvertrag mit einem Abrechnungsdienstleister geschlossen. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung stand.15

b) Der Schutz des Namensrechts gemäß § 12 BGB setzt namensmäßige Unterscheidungskraft der Bezeichnung von Hause aus oder aufgrund von Verkehrsgeltung voraus (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2004 – I ZR 69/02, GRUR 2005, 517 [juris Rn. 23] = WRP 2005, 614 – Literaturhaus, mwN; Urteil vom 22. Januar 2014 – I ZR 164/12, GRUR 2014, 393 [juris Rn. 19] = WRP 2014, 424 – wetteronline.de, mwN). Dieses Namensrecht entsteht bei von Hause aus unterscheidungskräftigen Bezeichnungen – ebenso wie der Schutz des Unternehmenskennzeichens nach § 5 Abs. 2 Satz 1 MarkenG – mit der Aufnahme der Benutzung im geschäftlichen Verkehr (BGH, Urteil vom 6. November 2013 – I ZR 153/12, GRUR 2014, 506 [juris Rn. 10] = WRP 2014, 584 – sr.de, mwN; zum Unternehmenskennzeichen vgl. BGH, Urteil vom 24. Februar 2005 – I ZR 161/02, GRUR 2005, 871 [juris Rn. 22] = WRP 2005, 1164 – Seicom; zum Unternehmensschlagwort vgl. BGH, Urteil vom 15. Februar 2018 – I ZR 201/16, GRUR 2018, 935 [juris Rn. 28] = WRP 2018, 1081 – goFit).16

c) Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht zutreffend ein Namensrecht der Klägerin angenommen. Der Firmenbestandteil „energy COLLECT“ verfügt über hinreichende originäre Unterscheidungskraft. Die vom Berufungsgericht festgestellten Benutzungshandlungen erschöpfen sich zudem nicht in bloßen Vorbereitungshandlungen, sondern stellen eine Benutzung im geschäftlichen Verkehr dar.17

4. Zu Recht hat das Berufungsgericht auch einen unbefugten Namensgebrauch durch den Beklagten angenommen.18

a) Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Beklagte benutze den Namen der Klägerin in seinen Domains unbefugt, weil ihm kein eigenes prioritätsälteres Namens- oder Kennzeichenrecht an der Bezeichnung „energy COLLECT“ zustehe. Aus der Registrierung der Domains allein folge kein solches Recht. Auch durch die Weiterleitung auf die Website des Drittunternehmens sei kein Recht an der Bezeichnung entstanden, weil es sich hierbei lediglich um eine Verwendung als Adressbezeichnung handele, der der Verkehr keinen Herkunftshinweis entnehme. Ein Benutzungsrecht lasse sich auch nicht aus Kennzeichen des Drittunternehmens herleiten. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung stand.19

b) Der Beklagte hat den Namen „energy COLLECT“ der Klägerin gebraucht, indem er nach Entstehung des Namensrechts der Klägerin die zuvor unter Verwendung dieses Namens bewirkte Domainregistrierung aufrechterhalten hat. Für den Namensgebrauch ist die Registrierung und das Halten von Domains ausreichend, da der Namensträger hierdurch von der eigenen Nutzung seines Namens als Domainname unter dieser Top-Level-Domain ausgeschlossen wird (vgl. BGH, GRUR 2012, 304 [juris Rn. 38] – Basler Haar-Kosmetik; GRUR 2016, 810 [juris Rn. 41] – profitbricks.es).20

c) Dieser Gebrauch erfolgte auch unbefugt.21

aa) Der Gebrauch eines Namens ist unbefugt im Sinne des § 12 Satz 1 Fall 2 BGB, wenn dem Benutzer keine eigenen Rechte an diesem Namen zustehen und ein Namensträger dem Benutzer nicht gestattet, seinen Namen zu benutzen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2015 – I ZR 177/14, GRUR 2016, 749 [juris Rn. 36 f.] = WRP 2016, 877 – Landgut A. Borsig; Urteil vom 24. März 2016 – I ZR 185/14, GRUR 2016, 1093 [juris Rn. 17] = WRP 2016, 1383 – grit-lehmann.de, mwN). Kann sich der Domaininhaber auf ein Benutzungsrecht berufen, gilt das Recht der Gleichnamigen. Insoweit findet bei der Vergabe von Domainnamen grundsätzlich das Gerechtigkeitsprinzip der Priorität Anwendung (vgl. dazu BGH, Urteil vom 17. Mai 2001 – I ZR 216/99, BGHZ 148, 1 [juris Rn. 26] – Mitwohnzentrale.de; Urteil vom 2. Dezember 2004 – I ZR 207/01, GRUR 2005, 687 [juris Rn. 17] = WRP 2005, 893 – weltonline.de; Urteil vom 19. Februar 2009 – I ZR 135/06, GRUR 2009, 685 [juris Rn. 42] = WRP 2009, 803 – ahd.de; OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Köln
, MMR 2019, 321 [juris Rn. 35]), das nur unter besonderen Umständen zurücktritt (vgl. BGHZ 149, 191 [juris Rn. 36, 38] – shell.de).22

bb) Zutreffend hat das Berufungsgericht erkannt, dass der Beklagte durch die Registrierung der Domains lediglich ein schuldrechtliches Benutzungsrecht gegenüber der DENIC eG erworben, nicht aber Eigentum an den Domains oder ein sonstiges absolutes Recht im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB, das ähnlich der Inhaberschaft an einem Immaterialgüterrecht verdinglicht wäre, erlangt hat (vgl. BVerfG, GRUR 2005, 261 [juris Rn. 9]; BGH, Urteil vom 18. Januar 2012 – I ZR 187/10, BGHZ 192, 204 [juris Rn. 22 f.] – gewinn.de, mwN; Urteil vom 11. Oktober 2018 – VII ZR 288/17, BGHZ 220, 68 [juris Rn. 19 f.] mwN; Bornkamm in Festschrift Schilling, 2007, S. 31, 38 f.). Ebenfalls zu Recht hat das Berufungsgericht unter Verweis auf die landgerichtlichen Ausführungen ein von dem Drittunternehmen abgeleitetes Benutzungsrecht abgelehnt, weil dessen Zeichen „on-collect“ mangels prägender oder selbständig kennzeichnender Stellung des Bestandteils „collect“ nicht zur Nutzung des Zeichens „energy collect“ berechtigt. Dies nimmt die Revision jeweils hin.23

cc) Ein eigenes prioritätsälteres Namens- oder Kennzeichenrecht des Beklagten an der Bezeichnung „energy COLLECT“ ergibt sich entgegen der Ansicht der Revision auch nicht aus der Nutzung der streitgegenständlichen Domains zur Weiterleitung mittels URL-Redirects auf die Website des Drittunternehmens.24

(1) Voraussetzung für die Erlangung namens- oder kennzeichenrechtlichen Schutzes durch die Benutzung eines Domainnamens ist, dass ihm nicht ausschließlich eine Adressfunktion, sondern zumindest auch eine Namens- oder Kennzeichenfunktion in der Weise zukommt, dass der Verkehr in ihm einen Herkunftshinweis, also einen Hinweis auf den Namen des Betreibers der Website oder auf einen Geschäftsbetrieb erkennt (zum Unternehmenskennzeichen vgl. BGH, Urteil vom 22. Juli 2004 – I ZR 135/01, GRUR 2005, 262 [juris Rn. 20] = WRP 2005, 338 – soco.de; BGH, GRUR 2005, 871 [juris Rn. 29] – Seicom; BGH, Urteil vom 24. April 2008 – I ZR 159/05, GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 22] = WRP 2008, 1520 – afilias.de; zum Werktitel vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2009 – I ZR 47/07, GRUR 2010, 156 [juris Rn. 20] = WRP 2010, 266 – EIFEL-ZEITUNG, jeweils mwN; vgl. auch allgemein Dustmann/Engels in Ingerl/Rohnke/Nordemann, MarkenG, 4. Aufl., Nach § 15 Rn. 34; MünchKomm.BGB/Heine, 9. Aufl., § 12 Rn. 244 f. mwN). Eine ausschließliche Nutzung als Adressbezeichnung liegt vor, wenn der Verkehr annimmt, es handele sich um eine Angabe, die – ähnlich wie eine Telefonnummer – allein den Zugang zu dem Adressaten eröffnen, ihn aber nicht namentlich bezeichnen soll (BGH, GRUR 2005, 262 [juris Rn. 20] – soco.de; GRUR 2005, 871 [juris Rn. 29] – Seicom). Diese Grundsätze gelten gleichermaßen für das in § 5 MarkenG geregelte Unternehmenskennzeichen und das Namensrecht gemäß § 12 BGB (vgl. Bettinger in Bettinger, Handbuch des Domainrechts, 2. Aufl., Rn. DE 927; Dustmann/Engels in Ingerl/Rohnke/Nordemann aaO Nach § 15 Rn. 38).25

Eine Nutzung als Adressbezeichnung liegt etwa vor, wenn unter der Domainbezeichnung keine Inhalte eingestellt sind, sondern sie als eine Art technische Durchgangsstation nur zur automatischen Weiterleitung auf eine Internetseite eines Unternehmens mit anderem Namen dient, so dass der Verkehr der Bezeichnung keine Kennzeichnungsfunktion entnimmt (vgl. OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Hamburg
, MMR 2011, 324 [juris Rn. 51 bis 54] mit Anm. Berger, MarkenR 2011, 74, 77; Schabenberger, GRUR-Prax 2011, 86; vgl. auch BeckOK.InfoMedienR/Leyendecker-Langner, 41. Edition [Stand 1. Februar 2021], § 12 BGB Rn. 48; BeckOK.MarkenR/Thalmaier aaO § 15 Rn. 82; Bettinger in Bettinger aaO Rn. DE 877; Dustmann/Engels in Ingerl/Rohnke/Nordemann aaO Nach § 15 Rn. 45; MünchKomm.BGB/Heine aaO § 12 Rn. 245; aA Jaeschke, MMR 2011, 324, 326).26

Die Ermittlung der Verkehrsauffassung durch das Berufungsgericht unterliegt nur einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfung dahingehend, ob das Berufungsgericht den Tatsachenstoff verfahrensfehlerfrei ausgeschöpft hat und die Beurteilung mit den Denkgesetzen und den allgemeinen Erfahrungssätzen in Einklang steht (BGH, Urteil vom 12. Mai 2022 – I ZR 203/20, GRUR 2022, 925 [juris Rn. 18] = WRP 2022, 856 – Webshop Awards; Beschluss vom 20. April 2023 – I ZR 108/22, GRUR 2023, 831 [juris Rn. 37] = WRP 2023, 820 – Hautfreundliches Desinfektionsmittel, jeweils mwN).27

(2) Das Berufungsgericht hat danach rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Beklagte durch den Weiterleitungsgebrauch der beiden Domains kein eigenes Namens- oder Kennzeichenrecht erworben hat, weil der Internetnutzer in dem im Internetbrowser eingegebenen und nach Weiterleitung nicht mehr sichtbaren Domainnamen keinen Herkunftshinweis in Bezug auf den Geschäftsbetrieb oder das Unternehmen des Beklagten erkenne. Diese Feststellungen des Berufungsgerichts zum Verkehrsverständnis bieten keinen Anlass für Beanstandungen. Die Revision macht lediglich in revisionsrechtlich unbehelflicher Weise ein von der tatgerichtlichen Würdigung abweichendes Verkehrsverständnis geltend.28

Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht zutreffend angenommen, dass die Senatsentscheidung „airdsl“ der Annahme, der Beklagte habe durch die Benutzung des Domainnamens zur Weiterleitung kein eigenes Unternehmenskennzeichenrecht erworben, nicht entgegensteht. Darin hat der Senat im Rahmen des geltend gemachten markenrechtlichen Unterlassungsanspruchs nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 5 MarkenG erkannt, dass eine markenmäßige Benutzung auch in der Verwendung eines unterscheidungskräftigen Domainnamens zum Zwecke der Weiterleitung auf eine anders bezeichnete Internetseite mit Dienstleistungsangeboten liegt (BGH, Urteil vom 14. Mai 2009 – I ZR 231/06, GRUR 2009, 1055 [juris Rn. 60] = WRP 2009, 1533 – airdsl). Insoweit entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass Domainnamen, die zu einer aktiven, im geschäftlichen Verkehr verwendeten Website führen, in der Regel neben der Adressfunktion eine kennzeichnende Funktion für die auf der Internetseite angebotenen Waren und Dienstleistungen zukommt (BGH, Urteil vom 18. November 2010 – I ZR 155/09, GRUR 2011, 617 [juris Rn. 19] = WRP 2011, 881 – Sedo; Urteil vom 2. Oktober 2012 – I ZR 82/11, GRUR 2013, 638 [juris Rn. 27] = WRP 2013, 785 – Völkl, mwN; Urteil vom 28. April 2016 – I ZR 254/14, GRUR 2016, 1301 [juris Rn. 35] = WRP 2016, 1510 – Kinderstube, mwN; Beschluss vom 2. Juni 2022 – I ZR 154/21, GRUR 2022, 1445 [juris Rn. 23] = WRP 2022, 1266).29

