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BGH, Urteil vom 15. September 2023 – V ZR 77/22

Freitag, 15. September 2023

Aufklärungspflichten Immobilienverkäufer I Einrichtung eines Datenraums

§§ 123, 241 Abs. 2, 311 BGB

Der Verkäufer eines bebauten Grundstücks, der dem Käufer Zugriff auf einen Datenraum mit Unterlagen und Informationen zu der Immobilie gewährt, erfüllt hierdurch seine Aufklärungspflicht, wenn und soweit er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 29. März 2022 aufgehoben mit Ausnahme der Zurückweisung der Berufung der Klägerin gegen die Abweisung des Antrags auf Feststellung des Verzugs des Beklagten zu 2 mit der Annahme der im Klageantrag zu 4 genannten Gegenleistung (Klageantrag zu 5).

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Beklagte zu 1 (nachfolgend Verkäuferin) verkaufte der Klägerin mit notariellem Vertrag vom 25. März 2019 mehrere Gewerbeeinheiten in einem großen Gebäudekomplex zu einem Kaufpreis von 1.525.000 € unter Ausschluss der Sachmängelhaftung. In dem Kaufvertrag versicherte die Verkäuferin, dass keine Beschlüsse gefasst seien, aus denen sich eine künftig fällige Sonderumlage ergebe, mit Ausnahme eines Beschlusses über die Dachsanierung mit wirtschaftlichen Auswirkungen von 5.600 € jährlich für den Käufer (§ 4 Nr. 2). Zudem versicherte die Verkäuferin, dass nach ihrer Kenntnis außergewöhnliche, durch die Instandhaltungsrücklage nicht gedeckte Kosten im laufenden Wirtschaftsjahr nicht angefallen seien und ihr auch nicht bekannt sei, dass solche Kosten bevorstünden oder weitere Sonderumlagen beschlossen worden seien (§ 4 Nr. 7). Weiter heißt es in dem Kaufvertrag, der Verkäufer habe dem Käufer die Protokolle der Eigentümerversammlungen der letzten drei Jahre übergeben und der Käufer habe Kenntnis von dem Inhalt der Unterlagen (§ 4 Nr. 8). Die Klägerin wurde als Eigentümerin der Einheiten in das Grundbuch eingetragen.2

Im Rahmen der Kaufvertragsverhandlungen, die auf Seiten der Verkäuferin von dem Geschäftsführer ihrer Komplementärin, dem Beklagten zu 2 geführt wurden, hatte die Klägerin Zugriff auf einen von der Verkäuferin eingerichteten virtuellen Datenraum erhalten, der verschiedene Unterlagen zu dem Kaufobjekt enthielt. Am Freitag, den 22. März 2019, stellte die Verkäuferin die seit dem 1. Juli 2007 zu führende Beschlusssammlung in den Datenraum ein; darin enthalten war das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016. In dieser Versammlung hatten die Eigentümer beschlossen, die Mehrheitseigentümerin außergerichtlich und ggf. auch gerichtlich auf Zahlung von 50 Mio. € in Anspruch zu nehmen zur Umsetzung eines in der Eigentümerversammlung vom 17. Mai 2006 gefassten sog. „Umbau- und Revitalisierungs“-Beschlusses über umfangreiche bauliche Änderungen in dem Gebäudekomplex. Zugleich war abgelehnt worden, eine Sonderumlage in gleicher Höhe von den Eigentümern der Gewerbeeinheiten unter Freistellung der Wohnungseigentümer zu erheben. Um die Aufbringung der Sanierungskosten durch die Sonderumlage durchzusetzen, hatte eine andere Eigentümerin Klage erhoben. Das Verfahren endete im Januar 2020 mit einem Vergleich, demzufolge von den Eigentümern der Gewerbeeinheiten eine Sonderumlage von zunächst 750.000 € – bei Bedarf bis zu 50 Mio. € – für Instandhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen am Gemeinschaftseigentum erhoben werden sollte. Auf dieser Grundlage wurde auch die Klägerin in Anspruch genommen. Daraufhin erklärte sie mit Schreiben vom 2. März 2020 die Anfechtung des Kaufvertrags wegen arglistiger Täuschung, vorsorglich den Rücktritt vom Kaufvertrag.3

Mit der Klage verlangt die Klägerin von den Beklagten als Gesamtschuldnern die Freistellung von den zur Finanzierung des Kaufpreises eingegangenen Darlehensverbindlichkeiten, hilfsweise die Zahlung von 1.500.000 €, daneben die Zahlung von 184.551,82 € – jeweils Zug um Zug gegen Übereignung der Gewerbeeinheiten und Abtretung der Rückgewähransprüche bezüglich der eingetragenen Grundschulden – sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden und des Annahmeverzugs. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der von dem Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Beklagten beantragen, verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter.

Entscheidungsgründe

A.

Das Berufungsgericht meint, die Klägerin habe gegen die Verkäuferin keinen Anspruch auf Befreiung von den Darlehensverbindlichkeiten aus § 812 Abs. 1 BGB. Ihr stehe kein Recht zur Anfechtung des Kaufvertrags wegen arglistiger Täuschung gemäß § 123 Abs. 1 BGB zu. Die Verkäuferin habe in dem notariellen Kaufvertrag zutreffende Erklärungen abgegeben, denn eine Sonderumlage sei bis zum Vertragsschluss nicht beschlossen worden. Ob sich aufgrund der bei Abschluss des Kaufvertrages fehlenden Bestandskraft des die Sonderumlage ablehnenden Beschlusses vom 1. November 2016 eine künftig fällige Sonderumlage hinreichend konkret ergeben und die Verkäuferin insoweit objektiv eine falsche Zusicherung abgegeben habe, könne dahinstehen. Denn jedenfalls sei der Tatbestand der arglistigen Täuschung diesbezüglich subjektiv nicht erfüllt, weil nicht feststehe, dass die Verkäuferin von der auf die Erhebung einer Sonderumlage abzielenden Klage Kenntnis gehabt habe.5