Eine danach markenmäßige, also auf die Herkunft der auf der Zielwebsite angebotenen Dienstleistungen hinweisende Benutzung des streitgegenständlichen Domainnamens führt allerdings nicht zur Begründung eines eigenen Unternehmenskennzeichenrechts des Beklagten. Für die Entstehung eines Unternehmenskennzeichenrechts im Sinne des § 5 MarkenG reicht die lediglich markenmäßige Benutzung eines Zeichens nicht aus, sondern ist die namensmäßige, also auf einen Geschäftsbetrieb hinweisende Benutzung erforderlich (BGH, Urteil vom 12. Juli 1995 – I ZR 140/93, BGHZ 130, 276 [juris Rn. 22] – Torres; BGH, GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 22] – afilias.de; Hacker in Ströbele/Hacker/Thiering, MarkenG, 13. Aufl., § 5 Rn. 50; Nordemann-Schiffel in Ingerl/Rohnke/Nordemann aaO § 5 Rn. 61; BeckOK.MarkenR/Weiler aaO § 5 Rn. 110; Goldmann aaO § 8 Rn. 8). An einer solchen namensmäßigen Benutzung fehlt es nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts im Streitfall, weil der Internetnutzer in dem im Internetbrowser eingegebenen und nach Weiterleitung nicht mehr sichtbaren Domainnamen keinen Herkunftshinweis in Bezug auf den Geschäftsbetrieb oder das Unternehmen des Beklagten erkennt.30

5. Das Berufungsgericht hat auch zu Recht eine Zuordnungsverwirrung angenommen.31

Eine Zuordnungsverwirrung kommt nicht nur bei einem namens- bzw. kennzeichenmäßigen Gebrauch des Namens durch einen Dritten – an dem es vorliegend fehlt – in Betracht, sondern auch bei solchen Verwendungsweisen, durch die der Namensträger zu bestimmten Einrichtungen, Gütern oder Erzeugnissen in Beziehung gesetzt wird, mit denen er nichts zu tun hat (BGH, Urteil vom 18. März 1959 – IV ZR 182/58, BGHZ 30, 7 [juris Rn. 10] – Caterina Valente; Urteil vom 23. September 1992 – I ZR 251/90, BGHZ 119, 237 [juris Rn. 45] – Universitätsemblem, jeweils mwN).32

Danach hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei und von der Revision unbeanstandet festgestellt, dass durch die Benutzung des streitgegenständlichen Domainnamens zur Weiterleitung auf die Website eines Drittunternehmens eine Zuordnungsverwirrung eintritt.33

6. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann jedoch nicht angenommen werden, dass durch die Aufrechterhaltung der Registrierung der angegriffenen Domains schutzwürdige interessen der Klägerin verletzt werden.34

a) Das Berufungsgericht hat ein Überwiegen der interessen der Klägerin angenommen, weil es auf Seiten des Beklagten an abwägungsrelevanten namensrechtlichen interessen fehle. Eine rein technische Verwendung zur Weiterleitung zwecks Erzielung eines höheren Besucheraufkommens auf der verwiesenen Internetseite sei namensrechtlich nicht schutzwürdig. Auch die Erzielung eines besseren Google-Rankings der durch die Weiterleitung verknüpften Begriffe „energycollect“ und „energy-collect“ liege außerhalb des namensrechtlichen Schutzzwecks, der vor allem in der Unterscheidungs- und Identifizierungsfunktion liege. Es fehle an einem ernsthaften Willen des Beklagten zur Benutzung der schon seit zehn Jahren gehaltenen Domainnamen für die Veröffentlichung von konkreten Angeboten und Inhalten. Dieses Abwägungsergebnis werde auch durch die Regelungen zum markenrechtlichen Verfall bestätigt, der eine fünfjährige Nichtbenutzung zur Voraussetzung habe. Es gebe keinen nachvollziehbaren Grund dafür, dass der Inhaber eines Domainnamens das Recht haben solle, die Domain auf Dauer zu blockieren, wenn er nicht die Absicht habe, sie namensmäßig in Benutzung zu nehmen. Der Marktzugang neuer Marktteilnehmer werde sonst unangemessen erschwert. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.35

b) Im Rahmen der bei Namensrechtsverletzungen stets gebotenen Interessenabwägung (vgl. nur BGH, GRUR 2016, 1093 [juris Rn. 33] – grit-lehmann.de) ist bei identischer Verwendung des Namens als Domainname unter der in Deutschland üblichen Top-Level-Domain „.de“ durch einen Nichtberechtigten zu Gunsten des Namensträgers zu berücksichtigen, dass seine schutzwürdigen interessen erheblich beeinträchtigt werden, weil die mit dieser Bezeichnung gebildete Internet-Adresse nur einmal vergeben werden kann. Die den Berechtigten ausschließende Sperrwirkung setzt bereits mit der Registrierung und nicht erst mit der Benutzung der Domain ein (vgl. BGHZ 149, 191 [juris Rn. 31] – shell.de; BGH, Urteil vom 26. Juni 2003 – I ZR 296/00, BGHZ 155, 273 [juris Rn. 19] – maxem.de; BGH, GRUR 2014, 506 [juris Rn. 28] – sr.de; GRUR 2016, 749 [juris Rn. 45] – Landgut A. Borsig).36

Demgegenüber kann ein Nichtberechtigter nur ausnahmsweise auf schützenswerte Belange verweisen, die im Rahmen der Interessenabwägung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen sind (BGH, Urteil vom 9. September 2004 – I ZR 65/02, GRUR 2005, 430 [juris Rn. 18] = WRP 2005, 488 – mho.de; BGH, GRUR 2005, 687 [juris Rn. 18] – weltonline.de; GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 27] – afilias.de). So verhält es sich, wenn die Registrierung des Domainnamens durch den Nichtberechtigten nur der erste Schritt im Zuge der – für sich genommen rechtlich unbedenklichen – Aufnahme einer entsprechenden Benutzung als Unternehmenskennzeichen ist (BGH, GRUR 2005, 430 [juris Rn. 19] – mho.de; GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 28 f.] – afilias.de) oder wenn dem Nichtberechtigten seinerseits ein namensrechtlich geschütztes Interesse an der Verwendung der in Rede stehenden Bezeichnung etwa eines Hauses oder Grundstücks zur Seite steht, sofern die Bezeichnung zum Zeitpunkt der Benutzungsaufnahme im allgemeinen Sprachgebrauch üblich ist (BGH, Urteil vom 28. September 2011 – I ZR 188/09, GRUR 2012, 534 [juris Rn. 45 f.] = WRP 2012, 1271 – Landgut Borsig, unter Verweis auf BGH, Urteil vom 24. November 1993 – XII ZR 51/92, BGHZ 124, 173 [juris Rn. 24]; BGH, GRUR 2016, 749 [juris Rn. 33] – Landgut A. Borsig).37

c) Auch der – vorliegend gegebene – Fall der Aufrechterhaltung einer vor Entstehung des Namens- oder Kennzeichenrechts registrierten Domain erfordert mit Blick auf die durch die Registrierung erlangte Rechtsposition die Berücksichtigung der schutzwürdigen interessen des Nichtberechtigten (vgl. BGH, GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 30 bis 33] – afilias.de; GRUR 2012, 304 [juris Rn. 40] – Basler Haar-Kosmetik; GRUR 2016, 1093 [juris Rn. 33] – grit-lehmann.de).38

aa) Der Domaininhaber erlangt durch den Vertragsschluss mit der Registrierungsstelle ein relativ wirkendes vertragliches Nutzungsrecht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehören zum Eigentum nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG auch die auf dem Abschluss von Verträgen beruhenden, obligatorischen Forderungen. Dies hat zur Folge, dass die Registrierung eines zum Zeitpunkt der Registrierung in keinerlei Rechte eingreifenden Domainnamens eine eigentumsfähige, nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Position des Domaininhabers begründet (vgl. BVerfG, GRUR 2005, 261 [juris Rn. 8 f.]; BGH, GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 32] – afilias.de; BGHZ 192, 204 [juris Rn. 23, 27] – gewinn.de, mwN; OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Köln
, MMR 2019, 321 [juris Rn. 35]). Dieser verfassungsrechtliche Eigentumsschutz besteht im Rahmen der gesetzlichen Inhalts- und Schrankenbestimmungen gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, zu denen auch die namens- und kennzeichenrechtlichen Vorschriften gehören, die ihrerseits verfassungsrechtlich unbedenklich sind (vgl. BVerfG, GRUR 2005, 261 [juris Rn. 11]; Dustmann/Engels in Ingerl/Rohnke/Nordemann aaO Nach § 15 Rn. 32, 96). Das Nutzungsrecht ist zudem durch Art. 17 EU-Grundrechtecharta und durch Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK als Eigentumsposition geschützt (Härting, Internetrecht, 7. Aufl., Rn. 1894; zum Eigentumsschutz nach der EMRK vgl. EGMR, MMR 2008, 29 [juris Rn. 55 f.]; BGHZ 192, 204 [juris Rn. 28] – gewinn.de).39

Bei dieser Sachlage kann sich der Dritte, der den Domainnamen erst nach seiner Registrierung als Unternehmenskennzeichen verwenden möchte, regelmäßig nicht auf ein schutzwürdiges Interesse berufen. Er kann vor der Wahl einer Unternehmensbezeichnung, die er auch als Internetadresse verwenden möchte, unschwer prüfen, ob der entsprechende Domainname noch verfügbar ist. Ist der gewünschte Domainname bereits vergeben, wird es ihm oft möglich und zumutbar sein, auf eine andere Unternehmensbezeichnung (BGH, GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 33] – afilias.de) oder auch – soweit noch nicht vergeben – eine andere Top-Level-Domain (BGH, GRUR 2009, 685 [juris Rn. 42] – ahd.de) auszuweichen. Anders verhält es sich allerdings, wenn es dem Domaininhaber wegen Rechtsmissbrauchs versagt ist, sich auf seine Rechte aus der Registrierung des Domainnamens zu berufen, etwa weil er den Domainnamen ohne ernsthaften Benutzungswillen in der Absicht registrieren ließ, sich diesen von dem Inhaber eines entsprechenden Kennzeichen- oder Namensrechts abkaufen zu lassen (vgl. BGH, GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 33] – afilias.de, mwN).40

bb) Die Rechtsposition, die der Nichtberechtigte durch die vor Entstehung des Namens- oder Kennzeichenrechts erfolgte Registrierung seiner Domain erlangt hat, erfordert eine Berücksichtigung nicht nur spezifisch namens- oder kennzeichenrechtlicher, sondern sämtlicher interessen, die der Nichtberechtigte an der Aufrechterhaltung der Domainregistrierung hat. Eine Verkürzung auf namens- oder kennzeichenrechtliche interessen würde dem eigentumsgrundrechtlichen Schutz der vor Entstehung des Namens- oder Kennzeichenrechts erfolgten Domainregistrierung nicht gerecht.41

Zu den berücksichtigungsfähigen interessen des Domaininhabers zählen insbesondere wirtschaftliche interessen wie das vom Beklagten im Streitfall geltend gemachte Interesse an der Fortführung eines Weiterleitungsgebrauchs, um durch eine Verbesserung der Trefferquote und des Rankings der Zielseite in Suchmaschinen das Besucheraufkommen zu erhöhen. Ein sinnvoller Weiterleitungsgebrauch ist nicht ohne weiteres rechtsmissbräuchlich (vgl. BGH, GRUR 2005, 687 [juris Rn. 18] – weltonline.de; GRUR 2009, 685 [juris Rn. 45] – ahd.de). Auch eine Verkaufsabsicht ist nicht stets rechtsmissbräuchlich, weil der Handel mit Domainnamen grundsätzlich zulässig und nach Art. 12, 14 GG verfassungsrechtlich geschützt ist, soweit die Registrierung oder Nutzung des Domainnamens keine Namens- oder Kennzeichenrechte Dritter verletzt (vgl. BGH, GRUR 2009, 685 [juris Rn. 45] – ahd.de; GRUR 2012, 304 [juris Rn. 62] – Basler Haar-Kosmetik; zu § 826 BGB vgl. BGH, GRUR 2005, 687 [juris Rn. 19] – weltonline.de; vgl. auch Bettinger in Bettinger aaO Rn. DE 681; Viefhues in Hoeren/Sieber/Holznagel, Handbuch Multimedia-Recht, 58. EL März 2022, Teil 6 Rn. 183).42

cc) Der Blick auf markenrechtliche Wertungen rechtfertigt im Streitfall entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keine andere Beurteilung. Das hier zur Anwendung gelangende Prioritätsprinzip ist ein auch das Markenrecht beherrschender allgemeiner Rechtsgrundsatz. Der Umstand, dass neue Marktteilnehmer wegen der anderweitigen Registrierung des Domainnamens daran gehindert sind, diesen für ihr Unternehmen zu nutzen, ist Folge des Prioritätsprinzips. Die darin liegende Beeinträchtigung ihrer wettbewerblichen Entfaltungsmöglichkeiten haben sie daher grundsätzlich hinzunehmen (vgl. BGH, GRUR 2009, 685 [juris Rn. 42] – ahd.de; OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Hamburg
, WRP 2015, 911 [juris Rn. 118]; Bettinger in Bettinger aaO Rn. DE 678). Dient der Gebrauch des Domainnamens wirtschaftlichen Zwecken, die – wie der Weiterleitungsgebrauch – nicht ohne weiteres rechtsmissbräuchlich sind, ist auch die vom Berufungsgericht herangezogene Parallele zur Löschung einer Marke wegen Verfalls (§ 49 Abs. 1 MarkenG) nicht tragfähig.43

dd) Soweit der Senat in der Entscheidung „sr.de“ ausgeführt hat, bei der Prüfung einer Namensverletzung gemäß § 12 BGB gehe es um die Abwägung namensrechtlich relevanter interessen und sei von maßgebender Bedeutung, ob die Parteien, deren interessen abzuwägen seien, den Namen auch namensmäßig benutzen wollten (BGH, GRUR 2014, 506 [juris Rn. 30] – sr.de), stützt dies die Auffassung des Berufungsgerichts nicht. Diesen Ausführungen lag zugrunde, dass ein prioritätsälteres Unternehmenskennzeichen gegen eine Domainregistrierung angeführt wurde und die Domainregistrierung auch nicht den ersten Schritt der Aufnahme der Benutzung eines aufgrund Branchenverschiedenheit nicht rechtsverletzenden Unternehmenskennzeichen darstellte, die – wie bereits ausgeführt (siehe Rn. 29) – eine namensmäßige Benutzung erfordert hätte (vgl. BGH, GRUR 2014, 506 [juris Rn. 28] – sr.de). Im Streitfall ist hingegen das Namensrecht der Klägerin erst nach der Registrierung des Domainnamens des Beklagten entstanden. In dieser Fallgestaltung kann sich der Inhaber des Namensrechts gegenüber nicht als rechtsmissbräuchlich zu missbilligenden Benutzungsinteressen des Domaininhabers, die auch außerhalb eines namensmäßigen Gebrauchs liegen können, regelmäßig nicht auf ein schutzwürdiges Interesse berufen (vgl. BGH, GRUR 2008, 1099 [juris Rn. 33] – afilias.de).44

d) Damit hat die Beurteilung des Berufungsgerichts keinen Bestand. Der geltend gemachte Anspruch gemäß § 12 Satz 1 Fall 2 BGB kann in der Revisionsinstanz nicht verneint werden, weil mangels entgegenstehender Feststellungen des Berufungsgerichts das vom Beklagten geltend gemachte wirtschaftliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Domainregistrierung und die Abwesenheit rechtsmissbräuchlicher Motive zu seinen Gunsten zu unterstellen sind.45

III. Danach ist das Berufungsurteil aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 ZPO).

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BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2023 – II ZB 3/23

Dienstag, 24. Oktober 2023

Auskunft über MitgesellschafterBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Auskunft
Auskunft über Mitgesellschafter
Mitgesellschafter

DS-GVO Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b

Ein Auskunftsersuchen des Gesellschafters, das auch dem Ziel dient, die Namen, Anschriften und Beteiligungshöhe der Mitgesellschafter dazu zu verwenden, diese Kaufangebote für ihre Anteile zu unterbreiten, stellt keine unzulässige Rechtsausübung und keinen missbrauch des Auskunftsrechts dar. Einem solchen Auskunftsbegehren stehen auch nicht die Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung entgegen.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde der Beklagten gegen den Beschluss der Zivilkammer 9 des Landgerichts Hamburg vom9. Januar 2023 wird auf ihre Kosten verworfen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 300 €.

Gründe

I.

Die Klägerin ist eine Zweitmarktfondsgesellschaft in der Rechtsform einer Kommanditgesellschaft und gehört neben anderen Zweitmarktfondsgesellschaften der H.  -Unternehmensgruppe an. Sie ist mit einem Anteil von nominal 20.000 € über einen Treuhand- und Servicevertrag mit der Beklagten als Treuhandkommanditistin an der     I.                                   GmbH & Co. geschlossene Investment-KG (im Folgenden: Fondsgesellschaft) beteiligt. Die Beklagte führt im Auftrag der Fondsgesellschaft ein Register mit den personenbezogenen Daten sowie der Beteiligungshöhe sämtlicher Treugeber. Nach § 6 Nr. 4 Satz 1 des Gesellschaftsvertrags (GV) der Fondsgesellschaft sind die Treugeber mittelbar beteiligte Anleger im Sinne des KAGB und haben im Innenverhältnis der Gesellschaft und der Gesellschafter zueinander die gleiche Rechtsstellung wie ein Kommanditist. Die Bestimmungen des Gesellschaftsvertrags gelten nach § 6 Nr. 4 Satz 2 GV entsprechend für die Treugeber. Gemäß § 6 Nr. 2 GV werden die Treugeber von der Treuhandkommanditistin bevollmächtigt, deren Mitgliedschaftsrechte im Umfang ihrer Treuhandeinlage selbst auszuüben. Dies schließt ausdrücklich die Befugnis ein, an Gesellschafterversammlungen der Gesellschaft direkt teilzunehmen.2

Mit anwaltlichem Schreiben vom 14. Juni 2021 begehrte die Klägerin von der Beklagten vergeblich Auskunft über persönliche Daten sowie die Beteiligungshöhen der an der Fondsgesellschaft beteiligten Treugeberkommanditisten. Zur Begründung hieß es, die Klägerin benötige die Gesellschafterliste, um mit diesen zur Vorbereitung einer Gesellschafterversammlung und zum Zwecke des Meinungsaustauschs in Kontakt zu treten. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass die Daten dazu benötigt würden, den Mitgesellschaftern ein Kaufangebot zu unterbreiten.3

Das Amtsgericht hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Auskunft über den akademischen Titel, die Namen und die Adressen sowie die Beteiligungshöhe sämtlicher Treugeberkommanditisten der Fondsgesellschaft zu erteilen. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht als unzulässig verworfen. Zuvor hatte es den Wert des Beschwerdegegenstands für das Berufungsverfahren auf 300 € festgesetzt, die Berufung nicht zugelassen und die Beklagte darauf hingewiesen, dass es beabsichtige, die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Gegen den Verwerfungsbeschluss richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.

II.

Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Berufung sei als unzulässig zu verwerfen, da sie nicht zugelassen sei und der Wert des Berufungsgegenstands nach den eigenen Ausführungen der Beklagten 600 € nicht übersteige. Für die Bemessung der Beschwer sei auf das Abwehrinteresse der beklagten Partei abzustellen, welches sich grundsätzlich aus ihrem voraussichtlichen Zeit- und Kostenaufwand ergebe, der mit der Auskunftserteilung verbunden sei. Dieser sei auf maximal 300 € zu schätzen, da die Daten der Treugeber der Beklagten vorlägen, die zuvor alle Treugeber angeschrieben habe, und unproblematisch ohne größeren Aufwand an die Klägerin herausgegeben werden könnten.5

Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem behaupteten hohen Zeit- und Kostenaufwand, der mit der Abfrage des Einverständnisses der Treugeber zu der Weitergabe ihrer Daten an die Mitgesellschafter verbunden gewesen sei. Es handele sich nicht um notwendige Kosten, da die Beklagte weder vertraglich noch gesetzlich verpflichtet noch aus einem anderen Grund gehalten gewesen sei, eine solche Befragung vorzunehmen. Das fehlende Einverständnis einzelner Treugeber mit der Weitergabe ihrer Daten ändere nichts daran, dass die Klägerin einen aus dem durch den Gesellschaftsvertrag begründeten Vertragsverhältnis folgenden Anspruch auf Auskunft über ihre Mitgesellschafter habe; diese Auskunft könne auch nicht aufgrund datenschutzrechtlicher Vorschriften, namentlich der Datenschutz-Grundverordnung verweigert werden. Die Datenübermittlung sei gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b) Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) zulässig.6

Ein den Beschwerdewert erhöhendes schützenswertes Geheimhaltungsinteresse der Beklagten bestehe nicht. Derjenige, der mit einem anderen einen Gesellschaftsvertrag schließe, habe keinen schützenswerten Anspruch darauf, dies anonym zu tun, weshalb er auch bei fehlendem Einverständnis nicht in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt werde. Der Beklagten drohten deshalb bei einer Erteilung der Auskunft auch keine Schadensersatzansprüche seitens der Treugeber.

III.

Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO) Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist nicht zulässig. Die Sache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Soweit die Rechtsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) eine Verletzung der Verfahrensgrundrechte auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) und auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) geltend macht, liegen solche Rechtsverletzungen nicht vor. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten rechtsfehlerfrei als unzulässig verworfen und ihr den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mithin nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert. Der Wert des Beschwerdegegenstands der Berufung der Beklagten übersteigt 600 € nicht.8

1. Die Rechtsbeschwerde zeigt keine grundsätzliche Bedeutung der von ihr aufgeworfenen Rechtsfrage auf, ob einem – auf das Recht zur Kenntnis der Mitgesellschafter (bzw. Mittreugeber) gestützten – Anspruch eines Kommanditisten (bzw. Treugebers) einer Publikumspersonengesellschaft auf Auskunft über bzw. Einsichtnahme in personenbezogene Daten seiner Mitgesellschafter (bzw. Mittreugeber) der Einwand des Rechtsmissbrauchs gemäß § 242 BGB, insbesondere wegen Verstoßes gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen, entgegensteht, wenn mit dem Verlangen nach Auskunft bzw. Einsichtnahme ausdrücklich – jedenfalls auch – der Zweck verfolgt wird, den betreffenden Mitgesellschaftern (bzw. Mittreugebern) anschließend Kaufangebote für ihre eigene (unmittelbare oder mittelbare) Beteiligung an der Publikumspersonengesellschaft zu unterbreiten. Es bedarf insoweit auch nicht der Rechtsfortbildung.9

a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer Vielzahl von Fällen stellen kann und deswegen das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt, d.h. allgemein von Bedeutung ist (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 4. Juli 2002 – V ZB 16/02, BGHZ 151, 221, 223; Beschluss vom 8. Februar 2010 – II ZR 156/09, ZIP 2010, 1080 Rn. 3; Beschluss vom 8. Februar 2010 – II ZR 54/09, ZIP 2010, 985 Rn. 3; Urteil vom 24. September 2013 – II ZR 396/12, ZIP 2014, 191 Rn. 2). Klärungsbedürftig in diesem Sinne ist eine Rechtsfrage, wenn sie vom Bundesgerichtshof nicht entschieden und von Oberlandesgerichten oder in der Literatur unterschiedlich beantwortet wird (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2010 – II ZR 54/09, ZIP 2010, 985 Rn. 3; Beschluss vom 24. September 2013 – II ZR 396/12, ZIP 2014, 191 Rn. 2). Der Klärungsbedarf entfällt, wenn abweichende Ansichten im Schrifttum vereinzelt geblieben und nicht oder nicht nachvollziehbar begründet sind (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2010 – II ZR 54/09, ZIP 2010, 985 Rn. 3).10

b) Eine klärungsbedürftige umstrittene Rechtsfrage stellt sich nicht.11

aa) Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung stellt ein Auskunftsersuchen des Gesellschafters, das auch dem Ziel dient, die Namen, Anschriften und Beteiligungshöhe der Mitgesellschafter dazu zu verwenden, diesen Kaufangebote für ihre Anteile zu unterbreiten, keine unzulässige Rechtsausübung und keinen missbrauch des Auskunftsrechts dar. Einem solchen Auskunftsbegehren stehen auch nicht die Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung entgegen (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, NZG 2019, 540 Rn. 23, 27 ff.; OLG FrankfurtBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Frankfurt
am Main, Urteil vom 20. Dezember 2019 – 10 U 146/18, BeckRS 2019, 67300 Rn. 44 ff., 54 f.; KG, Beschluss vom 15. April 2020- 23 U 149/18, juris Rn. 30, 34 f.; NZG 2020, 985 Rn. 16 aE). Diese Rechtsprechung ist in der Literatur auf Zustimmung gestoßen (MünchKommHGB/Grunewald, Bd. 2, 5. Aufl., § 166 Rn. 15; Chatard/Horn, ZIP 2019, 2242, 2244, 2247 f.; Kunkel/Kunkel, jurisPR-HaGesR 41/2021 Anm. 6; Schultheis, GWR 2019, 93; Vosberg/Klawa, EWiR 2019, 231, 232; Wehmeyer, PinG 2019, 182). Eine Grundsatzbedeutung i.S.d. § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO kann entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde auch nicht durch die abweichende, zumal nicht rechtskräftig gewordene Entscheidung des Landgerichts München I (Urteil vom 22. Dezember 2017 – 15 O 3391/17, BeckRS 2017, 15416 als Vorinstanz zu OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, NZG 2019, 540) begründet werden. Ebenso wenig vermag die von der Rechtsbeschwerde angeführte abweichende Literaturstimme (Paul, GWR 2019, 413, 415), welche die Kenntnis der Beteiligungshöhe der übrigen Mitgesellschafter lediglich für sinnvoll, nicht aber für erforderlich i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b) DS-GVO erachtet, grundsätzlichen Klärungsbedarf begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2010 – II ZR 54/09,ZIP 2010, 985 Rn. 3).12