Die Klägerin habe auch keinen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2 BGB, denn die Verkäuferin habe nicht unter Missachtung ihrer Aufklärungspflicht wahre Tatsachen unterdrückt. Insbesondere könne die Klägerin der Verkäuferin nicht vorwerfen, das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 erst unmittelbar vor dem Notartermin „klammheimlich“ in den Datenraum eingestellt und ihr damit „untergeschoben“ zu haben. Denn die Klägerin habe schon mit dem Verkaufsexposé den Hinweis auf diese Eigentümerversammlung und auf eine anstehende Ertüchtigung der Fassade und Umgestaltung des Gebäudekomplexes auf zwei Ebenen erhalten. Dem sei sie nicht nachgegangen. Zudem müsse sich die Klägerin ihre in dem Kaufvertrag abgegebene Bestätigung, die Protokolle der Eigentümerversammlungen der letzten drei Jahre erhalten zu haben, entgegenhalten lassen. Es habe in ihrer Verantwortung gelegen, sich über die maßgebliche Beschlusslage der Eigentümergemeinschaft zu informieren. Die Parteien hätten auch keine Frist vereinbart, innerhalb derer Informationen über den Kaufgegenstand in den elektronischen Datenspeicher längstens eingestellt werden konnten. Das Vorbringen der Klägerin, sie sei entgegen der bisherigen Übung nicht auf die Zurverfügungstellung weiterer Unterlagen hingewiesen worden, sei zu allgemein gehalten und widersprüchlich. Gegen den Beklagten zu 2 stünden der Klägerin ebenfalls keine Schadensersatzansprüche zu. Mangels arglistiger Täuschung scheide eine deliktische Haftung nach §§ 823, 826 BGB aus. Für einen Anspruch aus § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 3, § 241 Abs. 2 BGB fehle es an einer Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens.

B.

Dies hält rechtlicher Nachprüfung überwiegend nicht stand.7

I. Die gegen die Verkäuferin gerichtete Revision ist in vollem Umfang begründet.8

1. Mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Anspruch der Klägerin gegen die Verkäuferin auf Befreiung von den Darlehensverbindlichkeiten nicht verneint werden.9

a) Im Ergebnis zutreffend ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Klägerin einen solchen Anspruch nicht auf § 812 Abs. 1 BGB stützen kann. Richtigerweise folgt dies bereits daraus, dass der Anspruch aus § 812 Abs. 1 BGB auf Herausgabe des Erlangten gerichtet ist, die Klägerin hiermit bei einer Überweisung des Kaufpreises also nur Wertersatz in Höhe des Nennbetrags der Überweisung verlangen kann (vgl. § 818 Abs. 2 BGB). Eine Befreiung von den Darlehensverbindlichkeiten scheidet dagegen als Anspruchsziel aus. Denn aus dem Darlehensvertrag hat die Verkäuferin keine Ansprüche erlangt; sie war nicht Vertragspartei. An dieser Stelle kann also dahingestellt bleiben, ob der Klägerin ein Anfechtungsrecht wegen arglistiger Täuschung gemäß § 123 Abs. 1 BGB zustand.10

b) Zutreffend ist auch die – von der Revision nicht beanstandete – Annahme des Berufungsgerichts, dass die Klägerin nicht nach § 437 Nr. 2, §§ 440, 323 und 326 Abs. 5 BGB zum Rücktritt von dem Kaufvertrag berechtigt war und nach § 437 Nr. 3, §§ 440, 280, 281, 283 und 311a BGB Schadensersatz verlangen kann, weil sie weder einen Sach- noch einen Rechtsmangel des Kaufobjekts geltend macht. Die Klägerin leitet Ansprüche nicht aus dem Zustand des Gebäudes ab, namentlich nicht aus einer von ihr nicht erkannten Sanierungsbedürftigkeit, sondern daraus, dass die Beklagten sie ihrer Ansicht nach nicht hinreichend über eine konkret drohende Sonderumlage in Höhe von bis zu 50 Mio. € aufgeklärt haben. Der Beschluss einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE) über die Erhebung einer Sonderumlage ist weder eine Eigenschaft des Gebäudes noch – auch wenn er Zahlungspflichten des Teileigentümers gegenüber der GdWE begründet – ein Recht Dritter in Bezug auf den Kaufgegenstand i.S.v. § 435 Satz 1 BGB. Das Teileigentum wird durch einen solchen Beschluss nicht belastet und der Teileigentümer in seiner Nutzungs- und Verfügungsbefugnis nicht beschränkt.11

c) Rechtsfehlerhaft verneint das Berufungsgericht jedoch einen Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Verkäuferin aus § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2 BGB. Ein solcher Anspruch kommt unter drei Gesichtspunkten in Betracht: wegen einer unzutreffenden Erklärung der Verkäuferin in dem notariellen Kaufvertrag (aa), wegen einer unrichtigen oder unvollständigen Antwort der Verkäuferin auf Fragen der Klägerin (bb) sowie wegen einer unterbliebenen Aufklärung der Klägerin durch die Verkäuferin über einen offenbarungspflichtigen Umstand (cc).12

aa) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist zunächst nicht ausgeschlossen, dass der Klägerin ein Schadensersatzanspruch wegen Verschuldens bei Vertragsschluss aufgrund einer unzutreffenden Erklärung der Verkäuferin in dem notariellen Kaufvertrag zusteht.13