bb) Diese obergerichtliche Rechtsprechung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 5. Februar 2013 – II ZR 134/11, BGHZ 196, 131 Rn. 12; Urteil vom 16. Dezember 2014 – II ZR 277/13, ZIP 2015, 319 Rn. 11). Danach muss, wer sich an einer Personen- bzw. Personenhandelsgesellschaft, insbesondere in Form einer Publikumsgesellschaft beteiligt, damit rechnen, dass neben seinen Daten auch seine Beteiligungshöhe an seine Mitgesellschafter bzw. diesen gleichgestellten Mittreugebern mitgeteilt wird. Aufgrund des durch den Gesellschaftsvertrag begründeten Vertragsverhältnisses ist es ein unentziehbares mitgliedschaftliches Recht des Gesellschafters, die Beteiligungshöhe seiner Mitgesellschafter zu erfahren. Zwar bezogen sich die bisherigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ausdrücklich nur auf die Kenntnis der Mitgesellschafter, d.h. deren Namen und Anschriften. Aus der Begründung des Auskunftsrechts durch den Bundesgerichtshof ergibt sich aber mit hinreichender Klarheit, dass auch die Mitteilung der Beteiligungshöhe datenschutzrechtlich zulässig ist. In jeder Gesellschaft ist das Zusammenwirken der Gesellschafter ein elementarer Bestandteil der Willensbildung. Deshalb muss insbesondere der Anleger einer Publikumsgesellschaft, wenn seine Stimmkraft von der Höhe der gezeichneten Kapitaleinlage abhängig ist, wie hier nach § 11 Nr. 3 GV, wissen, wie die Stimmen und damit die Machtverhältnisse in der Gesellschaft verteilt sind, um seine Mitgliedschaftsrechte informiert ausüben zu können. Es macht für die Stellung des die Auskunft begehrenden Gesellschafters gerade einen entscheidenden Unterschied, ob neben ihm nur Kleinanleger oder auch ein oder mehrere Großanleger beteiligt sind (vgl. BGH, Urteil vom 5. Februar 2013 – II ZR 134/11, BGHZ 196, 131 Rn. 33). Infolgedessen ist auch die Kenntnis vom Umfang der Beteiligungen der Mitgesellschafter für die informierte Ausübung der Mitgliedschaftsrechte erforderlich i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b) DS-GVO.13

cc) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde wird der Rahmen der üblichen gesellschaftlichen Belange nicht verlassen, wenn darüber hinaus die Auskunft auch zu dem weiteren Zweck verlangt wird, Kaufangebote für Anteile von Mitgesellschaftern vorzubereiten. Es ist ein legitimes, aus dem Gesellschaftsverhältnis und dem daraus entstandenen Vertragsverhältnis entstandenes Interesse eines Gesellschafters, seinen Einfluss auf die Gesellschaft durch den Ankauf weiterer Anteile zu vergrößern (vgl. OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG München
, NZG 2019, 540 Rn. 30; OLG FrankfurtBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Frankfurt
am Main, Urteil vom 20. Dezember 2019 – 10 U 146/18, BeckRS 2019, 67300 Rn. 54 f.; KG, Beschluss vom 15. April 2020- 23 U 149/18, juris Rn. 34 f.). Aufgrund der Verwendung der Daten in Angelegenheiten der Gesellschaft(er) sowie nur gegenüber Mitgesellschaftern kann ein solches Erwerbsangebot auch nicht mit einer Weitergabe der Daten an Dritte oder eine Nutzung zu gesellschaftsfremden Zwecken verglichen werden (vgl. BGH, Urteil vom 5. Februar 2013 – II ZR 134/11, BGHZ 196, 131 Rn. 44).14

dd) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde gebietet das Merkmal der Erforderlichkeit in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b) DS-GVO auch nicht, diese Auskunftsansprüche anstatt einer Übermittlung der personenbezogenen Daten an den Anspruchsteller in der Weise zu erfüllen, dass der Anspruchsgegner oder ein Dritter als Informationstreuhänder die Information über die Erwerbsabsicht eines Gesellschafters zum jederzeitigen Abruf bereithält oder den anderen Gesellschaftern bei entsprechender vorheriger Einwilligung proaktiv mitteilt. Die Rechtsbeschwerde legt bereits die von ihr hierfür geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung bzw. den Rechtsfortbildungsbedarf gemäß § 574 Abs. 2 nicht dar.15

Der Bundesgerichtshof hat bereits mehrfach entschieden, dass sich der die Auskunft begehrende Gesellschafter nicht in Anlehnung an § 127a AktG auf ein Internetforum oder auf die Einrichtung eines Datentreuhänders als milderes Mittel verweisen lassen muss. Es muss vielmehr den Gesellschaftern überlassen bleiben, auf welchem Weg und in welcher Weise sie sich an ihre Mitgesellschafter wenden wollen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar 2011 – II ZR 187/09, ZIP 2011, 322 Rn. 17; Beschluss vom 22. Februar 2016 – II ZR 48/15, ZD 2016, 586 Rn. 13 mwN). In der obergerichtlichen Rechtsprechung (OLG FrankfurtBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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am Main, Urteil vom 20. Dezember 2019 – 10 U 146/18, BeckRS 2019, 67300 Rn. 49 f.; ebenso vor Inkrafttreten des Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b) DS-GVO OLG Stuttgart, Urteil vom 10. Oktober 2012 – 14 U 13/12, juris Rn. 202 f.) und im Schrifttum (Chatard/Horn, ZIP 2019, 2242, 2245) wird dementsprechend die Erfüllung der Auskunfts- bzw. Einsichtnahmeansprüche eines Gesellschafters über einen Informationstreuhänder nicht für hinreichend erachtet, da auf diesem Weg die mitgliedschaftlichen Rechte des die Auskunft begehrenden Gesellschafters nicht ausreichend gewahrt werden. Das einzige abweichende, zumal nicht rechtskräftige Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 23. August 2018 (2-20 O 268/17, BeckRS 2018, 23648 Rn. 11 als Vorinstanz zu OLG FrankfurtBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Frankfurt
am Main, Urteil vom 20. Dezember 2019- 10 U 146/18, BeckRS 2019, 67300 Rn. 49 f.) kann keine Grundsatzbedeutung i.S.d. § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO begründen. Ebenso wenig besteht der geltend gemachte Rechtsfortbildungsbedarf. In der Rechtsprechung und Literatur sind die Grundlagen des Auskunftsrechts eines Gesellschafters ausreichend geklärt. Diese Grundsätze sind lediglich auf den vorliegenden Auskunftsanspruch anzuwenden. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist die Belästigung der anderen Treugeber durch die Übermittlung unerwünschter Kaufangebote auch nicht erheblicher, sondern vielmehr lediglich geringfügiger Art. Es steht ihnen frei, etwaige Kaufangebote der Klägerin anzunehmen oder abzulehnen (vgl. OLG FrankfurtBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Frankfurt
am Main, Urteil vom 20. Dezember 2019- 10 U 146/18, BeckRS 2019, 67300 Rn. 55).16

ee) Die von der Rechtsbeschwerde erhobene Verfahrensrüge gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, wonach die Absicht der Klägerin, mithilfe der begehrten personenbezogenen Daten der übrigen Gesellschafter deren Beteiligungen an der Fondsgesellschaft zum Zwecke der Errichtung eines eigenen Immobilienfonds zu erwerben und so in Konkurrenz zu der Fondsgesellschaft zu treten, nicht hinreichend dargetan sei, hat der Senat geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet (§ 577 Abs. 6 Satz 2, § 564 Satz 1 ZPO). Eine nur abstrakte Missbrauchsgefahr gewährt kein Recht, gegenüber dem Mitgesellschafter anonym zu bleiben (BGH, Beschluss vom 21. September 2009 – II ZR 264/08, ZIP 2010, 27 Rn. 13; Beschluss vom 19. November 2019 – II ZR 263/18, WM 2020, 458 Rn. 36).17

2. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten rechtsfehlerfrei als unzulässig verworfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 600 € nicht übersteigt (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), und ihr den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mithin nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert.18

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bemisst sich der gemäß §§ 2, 3 ZPO nach freiem Ermessen festzusetzende Beschwerdewert für das Rechtsmittel der zur Auskunftserteilung verurteilten Person nach ihrem Interesse, die Auskunft nicht erteilen zu müssen. Dabei ist im Wesentlichen darauf abzustellen, welchen Aufwand an Zeit und Kosten die Erteilung der Auskunft erfordert und ob die verurteilte Person ein schützenswertes Interesse daran hat, bestimmte Tatsachen vor dem Gegner geheim zu halten (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2023 – II ZB 9/22, NZG 2023, 1233 Rn. 4 mwN).19

Das Rechtsbeschwerdegericht kann die Bemessung der Beschwer nur darauf überprüfen, ob das Berufungsgericht von dem ihm nach § 3 ZPO eingeräumten Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn das Gericht bei der Bewertung des Beschwerdegegenstands maßgebliche Tatsachen verfahrensfehlerhaft nicht berücksichtigt oder erhebliche Tatsachen unter Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht (§ 139 ZPO) nicht festgestellt hat. Denn der Sinn des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens würde verfehlt, wenn das Rechtsbeschwerdegericht berechtigt und verpflichtet wäre, ein vom Berufungsgericht fehlerfrei ausgeübtes Ermessen durch eine eigene Ermessensentscheidung zu ersetzen (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2023 – II ZB 9/22, NZG 2023, 1233 Rn. 5 mwN).20

b) Gemessen hieran ist die Festsetzung des Werts des Beschwerdegegenstands durch das Berufungsgericht nicht rechtsfehlerhaft. Das Berufungsgericht hat alle maßgeblichen Tatsachen verfahrensfehlerfrei berücksichtigt.21

aa) Das Berufungsgericht hat insbesondere ein den Beschwerdewert steigerndes Geheimhaltungs- und Datenschutzinteresse der Beklagten rechtsfehlerfrei mit der Begründung verneint, dass die verlangte Auskunft selbst unter Berücksichtigung des von der Klägerin ausdrücklich nicht ausgeschlossenen Zwecks, den übrigen Treugebern Kaufangebote für ihre mittelbaren Beteiligungen an der Fondsgesellschaft zu unterbreiten, datenschutzrechtlich unbedenklich und somit nicht rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 242 BGB sei.22

Ein Geheimhaltungsinteresse der Beklagten ergibt sich namentlich nicht daraus, dass die Erteilung der Auskunft bzw. Gewährung der Einsicht mit einem Verstoß gegen die Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung verbunden wäre oder ihr Schadensersatzansprüche der 458 Treugeber, die mit einer Weitergabe ihrer personenbezogenen Daten an Mitgesellschafter bzw. -Treugeber nicht einverstanden sind, gemäß Art. 82 Abs. 1 DS-GVO sowie wegen Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG drohen.23

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist bei einem Gesellschaftsvertrag einer Personen- bzw. Personenhandelsgesellschaft das Recht, seinen Vertragspartner zu kennen, selbstverständlich. Es folgt als unentziehbares mitgliedschaftliches Recht aus dem durch den Gesellschaftsvertrag begründeten Vertragsverhältnis als solchem. Das auf Kenntnis seiner Mitgesellschafter gerichtete Auskunftsbegehren des Gesellschafters ist lediglich durch das Verbot der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) und das Schikaneverbot gemäß § 226 BGB begrenzt. Dieses Auskunftsrecht steht auch einem Treugeber zu, der – wie hier – im Innenverhältnis der Gesellschafter untereinander und der Gesellschafter zu den Treugebern einem unmittelbar beteiligten Gesellschafter gleichgestellt ist (BGH, Urteil vom 5. Februar 2013 – II ZR 134/11, BGHZ 196, 131 Rn. 12; Urteil vom 16. Dezember 2014 – II ZR 277/13, ZIP 2015, 319 Rn. 11).24

Zur datenschutzrechtlichen Zulässigkeit eines solchen Auskunftsanspruchs hat der Bundesgerichtshof zu § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG aF entschieden, dass das Übermitteln personenbezogener Daten im Rahmen eines rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnisses zulässig ist, wenn es für dessen Durchführung erforderlich ist. Das ist anzunehmen, wenn der Antragsteller auskunftsberechtigt und bei vernünftiger Betrachtung auf die Datenverwendung zur Erfüllung der Pflicht oder zur Wahrnehmung der Rechte aus dem Vertragsverhältnis angewiesen ist. Dabei ist für den Gesellschafter die Kenntnis seiner Mitgesellschafter zur effektiven Nutzung seiner Rechte in der Gesellschaft erforderlich (BGH, Urteil vom 11. Januar 2011 – II ZR 187/09, ZIP 2011, 322 Rn. 17; Urteil vom 5. Februar 2013 – II ZR 134/11, BGHZ 196, 131 Rn. 41; Urteil vom 16. Dezember 2014 – II ZR 277/13, ZIP 2015, 319 Rn. 24; Beschluss vom 22. Februar 2016 – II ZR 48/15, ZD 2016, 585 Rn. 12).25

An diesen Grundsätzen hat sich auch mit Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung nichts geändert. Die personenbezogenen Daten der Gesellschafter werden gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. b) DS-GVO für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet. Ihre Verarbeitung zum Zwecke der Weitergabe an andere Treugeber entspricht der gesetzlichen Verpflichtung aufgrund der gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b) DS-GVO erlaubt die Verarbeitung der Daten zur Erfüllung eines Vertrags, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist. Dazu gehört auch die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft. Die Beklagte kann sich nicht auf die Gefahr eines Bußgeldes wegen Verletzung datenschutzrechtlicher Regelungen berufen (BGH, Beschluss vom 19. November 2019 – II ZR 263/18, WM 2020, 458 Rn. 29 f.).26

bb) Ohne Erfolg bleiben die von der Rechtsbeschwerde erhobenen Einwendungen.27

(1) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist es unerheblich, dass der überwiegende Anteil der Treugeber einer Weitergabe ihrer Daten an die Klägerin widersprochen hat. Das Auskunftsrecht kann weder durch Regelungen im Gesellschaftsvertrag noch durch Regelungen im Treuhandvertrag ausgeschlossen werden; eine entsprechende Vereinbarung wäre nach § 242 BGB unwirksam (BGH, Urteil vom 5. Februar 2013 – II ZR 134/11, BGHZ 196, 131 Rn. 24). Dies muss erst recht für eine einseitige Widerspruchserklärung der im Innenverhältnis gleichgestellten Treugeber gelten, so dass entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde die für die Befragung der Mittreugeber entstandenen Eigen- und Fremdkosten für die Bemessung der Beschwer außer Betracht bleiben.28

(2) Soweit die Rechtsbeschwerde eine Werterhöhung mit einer von der Beklagten befürchteten Inanspruchnahme auf Schadensersatz durch die Treugeber wegen der Weitergabe ihrer personenbezogenen Daten trotz des nicht erteilten Einverständnisses begründen will, betreffen diese Risiken bei der Wertfestsetzung ohnehin nicht zu berücksichtigende Drittbeziehungen. Drittbeziehungen stellen keinen aus dem Urteil fließenden Nachteil dar und haben deshalb als reine Fernwirkung nicht nur für den Streitgegenstand und die daran zu orientierende Bemessung des Streitwerts für den Auskunftsanspruch, sondern gleichermaßen für die Beschwer außer Betracht zu bleiben (BGH, Beschluss vom 15. Juni 2011 – II ZB 20/10, NJW 2011, 2974 Rn. 8, 12; Beschluss vom 27. April 2021 – II ZR 110/20, juris Rn. 3; jeweils mwN).29

3. Schließlich besteht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde auch keine Notwendigkeit, nach Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen. Die Vorlagepflicht setzt voraus, dass in einem schwebenden Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird, es sei denn, dass die gerichtliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt (EuGH, NJW 1983, 1257; Wegener in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl., Art. 267 AEUV Rn. 33; acte claire). Von letzterem ist hier auszugehen, wie der Bundesgerichtshof bereits entschieden hat (BGH, Beschluss vom19. November 2019 – II ZR 263/18, NZG 2020, 381 Rn. 37). Danach ergibt sich offenkundig bereits aus Nr. 48 der Erwägungen zur Datenschutz-Grundverordnung, worin die Datenverarbeitung sogar innerhalb einer Unternehmensgruppe als mögliches berechtigtes Interesse aufgeführt wird, dass der Kenntnisnahme von Daten zur Identifizierung und Kontaktaufnahme zu Mitgesellschaftern die Datenschutz-Grundverordnung und insbesondere Art. 5 und Art. 6 DS-GVO nicht entgegensteht. Dies gilt erst recht innerhalb der Gesellschaft zwischen den Gesellschaftern und zwar auch in dem Fall, dass der Gesellschafter im Rahmen der Wahrnehmung seiner eigenen Beteiligungsrechte seinen Mitgesellschaftern u.a. ein Kaufangebot unterbreiten möchte.

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BGH, – Dienstgericht des Bundes -, Urteil vom 5. Oktober 2023 – RiZ(R) 1/23

Donnerstag, 5. Oktober 2023

Versetzung des Richters

DRiG § 31

1. Eine Versetzung nach § 31 DRiG kommt grundsätzlich in Betracht, wenn der Richter nicht mehr die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintreten wird. Das gilt nicht nur für die Berufung in das Richterverhältnis, sondern ist dauernde Voraussetzung für die Ausübung des Richteramts auf der Grundlage des Grundgesetzes.

2. Tatsachen, die eine Versetzung nach § 31 DRiG rechtfertigen, liegen im Falle einer politischen Betätigung des Richters vor, wenn er sich in herausgehobener Stellung bei einer politischen Gruppierung betätigt, die Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaats ablehnt. Weiter rechtfertigen Tatsachen eine Versetzung des Richters, wenn er durch sein Auftreten in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, er werde aus politischen Gründen sein künftiges dienstliches Verhalten an seiner persönlichen Einschätzung und nicht mehr allein an den Gesichtspunkten der Sachrichtigkeit, Rechtstreue, Gerechtigkeit, Objektivität und dem Allgemeinwohl ausrichten.

Tenor

Die Revision des Antragsgegners gegen das Urteil des Landgerichts Leipzig – Dienstgericht für Richter – vom 1. Dezember 2022 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 20. Januar 2023 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Der Antragsteller, der Freistaat Sachsen, beabsichtigt, den Antragsgegner auf der Grundlage von § 31 Nr. 3 des Deutschen Richtergesetzes (im Folgenden: DRiG) in den Ruhestand zu versetzen.2

Der am 10. Februar 1962 geborene Antragsgegner trat am 1. April 1992 in den Justizdienst des Antragstellers ein und wurde unter Berufung in das Richterverhältnis auf Probe zum Richter ernannt. Mit Wirkung vom 1. April 1995 wurde er unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum Staatsanwalt ernannt. Zum 1. Januar 1997 wurde er unter Berufung in das Richterverhältnis auf Lebenszeit zum Richter am Landgericht ernannt. Das ihm übertragene Amt eines Richters am Landgericht bei dem Landgericht Dresden hatte er bis zum Beginn seiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag als gewählter Abgeordneter der Partei „Alternative für Deutschland (AfD)“ (im Folgenden: AfD) am 24. Oktober 2017 inne.3

Der Antragsgegner sprach bei einer öffentlichen und als Videomitschnitt dokumentierten Parteiveranstaltung der AfD am 17. Januar 2017 in Dresden über die „Herstellung von Mischvölkern“, durch die die „nationalen Identitäten“ ausgelöscht werden sollten, was „einfach nicht zu ertragen“ sei. Ferner bezeichnete er die Aufarbeitung der NS-Verbrechen als „gegen uns gerichtete Propaganda und Umerziehung, die uns einreden wollte, dass Auschwitz praktisch die Folge der deutschen Geschichte wäre“, und erklärte „diesen Schuldkult“ für „endgültig beendet“. Über die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) äußerte der Antragsgegner in derselben Rede, dass diese bis zum Aufkommen der AfD die einzige Partei gewesen sei, die „immer geschlossen zu Deutschland gestanden“ habe. In der Berichterstattung über diese Rede, die unter anderem zu einem später nicht mehr weiter verfolgten Parteiausschlussverfahren gegen den Antragsgegner führte, wurde auch sein damaliges Amt eines Richters am Landgericht Dresden erwähnt.4

Bei einem Wahlkampfauftritt vom 21. August 2017 vor der Dresdner Frauenkirche erklärte der Antragsgegner, er wolle, „dass Deutschland wieder aufersteht […], zu alter Stärke zurückfindet und nicht gebückt geht“ und fragte die Zuhörer, wie man „denn Politiker [nenne], die andere Interessen, aber nicht die Interessen der eigenen Bevölkerung“ verträten, woraufhin die Zuhörer von ihm unwidersprochen wiederholt „Volksverräter“ skandierten.5

Am 2. Januar 2018 wurde in einem vom offiziellen Twitter-Account des Antragsgegners abgesetzten Tweet der Sohn des ehemaligen Tennisprofis Boris Becker als „kleine[r] Halbneger“ bezeichnet. Als Reaktion auf einen Bericht des „Spiegel“ vom 18. März 2019 über einen Strafprozess in Chemnitz wurde vom offiziellen Twitter-Account des Antragsgegners ein Tweet abgesetzt, der wie folgt lautet: „Wenn Angeklagte ‘AfD-Richter‘ fürchten, haben wir alles richtig gemacht. #AfD“.6

Der Antragsgegner wurde im Sächsischen Verfassungsschutzbericht 2020 bis ca. April 2020 als „Obmann“ des sogenannten Flügels in Sachsen, einer formal aufgelösten Gruppierung innerhalb der Partei AfD, geführt. Der „Flügel“ wurde in dem Bericht als rechtsextremistischer Personenzusammenschluss bezeichnet. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stufte den „Flügel“ am 12. März 2020 als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung ein. Das Politikkonzept des „Flügels“ verfolge als Ziele insbesondere die permanente Verächtlichmachung demokratischer Institutionen, die Abschaffung des Parlamentarismus, die Etablierung einer völkischen Gesellschaftsordnung mit einem ethnokulturell homogenen Staatsvolk, die pauschale Ausgrenzung, Verächtlichmachung und Rechtlosstellung von Migranten, Muslimen und politisch Andersdenkenden und die strukturelle Verbindung zur sowie die systematische Zusammenarbeit mit der klassischen rechtsextremistischen und der neurechten Szene. In dem Sächsischen Verfassungsschutzbericht 2020 wurde der Antragsgegner zu einem öffentlichen Brief der damaligen AfD-Landesvorsitzenden vom 24. März 2020 zur Auflösung des „Flügels“ mit der Bemerkung zitiert: „Naja, als Haltungsgemeinschaft sind wir natürlich da […] wir werden einen Weg finden, wie wir als Haltungsgemeinschaft noch weiterhin aktiv sind.“ Im Verfassungsschutzbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz 2020 wurde der Antragsgegner unter Bezugnahme auf ein YouTube-Video – ohne Namensnennung unter Bezeichnung als „ehemaliger Landesobmann des „Flügels“ für Sachsen“ – dahin zitiert, er habe gesagt, die Grundhaltung des „Flügels“ sei schon vor dessen formaler Auflösung in die Gesamtpartei „eingesickert“.7

Nach Beendigung seiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag beantragte der Antragsgegner mit Schreiben vom 15. Dezember 2021 gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz – AbgG) die Zurückführung in das frühere Dienstverhältnis. Der Antragsteller übertrug dem Antragsgegner zur Erfüllung dieses Rechtsanspruchs mit Verfügung vom 10. Februar 2022 und mit Wirkung vom 14. März 2022 das Amt eines Richters am Amtsgericht bei dem Amtsgericht Dippoldiswalde.8

Der Antragsteller hat am 11. Februar 2022 bei dem Landgericht Leipzig – Dienstgericht für Richter – (im Folgenden: Dienstgericht) beantragt, die Versetzung des Antragsgegners in den Ruhestand für zulässig zu erklären.9

Der Antragsteller ist der Auffassung, der Antragsgegner habe seine Glaubwürdigkeit als Organ der Rechtspflege und das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit bei der Ausübung des ihm anvertrauten Richteramtes endgültig verloren. Er verweist auf den Sächsischen Verfassungsschutzbericht 2020 und die Einstufung des „Flügels“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Der Beschluss des Bundesvorstands der AfD zur Auflösung der Strukturen des „Flügels“ sei zwar bis Ende April 2020 formal umgesetzt worden, jedoch hätten die der Gruppierung zuzurechnenden Personen keine Abkehr von rechtsextremistischen Positionen erkennen lassen und seien weiterhin aktiv. In den öffentlichen und sozialen Medien sowie auf öffentlichen Veranstaltungen habe der Antragsgegner wiederholt Äußerungen getätigt, die erhebliche Zweifel daran begründeten, dass er bereit sei, Menschen ohne Berücksichtigung ihrer Herkunft, Religion oder Hautfarbe unvoreingenommen zu begegnen und sich von Gruppen zu distanzieren, die den Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angriffen. Er habe sich wiederholt rassistisch, antisemitisch, nationalistisch und geschichtsrevisionistisch geäußert.10