(1) Zwar muss bei Vertragsverhandlungen, in denen die Beteiligten entgegengesetzte interessen verfolgen, nicht jeder Umstand, der für den anderen nachteilig sein könnte, offenbart werden. Macht der Verkäufer jedoch tatsächliche Angaben, die für den Kaufentschluss des anderen Teils von Bedeutung sein können, so müssen diese richtig sein, und zwar auch dann, wenn eine Offenbarungspflicht nicht bestand (Senat, Urteil vom 20. September 1996 – V ZR 173/95, NJW-RR 1997, 144, 145; vgl. auch BGH, Urteil vom 22. März 1979 – VII ZR 259/77, BGHZ 74, 103, 110).14

(2) Nicht zu beanstanden ist, dass das Berufungsgericht die Versicherung der Verkäuferin in § 4 Nr. 2 des Kaufvertrages, es sei mit Ausnahme der Dachsanierung kein Beschluss gefasst, aus dem sich eine künftig fällige Sonderumlage ergebe, als zutreffend bewertet. Der Beschluss vom 17. Mai 2006 regelte nur die Haftung einzelner Eigentümer für den Fall des Zahlungsausfalls der Mehrheitseigentümerin. In der Versammlung am 1. November 2016 war die Erhebung einer Sonderumlage abgelehnt worden und über die auf die Erhebung einer Sonderumlage gerichtete Klage einer Miteigentümerin war zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht entschieden worden.15

(3) Rechtsfehlerhaft ist indes die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen Anspruch der Klägerin im Hinblick auf die Erklärung der Verkäuferin in § 4 Nr. 7, dass nach ihrer Kenntnis außergewöhnliche, durch die Instandhaltungsrücklage nicht gedeckte Kosten im laufenden Wirtschaftsjahr bisher nicht angefallen seien und auch nicht bevorstünden, ablehnt.16

(a) Das Berufungsgericht versteht die von der Verkäuferin abgegebene Erklärung ersichtlich als sog. Wissenserklärung. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, zumal die Erklärung nicht auf eine Beschaffenheit des Kaufobjekts bezogen ist. Die rechtliche Bedeutung einer Wissenserklärung oder Wissensmitteilung liegt darin, dass der Verkäufer gemäß § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 2 BGB dafür haftet, dass seine Angaben richtig und vollständig sind (vgl. BGH, Urteil vom 12. März 2008 – VIII ZR 253/05, NJW 2008, 1517 Rn. 16). Hier kommt in Betracht, dass die Erklärung als unvollständig anzusehen ist und die Verkäuferin dies zu vertreten hat.17

(b) Aus den der Verkäuferin bekannten Protokollen der Versammlungen der Wohnungs- und Teileigentümer, insbesondere aus dem Protokoll der Versammlung vom 1. November 2016, ging hervor, dass Kosten für anstehende bauliche Maßnahmen in Höhe von 50 Mio. € im Raum standen, die von der Instandhaltungsrücklage nicht gedeckt waren und deshalb – ggf. auch gerichtlich – gegenüber der Mehrheitseigentümerin geltend gemacht werden sollten. Damit war der Beschluss aus dem Jahre 2006, den das Berufungsgericht dahin versteht, dass die Mehrheitseigentümerin möglicherweise selbst die Arbeiten durchführen bzw. in Auftrag geben sollte, überholt. Denn die Eigentümer gingen bei der Beschlussfassung am 1. November 2016 ersichtlich davon aus, dass die GdWE die Maßnahmen durchführen und die Mehrheitseigentümerin (nur) wegen der Kosten in Anspruch genommen werden soll. Somit bestand das Risiko, dass bei einer erfolglosen Inanspruchnahme der Mehrheitseigentümerin im Innenverhältnis (auch) die übrigen Eigentümer für die Kosten aufkommen müssen. Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, die Erklärung der Verkäuferin, dass nach ihrer Kenntnis außergewöhnliche, durch die Instandhaltungsrücklage nicht gedeckte Kosten nicht bevorstünden, zumindest als unvollständig anzusehen, zumal diese Erklärung – entgegen der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung – keine Einschränkung dahin enthält, dass sie sich lediglich auf „konkret“ bevorstehende Kosten bezieht. Sollte die Erklärung somit als falsch oder zumindest als unvollständig anzusehen sein, würde das Vertretenmüssen der Verkäuferin insoweit vermutet (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB).18

bb) Ebenso wenig kann mit der Begründung des Berufungsgerichts ein Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen einer unrichtigen oder unvollständigen Antwort der Verkäuferin auf Fragen der Klägerin ausgeschlossen werden.19

(1) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist der Verkäufer – wiederum unabhängig vom Bestehen einer Offenbarungspflicht – verpflichtet, Fragen des Käufers richtig und vollständig zu beantworten (vgl. Senat, Urteil vom 14. Juni 2019 – V ZR 73/18, ZfIR 2019, 846 Rn. 25; Urteil vom 27. März 2009 – V ZR 30/08, BGHZ 180, 205 Rn. 25 jeweils mwN). Das Berufungsgericht lässt ausdrücklich offen, ob die Klägerin vor Abschluss des Kaufvertrages gefragt hat, ob und welcher Kostenanteil in Anbetracht des Sanierungsstaus womöglich auf sie zukomme, und ob die Verkäuferin hierauf geantwortet hat, ihre Büroeinheiten verfügten über eine Option zur Umwandlung in Wohneinheiten, bei denen eine Kostenbeteiligung an Instandhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen, welche eigentlich nur die Ladeneigentümer beträfen, nicht vorgesehen sei. Für das Revisionsverfahren ist daher zu unterstellen, dass die Frage gestellt und auf diese Weise beantwortet wurde.20