Nachdem er bei der wahl zum 20. Deutschen Bundestag kein Mandat erlangt habe, sei sowohl im Geschäftsbereich des Staatsministeriums der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung als auch in der Öffentlichkeit vielfach die Sorge geäußert worden, dass bei einer Rückkehr des – ausweislich des Sächsischen Verfassungsschutzberichts 2020 rechtsextremistischen – Antragsgegners in das Richteramt das Ansehen der Justiz gravierend beschädigt und eine erhebliche Störung der Rechtspflege im vorgenannten Geschäftsbereich sowie bundesweit eintreten werde. Nachdem der Antrag des Antragsgegners auf Wiederverwendung eingegangen und dies Anfang Januar 2022 publik geworden sei, sei darüber in der regionalen und überregionalen Presse sowie im Fernsehen vielfach berichtet worden. Die Berichterstattung lasse sich dahin zusammenfassen und würdigen, dass in der Öffentlichkeit ein tiefes Unverständnis darüber herrsche, dass der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte Antragsgegner in sein Richteramt zurückkehren könne.11

Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten. Er ist der Ansicht, § 31 DRiG sei nicht anwendbar, weil sein Richteramt in dem Zeitraum, auf den sich der Antragsteller beziehe, nach § 5 Abs. 1 Satz 1, § 8 Abs. 1 AbgG geruht habe. Selbst wenn aber § 31 DRiG anwendbar sei, lägen dessen tatsächliche Voraussetzungen nicht vor. Der Antragsteller trage keine Tatsachen vor, sondern berufe sich auf subjektive Wertungen. Dies gelte insbesondere für den Vorwurf des Rechtsextremismus. Die von ihm, dem Antragsgegner, vor dem Verwaltungsgericht Dresden gegen den Antragsteller erhobene Klage mit dem Ziel, nicht mehr im Sächsischen Verfassungsschutzbericht 2020 als „Rechtsextremist“ ausgewiesen zu werden, sei vorgreiflich; das vorliegende dienstgerichtliche Verfahren sei deshalb auszusetzen. Die durch den Antragsteller zitierten Tweets seien durch einen Mitarbeiter abgesetzt worden.12

Der Präsidialrat ist zu dem Antrag angehört worden und hat beschlossen, diesem nicht entgegenzutreten.13

Das Dienstgericht, dessen Entscheidung unter anderem in NVwZ-RR 2023, 543 veröffentlicht ist, hat die Versetzung des Antragsgegners in den Ruhestand für zulässig erklärt. Das vorliegende Verfahren sei nicht gemäß § 94 VwGO i.V.m. § 45 Abs. 1 des Sächsischen Richtergesetzes (im Folgenden: SächsRiG) im Hinblick auf das bei dem Verwaltungsgericht Dresden geführte Verfahren auszusetzen, da jenes Verfahren nicht vorgreiflich sei. In der Sache selbst lägen Tatsachen vor, aufgrund derer der Antragsgegner in seiner künftigen Rechtsprechung nicht mehr glaubwürdig erscheine und das Vertrauen in seine Unvoreingenommenheit nicht mehr bestehe, so dass gemäß § 31 Nr. 3 DRiG seine Versetzung in den Ruhestand zwingend geboten sei, um eine schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege abzuwenden. Die vom Antragsteller vorgetragenen Äußerungen des Antragsgegners in öffentlichen Veranstaltungen und in sozialen Netzwerken sowie dessen exponierte Mitwirkung im „Flügel“ der AfD seien anhand der hierzu vorgelegten Anlagen und im Ergebnis der mündlichen Verhandlung bewiesen. Der Verwertung dieser Tatsachen stehe nicht entgegen, dass sie sich teilweise auf eine Zeit bezögen, in der der Antragsgegner als Abgeordneter Mitglied des Deutschen Bundestags gewesen sei und seine Rechte und Pflichten aus dem Richterdienstverhältnis daher gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 AbgG, § 36 Abs. 2 DRiG geruht hätten. Der Antragsgegner könne sich insoweit nicht auf seine Indemnität als Abgeordneter gemäß Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG berufen, weil ausschließlich außerparlamentarische Äußerungen und Verhaltensweisen eines ehemaligen Abgeordneten herangezogen würden, um das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 DRiG zu untermauern. Diese Vorschrift sei anwendbar, weil der Grundstatus aus dem Dienstverhältnis ungeachtet der Ruhensanordnung fortbestehe. Die Versetzung in den Ruhestand knüpfe daran an, dass der Antragsgegner in der Vergangenheit gegen die fortwirkenden basalen politischen Treuepflichten verstoßen habe.14

Zutreffend ziehe der Antragsteller den Schluss, dass eine rechtsprechende Tätigkeit des Antragsgegners den Eintritt eines Schadens für das Ansehen der Rechtspflege besorgen lasse. Im vorliegenden Fall sei hinreichend abgesichert, dass der Antragsgegner nicht aufgrund haltloser Berichterstattung in den Ruhestand versetzt und damit Opfer einer künstlich herbeigeführten Empörung der Öffentlichkeit werde, sondern dies eine Folge tatsächlich getätigter Äußerungen und tatsächlicher Verhaltensweisen sei. Vorliegend werde nicht an die (vormalige) Bezeichnung des Antragsgegners im Sächsischen Verfassungsschutzbericht 2020 als „Rechtsextremist“ und seine fortdauernde Aufführung unter der Rubrik „Rechtsextremismus“ angeknüpft, sondern vielmehr an die sowohl im Verfassungsschutzbericht genannten als auch in das Verfahren eingeführten konkreten Äußerungen und Verhaltensweisen des Antragsgegners. Der Antragsgegner habe wiederholt in Wortwahl und Duktus die sprachliche und inhaltliche Nähe zu rechtsextremen Kreisen gesucht und in öffentlichen Äußerungen den Eindruck erweckt, er sehe sich selbst als „AfD-Richter“ und heiße eine von der politischen Gesinnung des Richters geprägte Ausübung des Richteramtes gut. Es sei zwingend geboten, den Antragsgegner zur Abwendung einer schweren Beeinträchtigung der Rechtspflege in den Ruhestand zu versetzen. Er sei aus den genannten Gründen als Richter nicht mehr tragbar, nachdem zumindest in einem weiten Kreis der gerade auch von seiner Amtsführung Betroffenen der Eindruck entstanden sei, er werde sein Amt nicht verfassungstreu, unparteiisch, uneigennützig und ohne Ansehen der Person führen. Nur durch eine Versetzung in den Ruhestand könne das – schwer beeinträchtigte – allgemeine Vertrauen in eine gerechte und unabhängige Rechtspflege gewahrt werden. Mildere Mittel seien nicht gegeben, weil der Vertrauensverlust sämtliche denkbaren Tätigkeiten des Antragsgegners in seinem Richteramt betreffe.15

Gegen das Urteil des Dienstgerichts wendet sich die Revision des Antragsgegners. Er rügt eine fehlerhafte Verfahrenseinleitung und macht ferner geltend, die angegriffene Entscheidung beruhe auf einem gravierenden Verfahrensfehler, weil dem Aussetzungsantrag stattzugeben gewesen wäre. Wenn der vermeintliche Vertrauensverlust vorrangig daran festgemacht werde, dass er in der Öffentlichkeit als „Rechtsextremist“ wahrgenommen werde, was zentral mit seiner Erwähnung im Sächsischen Verfassungsschutzbericht 2020 begründet werde, komme es auf die Richtigkeit dieser Tatsachenbasis an. Darüber hinaus habe der Antrag auf Versetzung in den Ruhestand keine gesetzliche Grundlage. Aus § 5 AbgG ergebe sich eine Privilegierung, deren Sperrwirkung als lex specialis der Anwendung des § 31 DRiG vorgehe. Das Dienstgericht habe ferner den nach seiner Ansicht maßgeblichen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt und insbesondere nicht festgestellt, ob die ihm von Seiten des Antragstellers vorgeworfenen Äußerungen und Umstände überhaupt von ihm selbst herrührten. Unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO habe das Dienstgericht nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 1. Dezember 2022 ermitteltes Tatsachenmaterial berücksichtigt, indem es sich an mehreren Stellen auf eine Quellenlage aufgrund Abrufs aus dem Internet am 6. Dezember 2022 bezogen habe.16

Der Antragsgegner beantragt,

das Urteil des Landgerichts Leipzig – Dienstgericht für Richter – vom 1. Dezember 2022 aufzuheben und den Antrag abzulehnen,

hilfsweise,

das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Dienstgericht zurückzuverweisen.17

Der Antragsteller beantragt,

die Revision zurückzuweisen.18

Er verteidigt das Urteil des Dienstgerichts und meint, nach Rückführung in das frühere Dienstverhältnis seien im Verfahren zur Versetzung des Antragsgegners in den Ruhestand im Interesse der Rechtspflege gemäß § 31 Nr. 3 DRiG auch Tatsachen verwertbar, die sich während der Dauer der Legislaturperiode des 19. Deutschen Bundestages vom 24. Oktober 2017 bis zum 28. Oktober 2021 zugetragen hätten.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 45 Abs. 2 SächsRiG (in der hier maßgeblichen Fassung vom 2. August 2004), § 80 Abs. 2 DRiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Revision ist unbegründet. Ohne Rechtsfehler hat das Dienstgericht die Versetzung des Antragsgegners in den Ruhestand nach § 31 Nr. 3 DRiG für zulässig erklärt. Die hiergegen gerichteten Revisionsangriffe bleiben erfolglos.20

1. Die Revision rügt zunächst ohne Erfolg, die das Verfahren einleitende Antragsschrift des Antragstellers sei nicht ordnungsgemäß als elektronisches Dokument gemäß § 55d Satz 1 VwGO (hier i.V.m. § 45 Abs. 1 SächsRiG) bei dem Dienstgericht, das nach § 33 Satz 1 SächsRiG bei dem Landgericht Leipzig errichtet ist, eingereicht worden. Hierzu muss das elektronische Dokument nach § 55a Abs. 3 Satz 1 VwGO mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden; zu den sicheren Übermittlungswegen zählt nach § 55a Abs. 4 Nr. 3 VwGO der hier von dem Antragsteller – ausweislich des bei den Akten befindlichen Transfervermerks – gewählte Übermittlungsweg zwischen einem nach Durchführung eines Identifizierungsverfahrens eingerichteten Postfach einer Behörde (beBPo) und der elektronischen Poststelle des Gerichts (EGVP). Nach dem klaren Gesetzeswortlaut des § 55a Abs. 3 VwGO handelt es sich bei der Einreichung eines mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen elektronischen Dokuments einerseits und der Einreichung eines (einfach) signierten elektronischen Dokuments auf einem sicheren Übermittlungsweg andererseits um zwei eigenständige Möglichkeiten der elektronischen Dokumentenübermittlung. Auch den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass zur Wahrung der prozessualen Form die das Dokument verantwortende Person das elektronische Dokument entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz versehen oder einen sicheren Übermittlungsweg nutzen muss; wählt sie einen sicheren Übermittlungsweg, muss sie das Dokument zum Abschluss lediglich durch eine einfache Signatur nach dem Signaturgesetz signieren und damit zu erkennen geben, die inhaltliche Verantwortung für das Dokument übernehmen zu wollen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Mai 2020 – 1 B 16/20, 1 PKH 7/20, Buchholz 310 § 55a VwGO Nr. 4 Rn. 5 unter Hinweis auf BT-Drucks. 17/12634 S. 25 zur inhaltsgleichen Regelung in § 130a ZPO). Diesen Anforderungen ist hier durch die eingescannte Unterschrift der zuständigen Staatsministerin des Antragstellers unter zusätzlicher Nennung ihres Namens am Textende Genüge getan (vgl. VGH Mannheim, NJW 2019, 1543 Rn. 5; Eyermann/Hoppe, VwGO, 16. Aufl., § 55a Rn. 14 m.w.N.). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Antragsschrift ohne Billigung der Ministerin versandt worden ist.21

2. Ebenfalls erfolglos rügt die Revision, es liege ein gravierender Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 1 Satz 1 DRiG vor, weil das Dienstgericht das vorliegende Verfahren gemäß § 94 VwGO (hier i.V.m. § 45 Abs. 1 SächsRiG) mit Blick auf das bei dem Verwaltungsgericht Dresden anhängige Verfahren hätte aussetzen müssen.22

a) Diese Verfahrensrüge ist bereits unzulässig, denn ein Verstoß gegen § 94 VwGO als solcher wäre im Revisionsverfahren nicht als Verfahrensmangel rügefähig. Eine Aussetzungsentscheidung nach § 94 VwGO ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO – hier i.V.m. § 80 Abs. 1 Satz 1 DRiG – unanfechtbar, wenn sie im Beschlussweg ergeht. Die Revision kann in diesen Fällen nicht auf eine fehlerhafte Ablehnung einer Aussetzung gestützt werden. Dies folgt aus § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 557 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 80 Abs. 1 Satz 1 DRiG. Nichts anderes kann gelten, wenn – wie hier – über die begehrte Aussetzung im Urteil entschieden wird (vgl. BVerwGE 139, 272 Rn. 15; BVerwG, BeckRS 2017, 103793 Rn. 26; BVerwG, Beschluss vom 15. April 1983 – 1 B 133/82, Buchholz 310 § 94 VwGO Nr. 4 [juris Rn. 5]; jeweils m.w.N.).23

b) Die Revision legt auch nicht gemäß § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 1 Satz 1 DRiG dar, dass die Verweigerung der Aussetzung des Verfahrens zu einem Folgemangel geführt hat, der dem Urteil des Dienstgerichts weiter anhaftet (vgl. BVerwGE 139, 272 Rn. 16; BVerwGE 39, 319, 323 f. [juris Rn. 15]). Der Antragsgegner wendet hierzu ein, wenn der vermeintliche Vertrauensverlust vorrangig und durchgängig daran festgemacht werde, dass er in der Öffentlichkeit als „Rechtsextremist“ wahrgenommen werde, was wiederum zentral mit seiner Erwähnung im Sächsischen Verfassungsschutzbericht 2020 begründet werde, müsse dies vorrangig durch das Verwaltungsgericht Dresden geklärt werden. Damit kann der Antragsgegner nicht durchdringen. Das Dienstgericht hat nicht entscheidend darauf abgestellt, ob der Antragsgegner zu Recht als Rechtsextremist bezeichnet worden ist. Vielmehr hat es seine Entscheidung damit begründet, die festgestellten, vom Antragsteller vorgebrachten Äußerungen und Verhaltensweisen des Antragsgegners rechtfertigten die Einschätzung, dass seine Versetzung in den Ruhestand gemäß § 31 Nr. 3 DRiG zwingend geboten sei, um eine schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege abzuwenden.24

3. Das Dienstgericht hat ohne revisionsrechtlich beachtliche Rechtsfehler angenommen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die vom Antragsteller beabsichtigte Versetzung des Antragsgegners im Interesse der Rechtspflege nach § 31 Nr. 3 DRiG gegeben sind. Nach dieser Vorschrift kann ein Richter auf Lebenszeit in den Ruhestand versetzt werden, wenn Tatsachen außerhalb seiner richterlichen Tätigkeit eine Maßnahme dieser Art zwingend gebieten, um eine schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege abzuwenden.25

a) Die Anwendung dieser Norm ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil einige der vom Antragsteller zur Begründung vorgetragenen und vom Dienstgericht berücksichtigten Umstände in einen Zeitraum fielen, in dem der Antragsgegner als Abgeordneter Mitglied des Deutschen Bundestages war.26

aa) Der Antragsgegner kann sich insoweit nicht, wie das Dienstgericht zutreffend angenommen hat, auf seine Indemnität als Abgeordneter gemäß Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG berufen. Danach darf ein Abgeordneter zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden. Der Indemnitätsschutz verbietet demgemäß jede beeinträchtigende Maßnahme außerhalb des Parlaments als Folge innerparlamentarischen Verhaltens eines Abgeordneten. Nach seinem Wortlaut und seinem Sinn und Zweck, die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern und den Abgeordneten zu schützen, erfasst Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG allerdings nur das innerparlamentarische Verhalten des Abgeordneten (vgl. BVerfGE 144, 20 Rn. 568 m.w.N.). Der Schutzbereich dieser Bestimmung ist hingegen schon nicht betroffen, wenn – wie hier – ausschließlich außerparlamentarische Äußerungen eines (ehemaligen) Abgeordneten herangezogen werden, um die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Nr. 3 DRiG zu belegen.27

bb) Weiterhin ist das Dienstgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die vom Antragsteller vorgetragenen Tatsachen nicht deshalb unverwertbar sind, weil gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1, § 8 Abs. 1 AbgG i.V.m. § 36 Abs. 2 DRiG die Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis eines in den Bundestag gewählten Richters vom Tage der Feststellung des Bundeswahlausschusses (§ 42 Abs. 2 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes) oder der Annahme des Mandats für die Dauer der Mitgliedschaft mit Ausnahme der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit und des Verbots der Annahme von Belohnungen und Geschenken ruhen. Entgegen der Ansicht der Revision ergibt sich aus § 5 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 AbgG keine Privilegierung, die als lex specialis die Anwendung des § 31 DRiG sperren könnte.28

(1) Eine derartige „Sperrwirkung“ lässt sich weder dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 AbgG noch der Gesetzessystematik entnehmen. § 5 Abs. 1 Satz 1 AbgG, der nach § 8 Abs. 1 AbgG für Richter entsprechend gilt, ordnet lediglich ein „Ruhen“ der Rechte und grundsätzlich auch der Pflichten aus dem Dienstverhältnis an. Das Ruhen der dem Richter obliegenden Pflichten für die Dauer seiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag lässt bei wortgetreuer Auslegung des § 5 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 AbgG nicht darauf schließen, dass nach Beendigung des Mandats eine in § 31 DRiG vorgesehene Versetzung im Interesse der Rechtspflege ausgeschlossen sein soll, wenn sie auf außerparlamentarische Umstände aus der Zeit der Mitgliedschaft des Richters im Deutschen Bundestag gestützt wird.29

(2) Auch aus der Entstehungsgeschichte und dem Regelungszweck der § 5 Abs. 1 Satz 1, § 8 Abs. 1 AbgG ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber mit diesen Vorschriften die Anwendung des § 31 DRiG einschränken oder ausschließen wollte. Nachdem das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Diätenurteil vom 5. November 1975 (BVerfGE 40, 296) die Privilegierung von in den Bundestag gewählten Beamten und Richtern durch Versetzung in den Ruhestand und Gewährung eines Ruhegehalts für verfassungswidrig erklärt hatte, konzipierte der Gesetzgeber mit dem Abgeordnetengesetz vom 18. Februar 1977 (BGBl. I S. 297) die Rechtsstellung dieser Mandatsträger neu und bestimmte unter anderem das Ruhen der Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis in § 5 Abs. 1 Satz 1 AbgG. Diesbezüglich erfuhr die Vorschrift ebenso wie die Verweisungsnorm des § 8 AbgG seit Inkrafttreten des AbgG keine Änderungen (vgl. zur Entstehungsgeschichte: NK-AbgeordnetenR/Leppek, 2. Aufl. § 5 AbgG Rn. 1 ff., § 8 AbgG Rn. 1 f.). Die Inkompatibilitätsregelungen der §§ 5 ff. AbgG beruhen auf der Ermächtigung in Art. 137 Abs. 1 GG und tragen dem Grundsatz der Gewaltenteilung Rechnung. Dementsprechend hat der Gesetzgeber in § 5 AbgG die sich aus dem Nebeneinander der beiden unterschiedlichen Statusverhältnisse (Beamter/Richter und Abgeordneter) ergebenden Abgrenzungsfragen geregelt (vgl. NK-AbgeordnetenR/Leppek aaO § 5 AbgG Rn. 5). Dabei hat er das Ruhen des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses während der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag angeordnet und für die Zeit danach ein weiteres Ruhen für längstens weitere sechs Monate bzw. bis zum Ruhestand sowie die Zurückführung in das frühere Dienstverhältnis auf Antrag bestimmt (§ 6 AbgG).30

Darüber hinaus hat er keine Bestimmungen für die Ausgestaltung des wiederaufgenommenen Dienstverhältnisses nach Beendigung des Abgeordnetenmandats getroffen und insbesondere nicht die Ruhestandsversetzung des Beamten oder Richters eingeschränkt. Für einen so weitreichenden Regelungswillen des Gesetzgebers findet sich keine Andeutung in der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Ziel dieses Gesetzes war die grundlegende Änderung der Rechtsstellung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in den Bundestag gewählt werden. Im Unterschied zum bisherigen Recht sollte der Beamte mit Annahme der wahl nicht mehr in den Ruhestand treten, sondern es sollte das Ruhen der Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis angeordnet werden (BT-Drucks. 7/5525 S. 2; BT-Drucks. 7/5531 S. 11, 14 f. zu § 7 AbgG-E; BT-Drucks. 7/5903 S. 2, 10 zu § 5 AbgG-E). In der Gesetzesbegründung wird hervorgehoben, dass sich der Entwurf „im Sinne einer klaren Trennung von Amt und Mandat“ für das Ruhen der Rechte und Pflichten entscheide und dies den Beamten stärker aus seinem Dienstverhältnis löse. So sollte insbesondere die Pflicht zur Unparteilichkeit und die politische Treuepflicht, die Pflicht zur Mäßigung und Zurückhaltung bei politischer Betätigung und die Pflicht zur Einholung einer Genehmigung für eine Nebentätigkeit ruhen (BT-Drucks. 7/5531 S. 15 zu § 7 AbgG-E). Daraus ergibt sich, anders als die Revision meint, kein Anhaltspunkt dafür, dass die Ruhensanordnung für Richter nach Beendigung des Mandats und Wiederaufnahme des früheren Dienstverhältnisses eine „Sperrwirkung“ in Bezug auf § 31 DRiG entfalten sollte. Vielmehr war Intention des Gesetzgebers lediglich die klare Trennung von Mandat und öffentlichem Dienstverhältnis während der Mitgliedschaft des Beamten oder Richters im Parlament. Dieser Zweck gebietet es nicht, dass aus – außerparlamentarischen – Äußerungen und sonstigen Verhaltensweisen eines Richters allein deshalb keine Folgerungen für die Anwendung von § 31 DRiG hergeleitet werden dürfen, weil sie in den zeitlichen Rahmen des Abgeordnetenmandats fallen.31

b) Die Entscheidung des Dienstgerichts beruht auf einer rechtsfehlerfreien Anwendung des § 31 DRiG.32

aa) Nach dieser Vorschrift muss eine der in Nummern 1 bis 3 genannten Versetzungsmaßnahmen durch außerhalb der richterlichen Tätigkeit liegende Tatsachen zwingend geboten sein, um eine schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege abzuwenden.33

Welcher Art die nach § 31 DRiG maßgeblichen Tatsachen sein müssen, umschreibt das Gesetz nicht. In Betracht kommen mündliche oder schriftliche Äußerungen oder anderes Verhalten des Richters (vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, 6. Aufl., § 31 DRiG Rn. 6). Die betreffenden Tatsachen müssen außerhalb der richterlichen Tätigkeit und können auch ganz außerhalb des dienstlichen Bereichs liegen (Schmidt-Räntsch aaO Rn. 5; vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 1995 – RiZ(R) 1/95, NJW 1995, 2495; vgl. die in der Begründung des Entwurfs eines Deutschen Richtergesetzes genannten Beispielsfälle, BT-Drucks. 3/516 S. 42 zu § 27 DRiG-E).34

Ob die Versetzungsmaßnahme zwingend geboten ist, um eine schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege abzuwenden, ist unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Dabei sind strenge Maßstäbe anzulegen, weil § 31 DRiG in den Grundsatz der Unversetzbarkeit des Richters eingreift, der Ausfluss seiner persönlichen Unabhängigkeit im Sinne des Art. 97 Abs. 2 GG ist. Als Ausnahmeregelung von diesem Grundsatz ist die Vorschrift daher eng auszulegen (BGH, Urteil vom 19. Mai 1995 – RiZ(R) 1/95, NJW 1995, 2495 [juris Rn. 28]; Schmidt-Räntsch, DRiG, 6. Aufl., § 31 DRiG Rn. 8). Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG gestattet die Versetzung hauptamtlicher und planmäßig endgültig angestellter Richter gegen ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen. Die Unversetzbarkeit wird dem Richter allerdings nicht um seiner selbst willen, sondern im Interesse einer unabhängigen Rechtsprechung gewährt (Schmidt-Räntsch aaO Rn. 3). Das Erfordernis restriktiver Gesetzesauslegung hat zur Folge, dass eine Versetzungsmaßnahme durch richterliches Urteil nur dann für zulässig erklärt werden darf, wenn objektiv feststeht, dass die festgestellten Tatsachen die Rechtspflege in schwerwiegender Weise beeinträchtigen. Davon muss unter anderem dann ausgegangen werden, wenn das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Person des Richters oder in seine Amtsführung in so hohem Maße Schaden genommen hat, dass seine Rechtsprechung nicht mehr glaubwürdig erscheint und durch sein Verbleiben in dem ihm anvertrauten Amt zugleich das öffentliche Vertrauen in eine unabhängige und unvoreingenommene Rechtspflege beseitigt oder gemindert würde (BGH, Urteil vom 19. Mai 1995 aaO m.w.N.; vgl. zur Wahrung der Unabhängigkeit durch Verhalten außerhalb des Richteramtes BVerfG NJW 1989, 93 [juris Rn. 4 f.] m.w.N.).35