(2) Auf dieser Grundlage kann ein vorvertragliches Verschulden der Verkäuferin nicht mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung verneint werden, der Klägerin sei vor Vertragsschluss bekannt gewesen, dass an dem Gebäudekomplex ein Bedarf an baulichen Sanierungsmaßnahmen in nicht unbedeutendem Umfang bestanden habe, und die Antwort der Verkäuferin habe der Klägerin zumindest einen Eindruck von der Größenordnung der sie etwa treffenden Kostenlast vermittelt. Denn die Antwort der Verkäuferin wäre zwar richtig, wenn – wozu das Berufungsgericht allerdings keine Feststellungen getroffen hat – die beschriebene Umwandlungsoption tatsächlich bestanden haben sollte. Sie wäre aber sowohl im Hinblick auf die ohne Umwandlung eintretende Kostenbelastung als auch im Hinblick auf den Kostenumfang unvollständig. Denn sie lässt entgegen der nicht näher begründeten Annahme des Berufungsgerichts keinen Rückschluss darauf zu, dass Kosten für anstehende bauliche Maßnahmen in Höhe von 50 Mio. € im Raum standen, die von der Instandhaltungsrücklage nicht gedeckt waren und deshalb – ggf. auch gerichtlich – gegenüber der Mehrheitseigentümerin geltend gemacht werden sollten, bei deren Ausfall aber im Innenverhältnis von allen Eigentümern aufzubringen wären.21

(3) Eine Vervollständigung der Antwort durch das Nachreichen von Dokumenten – hier das Einstellen des Protokolls vom 1. November 2016, aus dem sich die bestehende Problematik und ihre Größenordnung hätten erkennen lassen, in den Datenraum – kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn hierdurch die auch ohne konkrete Nachfrage bestehende Aufklärungspflicht nicht erfüllt wird, etwa weil – wie hier – die Dokumente kurz vor der Beurkundung ohne gesonderten Hinweis in den Datenraum eingestellt werden (hierzu sogleich).22

cc) Rechtsfehlerhaft ist schließlich auch die Annahme des Berufungsgerichts, die Verkäuferin habe hinsichtlich des Kostenumfangs für die anstehenden Sanierungsmaßnahmen keine sie treffende Aufklärungspflicht verletzt. Die Verkäuferin hätte die Klägerin auch ungefragt über den Kostenumfang aufklären müssen. Diese Pflicht ist nicht dadurch entfallen oder erfüllt worden, dass sie am 22. März 2019 das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 in den Datenraum eingestellt hat.23

(1) Die Tatsache, dass Sanierungsmaßnahmen mit einem Kostenumfang von 50 Mio. € ausstanden, war ein offenbarungspflichtiger Umstand, über den die Verkäuferin die Klägerin hätte aufklären müssen.24

(a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht bei Vertragsverhandlungen zwar keine allgemeine Rechtspflicht, den anderen Teil über alle Einzelheiten und Umstände aufzuklären, die dessen Willensentschließung beeinflussen könnten. Vielmehr ist grundsätzlich jeder Verhandlungspartner für sein rechtsgeschäftliches Handeln selbst verantwortlich und muss sich deshalb die für die eigene Willensentscheidung notwendigen Informationen auf eigene Kosten und eigenes Risiko selbst beschaffen. Allerdings besteht auch bei Vertragsverhandlungen, in denen die Parteien entgegengesetzte interessen verfolgen, für jeden Vertragspartner die Pflicht, den anderen Teil über Umstände aufzuklären, die den Vertragszweck des anderen vereiteln können und daher für seinen Entschluss von wesentlicher Bedeutung sind, sofern er die Mitteilung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Vertragsanschauung redlicherweise erwarten darf (vgl. Senat, Urteil vom 2. Februar 1996 – V ZR 239/94, BGHZ 132, 30, 34; Urteil vom 15. Juli 2011 – V ZR 171/10, BGHZ 190, 272 Rn. 7; Urteil vom 1. Februar 2013 – V ZR 72/11, NJW 2013, 1807 Rn. 8; BGH, Urteil vom 11. August 2010 – XII ZR 192/08, NJW 2010, 3362 Rn. 21; Urteil vom 14. September 2017 – VII ZR 307/16, NJW 2017, 1586 Rn. 14 jeweils mwN). Ein solcher Umstand kann auch dann vorliegen, wenn er geeignet ist, dem Vertragspartner erheblichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen (BGH, Urteil vom 11. August 2010 – XII ZR 192/08, aaO Rn. 21).25

(b) Nach diesem Maßstab musste die Verkäuferin die Klägerin – auch ungefragt – darüber aufklären, dass bauliche Maßnahmen am Gemeinschaftseigentum im Kostenumfang von bis zu 50 Mio. € ausstanden. Dieser Kostenumfang war für die Klägerin zweifelsohne von erheblicher Bedeutung. Dass er bei einer Besichtigung ohne Weiteres erkennbar war, ist nicht festgestellt und auch nicht ersichtlich. Es muss sich nicht (sämtlich) um Maßnahmen handeln, die aufgrund eines erkennbar schlechten Zustands des Gebäudes erforderlich sind, also um echte Instandhaltungs- oder Instandsetzungsmaßnahmen. Vielmehr kann es sich – zumindest teilweise – auch um eine beabsichtigte Modernisierung bzw. modernisierende Verbesserung handeln, wie der Begriff „Revitalisierung“ in dem Beschluss aus dem Jahre 2006 andeutet.26

Die Aufklärungspflicht der Verkäuferin galt auch unabhängig davon, dass diese Kosten vorrangig von der Mehrheitseigentümerin getragen werden sollten und eine Sonderumlage noch nicht beschlossen war. Denn solange die geplanten baulichen Maßnahmen nicht umgesetzt und bezahlt waren, bestand für die Klägerin als künftige Eigentümerin mehrerer Gewerbeeinheiten die konkrete Gefahr, dass die hierfür anfallenden Kosten anteilig von ihr getragen werden müssen.27