Eine Versetzung nach § 31 DRiG kommt grundsätzlich in Betracht, wenn der Richter nicht mehr die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintreten wird. Das gilt nicht nur für die Berufung in das Richterverhältnis (§ 9 Nr. 2 DRiG), sondern ist dauernde Voraussetzung für die Ausübung des Richteramts auf der Grundlage des Grundgesetzes (vgl. BVerfG, NJW 2008, 2568 Rn. 16 ff.). Auf dem Boden des Grundgesetzes ist unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung des Richteramts die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters (vgl. zur Voraussetzung der Rechtsstaatlichkeit als unverzichtbarem Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung BVerfGE 144, 20 Rn. 547). Tatsachen, die eine Versetzung nach § 31 DRiG rechtfertigen, liegen danach im Falle einer politischen Betätigung des Richters vor, wenn er sich in herausgehobener Stellung bei einer politischen Gruppierung betätigt, die Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaats ablehnt. Weiter rechtfertigen Tatsachen eine Versetzung des Richters, wenn er durch sein Auftreten in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, er werde aus politischen Gründen sein künftiges dienstliches Verhalten an seiner persönlichen Einschätzung und nicht mehr allein an den Gesichtspunkten der Sachrichtigkeit, Rechtstreue, Gerechtigkeit, Objektivität und dem Allgemeinwohl ausrichten.36

Ob und inwieweit basale politische Treuepflichten aus dem Grundstatus des Richteramts folgen und in welchem Umfang sie während der Mitgliedschaft eines Richters im Deutschen Bundestag fortbestehen (vgl. dazu Gärditz, DVBl 2023, 367, 369; Nitschke, ZBR 2023, 139 ff. m.w.N.; von Roetteken, ZBR 2022, 109, 110; Wittkowski, ZRP 2022, 87, 89 f.), spielt deshalb für die Anwendung des § 31 DRiG keine Rolle. Entscheidend ist, ob die festgestellten Tatsachen die Beurteilung rechtfertigen, dass von der weiteren Ausübung der Richtertätigkeit eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtspflege ausgehen wird. Hierfür ist maßgeblich, ob die Annahme gerechtfertigt ist, der Richter werde bei seiner künftigen Berufsausübung nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.37

Die Feststellung und Würdigung der einer Versetzungsmaßnahme im Sinne von § 31 DRiG zugrundeliegenden Tatsachen ist grundsätzlich Sache der Tatsachengerichte (vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 1995 – RiZ(R) 1/95, NJW 1995, 2495 [juris Rn. 28]) und unterliegt im Revisionsverfahren nur einer eingeschränkten Überprüfung (vgl. § 80 Abs. 1 Satz 1 DRiG, § 137 Abs. 2 VwGO). Sofern keine durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben werden, ist das Revisionsgericht grundsätzlich an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Die tatrichterliche Würdigung ist nur darauf zu überprüfen, ob sie gegen anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt, ob wesentlicher Tatsachenstoff außer Betracht gelassen wurde oder ob sie sonst auf Rechtsfehlern beruht (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juni 2023 – RiZ(R) 1/22, juris Rn. 36 m.w.N.).38

bb) Die vom Dienstgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen sind revisionsrechtlich ebenso wenig zu beanstanden wie die von ihm auf dieser Grundlage vorgenommene Würdigung, dass nur eine Versetzung des Antragsgegners in den Ruhestand nach § 31 Nr. 3 DRiG in Betracht kommt.39

(1) Das Dienstgericht hat zutreffend maßgeblich auf die exponierte Betätigung des Antragsgegners im sogenannten Flügel der AfD abgestellt, der nach den Feststellungen des Berufungsgerichts im Sächsischen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 unter Bezugnahme auf eine Fachinformation des Bundesamtes für Verfassungsschutz für 2020 als extremistischer Personenzusammenschluss innerhalb der AfD bezeichnet wird und dessen Politikkonzept insbesondere auf die permanente Verächtlichmachung demokratischer Institutionen, die Abschaffung des Parlamentarismus, die Etablierung einer völkischen Gesellschaftsordnung mit einem ethnokulturell homogenen Staatsvolk, die pauschale Ausgrenzung, Verächtlichmachung und Rechtlosstellung von Migranten, Muslimen und politisch Andersdenkenden abzielt und strukturelle Verbindungen zu sowie die systematische Zusammenarbeit mit der klassischen rechtsextremistischen und der neurechten Szene unterhält. Dabei hat das Dienstgericht zu Recht berücksichtigt, dass der „Flügel“ im April 2020 zwar formell aufgelöst wurde, aber auch nach den in dem Sächsischen Verfassungsschutzbericht 2020 und im Verfassungsschutzbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz 2020 zitierten Äußerungen des Antragsgegners „als Haltungsgemeinschaft noch weiterhin aktiv“ ist. Dass das Dienstgericht mit Blick darauf die Besorgnis des Antragstellers, der Antragsgegner werde wegen seiner Betätigung für den „Flügel“ der AfD in der Öffentlichkeit als Rechtsextremist wahrgenommen, für zutreffend erachtet hat, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Dabei hat das Dienstgericht wie geboten in den Blick genommen, dass der Antragsgegner nicht aufgrund einer haltlosen Berichterstattung Opfer einer künstlich herbeigeführten Empörung der Öffentlichkeit geworden ist, sondern seine öffentliche Wahrnehmung Folge tatsächlicher eigener Verhaltensweisen ist. Die – auch nach Ansicht des Antragsgegners in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Dresden zu klärende – Frage, ob er mit Recht als „Rechtsextremist“ bezeichnet worden ist, hat das Dienstgericht zutreffend für unerheblich gehalten. Im Versetzungsverfahren kommt es entscheidend darauf an, dass – was hier der Fall ist – aufgrund der festgestellten Anknüpfungstatsachen das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Person des Antragsgegners oder in seine Amtsführung in so hohem Maße Schaden genommen hat, dass durch sein Verbleiben in dem ihm anvertrauten Amt zugleich das öffentliche Vertrauen in eine unabhängige und unvoreingenommene Rechtspflege beseitigt wird.40

(2) Des Weiteren hat das Dienstgericht die oben wiedergegebenen, vom Antragsteller vorgetragenen und durch Videomitschnitt dokumentierten Äußerungen des Antragsgegners am 17. Januar 2017 bei einer Rede auf einer Parteiveranstaltung der AfD sowie die Presseberichterstattung hierzu berücksichtigt. Es hat hieraus zutreffend den Schluss gezogen, der Antragsgegner werde in der Öffentlichkeit als eine Person wahrgenommen, die nicht auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht. Die tatrichterliche Würdigung der in dieser Rede gefallenen Äußerungen wie der Bezeichnung der Aufarbeitung der NS-Verbrechen als „gegen uns gerichtete Propaganda und Umerziehung“ und „Schuldkult“ sowie der Hervorhebung der NPD als einzige Partei, die bis zum Aufkommen der AfD „immer geschlossen zu Deutschland gestanden habe“, als nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehend begegnet – auch mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Auslegung von Meinungsäußerungen (vgl. BVerfGE 114, 339 Rn. 30 ff.) – keinen revisionsrechtlichen Bedenken. Letzteres steht im Einklang mit der Bewertung des Bundesverfassungsgerichts, die NPD sei eine dem Nationalsozialismus wesensverwandte Partei (BVerfGE 144, 20 Rn. 805). In diesen Zusammenhang hat das Dienstgericht zutreffend auch die Äußerungen des Antragsgegners anlässlich eines Wahlkampfauftritts am 21. August 2017 eingeordnet.41

Mit der betreffend die Rede vom 17. Januar 2017 erhobenen Rüge, das Dienstgericht habe unter Verstoß gegen Verfahrensrecht (§ 108 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO) Quellen berücksichtigt, die erst aufgrund Abrufs aus dem Internet am 6. Dezember 2022 und damit nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 1. Dezember 2022 entstanden seien, vermag die Revision nicht durchzudringen. Soweit das Dienstgericht die von ihm herangezogene und im Internet veröffentlichte Presseberichterstattung mit dem Zusatz „Abruf zuletzt am 6. Dezember 2022“ zitiert hat, legt die Revision bereits nicht dar, dass diese Quellen abweichend vom Wortlaut des Zusatzes erstmalig nach Schluss der mündlichen Verhandlung ermittelt wurden und mit den zu den Akten gereichten Presseberichten nicht übereinstimmen.42

(3) Zu Recht hat das Dienstgericht weiter als Tatsache, die eine schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege befürchten lässt und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Amtsführung und die Unvoreingenommenheit des Antragsgegners beseitigt, den von seinem offiziellen Twitter-Account als Reaktion auf einen Bericht des „Spiegel“ vom 18. März 2019 abgesetzten „Tweet“ rechtsfehlerfrei so gewürdigt, dass dadurch in der Öffentlichkeit der nachvollziehbare Eindruck entstehe, der Antragsgegner werde in Zukunft nicht unvoreingenommen und unabhängig Recht sprechen, sondern in seiner von ihm selbst empfundenen Eigenschaft als „AfD-Richter“ von parteipolitischen Motiven oder Einstellungen geleitet. Soweit das Dienstgericht ausweislich der Entscheidungsgründe den „Spiegel“-Bericht „zuletzt am 6. Dezember 2022“ abgerufen hat, hat die Revision aus den vorgenannten Gründen mit ihrer Verfahrensrüge ebenfalls keinen Erfolg.43

Ob der fragliche „Tweet“ vom Antragsgegner selbst oder, wie er vorträgt, von einem seiner Mitarbeiter abgesetzt wurde, brauchte das Dienstgericht entgegen der Auffassung der Revision nicht aufzuklären. Revisionsrechtlich bedenkenfrei hat es darauf abgestellt, dass die Öffentlichkeit die vom offiziellen Twitter-Account des Antragsgegners stammenden und von ihm nicht zurückgenommenen Äußerungen dem Antragsgegner zurechnen und daraus Schlüsse auf seine von seiner politischen Überzeugung geprägte Einstellung bei seiner (künftigen) richterlichen Tätigkeit ziehen werde.44

(4) Entsprechendes gilt, wie das Dienstgericht zutreffend angenommen hat, soweit in einem „Tweet“ vom Twitter-Account des Antragsgegners der Sohn des ehemaligen Tennisprofis Becker als „kleiner Halbneger“ bezeichnet wurde. Auch diese rechtsfehlerfrei als abwertend, menschenverachtend und rassistisch gewürdigte Äußerung konnte das Dienstgericht dem Antragsgegner aufgrund der Veröffentlichung mittels seines offiziellen Accounts zuordnen, selbst wenn sie nach seinem Vortrag von einem seiner Mitarbeiter abgesetzt wurde.45

(5) Bereits die vorstehenden, vom Dienstgericht festgestellten, vom Antragsgegner stammenden oder ihm zuzurechnenden Äußerungen und Verhaltensweisen tragen im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung den Schluss, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Person und die Amtsführung des Antragsgegners in hohem Maße beeinträchtigt ist und seine weitere rechtsprechende Tätigkeit den Eintritt eines schweren Schadens für das Ansehen der Rechtspflege besorgen lässt, was eine Maßnahme nach § 31 DRiG zwingend gebietet.46

Das Dienstgericht hat auch zutreffend aus den in § 31 DRiG genannten Maßnahmen die Versetzung in den Ruhestand als verhältnismäßig ausgewählt. Eine Versetzung des Antragsgegners gemäß § 31 Nr. 1 DRiG in ein anderes Richteramt mit gleichem Endgrundgehalt kommt nicht in Betracht, weil die den Vertrauensverlust begründenden Tatsachen die Verwendung des Antragsgegners in jedem Richteramt ausschließen. Jedenfalls in einem Fall wie hier, in dem aufgrund einer langjährig verfestigten und öffentlichkeitswirksam vertretenen politischen Anschauung außerhalb der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ein erheblicher Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit eingetreten und zugleich nicht zu erwarten ist, dass innerhalb der verbleibenden Dienstzeit eine Änderung der die Entscheidung nach § 31 DRiG bestimmenden Tatsachen eintritt, kommt auch eine Versetzung nur in den einstweiligen Ruhestand gemäß § 31 Nr. 2 DRiG als weniger einschneidende Maßnahme nicht in Betracht. Deshalb hat das Dienstgericht rechtsfehlerfrei auf die nach § 31 DRiG schärfste Maßnahme erkannt.47

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 80 Abs. 1 Satz 1 DRiG, § 154 Abs. 2 VwGO.

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