(2) Diese Aufklärungspflicht ist nicht dadurch entfallen, dass die Verkäuferin das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 am 22. März 2019 in den Datenraum eingestellt hat und die Klägerin damit die Möglichkeit hatte, sich die Information selbst zu verschaffen.28

(a) Die für den Käufer bestehende Möglichkeit, sich die Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand selbst zu verschaffen, schließt die Pflicht des Verkäufers zur Offenbarung nicht von vornherein aus. So darf ein verständiger und redlicher Verkäufer zwar davon ausgehen, dass bei einer Besichtigung ohne Weiteres erkennbare Mängel auch dem Käufer ins Auge springen werden und deshalb eine gesonderte Aufklärung nicht erforderlich ist. Konstellationen, in denen dem Käufer auf andere Weise die Möglichkeit gegeben wird, sich die Kenntnis selbst zu verschaffen, stehen der Besichtigungsmöglichkeit aber nicht ohne Weiteres gleich. Mit Blick auf übergebene Unterlagen ist eine Gleichstellung nur dann gerechtfertigt, wenn ein Verkäufer aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer die Unterlagen nicht nur zum Zweck allgemeiner Information, sondern unter einem bestimmten Gesichtspunkt gezielt durchsehen wird. Solche Umstände liegen etwa vor, wenn der Verkäufer dem Käufer im Zusammenhang mit möglichen Mängeln ein Sachverständigengutachten überreicht. Dagegen kann ein Verkäufer nicht ohne Weiteres erwarten, dass der Käufer Finanzierungsunterlagen oder einen ihm übergebenen Ordner mit Unterlagen zu dem Kaufobjekt auf Mängel des Kaufobjekts durchsehen wird (vgl. zum Ganzen Senat, Urteil vom 23. September 2022 – V ZR 133/21, NZM 2023, 137 Rn. 20; Urteil vom 14. September 2018 – V ZR 165/17, NZM 2019, 452 Rn. 12; Urteil vom 11. November 2011 – V ZR 245/10, NJW 2012, 846 Rn. 6 f. mwN; Urteil vom 12. November 2010 – V ZR 181/09, BGHZ 188, 43 Rn. 10 f.; Urteil vom 2. Februar 1996 – V ZR 239/94, BGHZ 132, 30, 34 mwN). Das gilt gleichermaßen, wenn es nicht um einen offenbarungspflichtigen Mangel, sondern um einen anderen offenbarungspflichtigen Umstand geht, etwa – wie hier – um die aus einer ausstehenden Sanierungsmaßnahme drohende Kostenlast für den Käufer.29

(b) Diese Rechtsprechung ist sinngemäß auf den Fall zu übertragen, dass der Verkäufer einen Datenraum mit Unterlagen zu dem Kaufobjekt einrichtet und dem Käufer hierauf Zugriff gewährt.30

(aa) Allerdings wird in der Rechtsprechung und Literatur zum Unternehmenskauf mit unterschiedlichem Ergebnis diskutiert, ob die (durch die Einrichtung eines Datenraums ermöglichte) Durchführung einer Due Diligence – also einer Überprüfung des Kaufgegenstands in technischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht (vgl. Senat, Urteil vom 1. Februar 2013 – V ZR 72/11, NJW 2013, 1807 Rn. 21) – durch den Käufer Auswirkungen auf die Aufklärungspflichten des Verkäufers hat, und wenn ja, welche.31

Überwiegend wird davon ausgegangen, dass die Durchführung einer Due Diligence den Umfang der Aufklärungspflichten des Verkäufers zwar nicht generell, aber im Einzelfall reduzieren könne (vgl. etwa Meyer-Sparenberg in Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A-Handbuch, 2. Aufl., § 47 Rn. 88 ff.; Golland/Koch in Mehrbrey, Handbuch Streitigkeiten beim Unternehmenskauf, 2. Aufl., § 17 Rn. 28 f.; Weber in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl., Rn. 9.388; Henssler in Festschrift Hopt, 2010, Band 1, S. 113, 135 f.; Knöfler, Rechtliche Auswirkungen der Due Diligence bei Unternehmensakquisitionen, 2001, S. 142 f.; BeckOGK/Herresthal, BGB [15.5.2023], § 311 Rn. 427; Westermann, ZHR 169 [2005], 248, 258, 261 ff.; Hassel, Der Einfluss der Due Diligence auf die Verkäuferhaftung beim Unternehmens- und Beteiligungskauf, 2009, S. 141 f.; vgl. auch BGH, Urteil vom 28. November 2001 – VIII ZR 37/01, NJW 2002, 1042, 1044). Dabei nehmen einige Autoren an, dass der Verkäufer mit der Zurverfügungstellung von Unterlagen in einem Datenraum in der Regel seinen Aufklärungspflichten nachkomme, da er im Normalfall die vollständige Durchsicht des Datenraums erwarten könne (vgl. etwa Meyer-Sparenberg, aaO, § 47 Rn. 93 f.; Golland/Koch aaO, § 17 Rn. 30; Weber, aaO, Rn. 9.401; Henssler, aaO, S. 136 f.; Hassel, aaO, S. 145 ff.).32

Nach anderer Ansicht soll die Durchführung einer Due Diligence keine Auswirkungen auf die Aufklärungspflichten des Verkäufers haben (vgl. etwa Fietz in Bergau, Praxishandbuch Unternehmenskauf, 2. Aufl., Kapitel 5 Rn. 53; Andreas/Beisel in Beisel/Andreas, Beck’sches Mandats Handbuch Due Diligence, 3. Aufl., § 2 Rn. 66 f.; Picot in Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, 4. Aufl., § 2 Rn. 148 ff.; Eggenberger, Gesellschaftsrechtliche Voraussetzungen und Folgen einer due-diligence Prüfung, 2001, S. 275 ff.; Müller, NJW 2004, 2196, 2198 f.; Stengel/Scholderer, NJW 1994, 158, 164). Für den Immobilienkauf werden diese Fragen bislang, soweit ersichtlich, noch nicht explizit diskutiert.33

(bb) Nach Ansicht des Senats lässt sich die Frage, ob der Verkäufer eines bebauten Grundstücks mit der Einrichtung, Bestückung und Eröffnung eines (physischen oder virtuellen) Datenraums seiner Aufklärungspflicht gegenüber dem späteren Käufer hinsichtlich eines offenbarungspflichtigen, in dem Datenraum als Information vorhandenen Umstandes genügt, nicht allgemein und losgelöst von den Umständen des Einzelfalls beantworten. Im Grundsatz findet die Rechtsprechung des Senats zu übergebenen Unterlagen auf den Fall, dass der Verkäufer dem Käufer Zugriff auf Unterlagen in einem Datenraum gewährt, sinngemäße Anwendung. In beiden Fällen gilt gleichermaßen, dass es zwar nicht generell, aber im Einzelfall an einer Informationsasymmetrie zwischen Verkäufer und Käufer und damit an einem Bedürfnis für eine gesonderte Aufklärung fehlen kann. Der Umstand allein, dass der Verkäufer einen Datenraum einrichtet und den Kaufinteressenten den Zugriff auf die Daten ermöglicht, lässt aber angesichts der Vielgestaltigkeit der Abläufe in der Praxis nicht stets den Schluss zu, dass der Käufer den offenbarungspflichtigen Umstand zur Kenntnis nehmen wird. Ist allerdings im Einzelfall die Erwartung gerechtfertigt, dass der Käufer bestimmte, von dem Verkäufer in dem Datenraum bereit gestellte Informationen – etwa im Rahmen einer Due Diligence – wahrnehmen und in seine Kaufentscheidung einbeziehen wird, ist eine gesonderte Aufklärung durch den Verkäufer nicht erforderlich. Der Verkäufer eines bebauten Grundstücks, der dem Käufer Zugriff auf einen Datenraum mit Unterlagen und Informationen zu der Immobilie gewährt, erfüllt hierdurch seine Aufklärungspflicht, wenn und soweit er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird.34

(c) Ob der Verkäufer die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von einem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird, hängt somit von den Umständen des Einzelfalls ab, etwa davon, ob und in welchem Umfang der Käufer eine Due Diligence durchführt (aa), wie der Datenraum und der Zugriff hierauf strukturiert und organisiert sind und welche Vereinbarungen hierzu getroffen wurden (bb) sowie welcher Art die Information ist, um deren Offenbarung es geht, und die Unterlage, in der sie enthalten ist (cc).35

(aa) Im Ausgangspunkt kann der Verkäufer einer Immobilie, der einen Datenraum eingerichtet hat, von dem Käufer, der eine Due Diligence durchführt, eher erwarten, dass er die zur Verfügung gestellten bzw. dem Zugriff eröffneten Unterlagen vollständig durchsehen und deren jeweilige Bedeutung für seine Kaufentscheidung überprüfen wird, als von einem Käufer, der keine Due Diligence durchführt. Dies gilt insbesondere, wenn der Käufer bei der Durchführung der Due Diligence von Experten unterstützt und beraten wird.36

Der Verkäufer kann allerdings nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass eine Due Diligence durchgeführt wird. Denn auch wenn der Käufer für sein rechtsgeschäftliches Handeln selbst verantwortlich ist und sich deshalb die für die eigene Willensentscheidung notwendigen Informationen auf eigene Kosten und eigenes Risiko selbst beschaffen muss (siehe oben Rn. 24), trifft ihn von Gesetzes wegen keine Pflicht oder Obliegenheit, vor dem Kauf einer Immobilie eine Due Diligence durchzuführen, geschweige denn zu einer solchen Prüfung Experten hinzuziehen (vgl. z.B. Krauß, Immobilienkaufverträge in der Praxis, 9. Aufl., Rn. 3183 f.; Andreas/Beisel in Beisel/Andreas, Beck‘sches Mandats Handbuch Due Diligence, 3. Aufl., § 2 Rn. 55, 57; Balensiefen/Bönker/Geiger/Schaller, Rechtshandbuch für die Immobilienpraxis, 2009, 9.2.4; Tigges, FB 2005, 95, 98; Fleischer/Körber, BB 2001, 841, 844 f.). Die Untersuchungsobliegenheit beim beiderseitigen Handelskauf nach § 377 Abs. 1 HGB greift erst nach Ablieferung der Sache; zudem findet die Vorschrift auf Grundstücksgeschäfte keine Anwendung (vgl. BeckOGK/Höpfner, HGB [15.3.2023], § 377 Rn. 6). Eine Obliegenheit des Käufers zur Durchführung einer Due Diligence könnte sich daher – wenn hierzu keine ausdrückliche Vereinbarung getroffen wurde – allenfalls aus einem Handelsbrauch (§ 346 HGB) oder einer Verkehrssitte (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 11. Mai 2001 – V ZR 492/99, NJW 2001, 2464, 2465) ergeben (das Bestehen einer solcher Verkehrssitte bejahen etwa Disput/Hübner/Schmitt, ZfIR 2008, 610, 614; ablehnend hingegen Balensiefen/Bönker/Geiger/Schaller, Rechtshandbuch für die Immobilienpraxis, 2009, 9.2.4). Ob eine Verkehrssitte besteht, ist allerdings keine Rechts-, sondern eine Tatfrage (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Januar 2012 – V ZR 141/11, WuM 2012, 164 Rn. 9 mwN).37

Führt der Käufer eine Due Diligence durch, was der Verkäufer nach allgemeinen Grundsätzen darzulegen und ggf. zu beweisen hat, ist neben etwaigen vertraglichen Vereinbarungen von Käufer und Verkäufer zum Ablauf der Due Diligence zu berücksichtigen, wie viele Personen mit welcher Qualifikation die Prüfung nach Kenntnis des Verkäufers durchführen, insbesondere ob der Käufer nach dem Kenntnisstand des Verkäufers Berater mit Sachkunde in dem Fachbereich hinzugezogen hat, aus dem die Information stammt.38

(bb) Weiter sind, gleich ob eine Due Diligence durchgeführt wird, die tatsächlichen Umstände der Einrichtung und Nutzung des Datenraums zu berücksichtigen (vgl. hierzu etwa Balensiefen/Bönker/Geiger/Schaller, Rechtshandbuch für die Immobilienpraxis, 2009, 9.5). Es kommt etwa auf den Umfang der dort eingestellten Informationen an, sowie darauf, ob diese zutreffend benannt und systematisch geordnet sind, ob es ein Inhaltsverzeichnis oder eine Suchfunktion gibt, ob der Käufer auf nachträglich eingestellte Informationen gesondert hingewiesen wird, welches Zeitfenster ihm für die Überprüfung der Informationen zur Verfügung steht, und ob der Käufer die Information gesondert angefordert bzw. zum Ausdruck gebracht hat, dass es für ihn auf einen Umstand besonders ankommt. Für die berechtigte Erwartung des Verkäufers, dass der Käufer eine Information selbst auffinden wird, wenn sie für ihn von Interesse ist, spielt zudem dessen – dem Verkäufer bekannte – Geschäftsgewandtheit eine Rolle.39

(cc) Von besonderer Bedeutung ist schließlich der Umstand selbst, um dessen Aufklärungsbedürftigkeit es geht. Handelt es sich etwa um einen Umstand, der – für den Verkäufer erkennbar – für den Käufer von ganz erheblicher Bedeutung ist, etwa weil er den Vertragszweck vereiteln oder dem Käufer ganz erheblichen wirtschaftlichen Schaden zufügen kann, und ist der Umstand aus den bereitgestellten Daten nicht ohne Weiteres erkennbar, dem Verkäufer aber bekannt und unschwer zu offenbaren, dann kann der Käufer regelmäßig einen gesonderten Hinweis erwarten. Der Verkäufer darf in diesem Fall nicht sehenden Auges abwarten, ob der Käufer die nur schwer erkennbare Information aus den bereitgestellten Daten ermittelt, sondern muss diese trotz Due Diligence kommunizieren (zutreffend BeckOGK/Herresthal, BGB [15.5.2023], § 311 Rn. 427). Ob der Umstand aus den bereitgestellten Daten ohne Weiteres erkennbar ist, kann auch davon abhängen, in welcher (Art von) Unterlage und an welcher Stelle innerhalb der Unterlage die Information vorhanden ist, namentlich ob es sich um ein Dokument handelt, das ein Käufer vor dem Erwerb einer Immobilie im Regelfall auch ohne – oder im Rahmen der dem Verkäufer kommunizierten – besondere interessen an Einzelaspekten des Objekts durchsehen wird. Dies kann wiederum davon abhängen, wie geschäftsgewandt der Käufer ist und ob er von sachkundigen Personen beraten wird.40

(d) Vorliegend hat die Verkäuferin auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsgerichts ihre Aufklärungspflicht hinsichtlich des Kostenumfangs der anstehenden baulichen Maßnahmen nicht dadurch erfüllt, dass sie das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 am 22. März 2019 in den Datenraum eingestellt hat, ohne – wie für das Revisionsverfahren zu unterstellen ist – die Klägerin hierüber in Kenntnis zu setzen. Die Verkäuferin konnte nicht die berechtigte Erwartung haben, dass die Klägerin die in dem Protokoll enthaltenen Informationen noch vor Vertragsschluss zur Kenntnis nimmt.41

(aa) Die Klägerin hatte ohne gesonderten Hinweis auf das neu eingestellte Dokument keinen Anlass, in dem Zeitfenster zwischen dem Einstellen des Protokolls am Freitag, den 22. März 2019, und dem Notartermin am Montag, den 25. März 2019, um 10 Uhr noch einmal Einsicht in den Datenraum zu nehmen. Auch wenn keine Frist für das Einstellen von Dokumenten in den Datenraum vereinbart war, musste die Klägerin am letzten Arbeitstag vor dem Notartermin nicht mehr mit neu eingestellten Dokumenten rechnen. Mangels abweichender Feststellungen des Berufungsgerichts ist für das Revisionsverfahren zu unterstellen, dass die Klägerin den Datenraum nach Einstellen des Protokolls am 22. März 2019 nicht mehr eingesehen hat.42

(bb) Anders als das Berufungsgericht meint, steht dem auch die Erklärung der Parteien in § 4 Nr. 8 des Kaufvertrags, wonach der Käufer die Protokolle der Eigentümerversammlungen der letzten drei Jahre erhalten hat und deren Inhalt kennt, nicht entgegen. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, dass der Klägerin ein „Hinweis“ darauf „zugetragen“ worden sei, dass am 1. November 2016 eine Eigentümerversammlung stattgefunden hat, weil diese Versammlung unter TOP 3 des dem Verkaufsexposé beigefügten Protokolls der Versammlung vom 1. August 2017 erwähnt wird. Eine Feststellung dazu, ob die Klägerin diesen „Hinweis“ zur Kenntnis genommen hat, trifft das Berufungsgericht nicht. Damit ist zugunsten der Klägerin für das Revisionsverfahren zu unterstellen, dass sie bei Vertragsschluss keine Kenntnis der Versammlung vom 1. November 2016 hatte. Dann durfte sie davon ausgehen, dass eine solche Versammlung nicht stattgefunden hat, denn in § 4 Nr. 8 des Kaufvertrags erklärt die Verkäuferin ohne Nennung konkreter Daten der Versammlungen, dass die Klägerin die – d.h. sämtliche – Protokolle der Eigentümerversammlungen der letzten drei Jahre erhalten hat. Die Klägerin konnte daher davon ausgehen, dass ihr sämtliche Protokolle der letzten drei Jahre vorliegen. Zudem würde die Erklärung, selbst wenn die Klägerin ausdrücklich den Erhalt des Protokolls der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 bestätigt hätte, nicht – wie das Berufungsgericht offenbar meint – zu einer unwiderleglichen Vermutung, sondern allenfalls zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich der Übergabe des Protokolls führen.43

(cc) Eine Aufklärungspflichtverletzung der Verkäuferin lässt sich auch nicht mit dem Argument des Berufungsgerichts verneinen, die Klägerin habe dem in dem Protokoll vom 1. August 2017 enthaltenen Hinweis auf die Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 selbst nachgehen müssen.44

Richtig daran ist, dass auch ein durchschnittlicher Käufer einer Wohnungs- oder Teileigentumseinheit, der keine besonderen Kenntnisse auf dem Gebiet des Immobilienerwerbs hat, sich üblicherweise von dem Verkäufer zumindest die Protokolle der Eigentümerversammlungen der letzten drei Jahre vorlegen lassen und diese darauf durchsehen wird, ob sich hieraus Anhaltspunkte für anstehende umfangreichere Instandhaltungs- oder Sanierungsmaßnahmen ergeben. Es kommt daher durchaus in Betracht, dass die Klägerin die Obliegenheit traf, das dem Verkaufsexposé beigefügte Protokoll der Versammlung vom 1. August 2017 vollständig zu lesen und sich aufgrund des dort enthaltenen Hinweises auf die Versammlung vom 1. November 2016 von der Verkäuferin auch das Protokoll dieser Versammlung vorlegen zu lassen.45

Ein etwaiger Verstoß der Klägerin gegen eine sie insoweit möglicherweise treffende Erkundigungsobliegenheit wirkt sich aber nicht unmittelbar auf die Aufklärungspflicht der Verkäuferin aus, sondern könnte allenfalls die Annahme eines Mitverschuldens der Klägerin für die Entstehung des Schadens im Rahmen der Haftung der Verkäuferin nach § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2 BGB begründen. Die Aufklärungspflicht der Verkäuferin wäre hingegen nur dann erfüllt, wenn diese aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben konnte, dass die Klägerin durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen wird (siehe oben Rn. 33). Das ist aber ausgeschlossen, weil das Protokoll der Versammlung vom 1. November 2016, aus dem die aufklärungsbedürftige Information hervorgeht, der Klägerin in einer Weise zur Verfügung gestellt wurde, dass mit einer Kenntnisnahme von vornherein nicht (mehr) zu rechnen war.46

(dd) Ebenso wenig ist die Aufklärungspflicht der Verkäuferin deshalb als erfüllt anzusehen, weil die Klägerin bei Durchsicht aller ihr zugänglichen Unterlagen Anhaltspunkte für eine anstehende Ertüchtigung der Fassade und Umgestaltung des Gebäudekomplexes auf zwei Ebenen hätte haben können. Denn die Klägerin hatte ihrem Vortrag zufolge konkret nach der auf sie wegen anstehender baulicher Maßnahmen möglicherweise zukommenden Kostenlast gefragt und von der Verkäuferin eine zumindest unvollständige Antwort erhalten. Ob die Klägerin eine Obliegenheit zu weiteren Nachfragen hinsichtlich bevorstehender Kosten getroffen hätte, wenn sie besonders geschäftsgewandt und sachkundig auf dem Gebiet des Immobilienerwerbs wäre oder wenn sie eine umfangreiche Due Diligence unter Hinzuziehung qualifizierter Berater durchgeführt hätte, kann dahinstehen, weil auch hierzu keine Feststellungen getroffen wurden. Zudem könnte – wie bereits ausgeführt – selbst die Annahme einer solchen Obliegenheit allenfalls zu einem Mitverschulden der Klägerin führen, nicht aber dazu, dass die Aufklärungspflicht der Verkäuferin als erfüllt anzusehen wäre.47

2. Aus den vorstehenden Erwägungen kann auch der Antrag auf Zahlung von 184.551,82 € nicht als unbegründet angesehen werden. Neben einem Anspruch aus § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2 BGB kommt insoweit – in Bezug auf einen Teilbetrag von 25.000 €, der auf die restliche Kaufpreiszahlung entfällt – auch ein Anspruch aus § 812 Abs. 1 BGB in Betracht. Mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung kann, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, weder eine Aufklärungspflichtverletzung noch eine arglistige Täuschung gemäß § 123 Abs. 1 BGB verneint werden.48

3. Dementsprechend können mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung auch die Anträge auf Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden und Feststellung des Annahmeverzugs der Verkäuferin nicht als unbegründet angesehen werden.49

II. Soweit die Berufung gegen die Abweisung der Klage gegen den Beklagten zu 2 zurückgewiesen worden ist, ist die Revision ebenfalls ganz überwiegend begründet.50

1. Das Berufungsgericht verneint allerdings im Ergebnis zu Recht die Begründetheit des Antrags auf Feststellung des Annahmeverzugs des Beklagten zu 2. Der Beklagte zu 2 kann sich nicht gemäß §§ 293 ff. BGB mit der Annahme der Übereignung der Gewerbeeinheiten und der Abtretung der Rückgewähransprüche bezüglich der eingetragenen Grundschulden im Verzug befinden, da er nicht Gläubiger dieser Leistungen ist. Partei des Kaufvertrags war nur die Verkäuferin.51

2. Den übrigen Anträgen – Befreiung von den Darlehensverbindlichkeiten, Zahlung von 184.551,82 € und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden – kann der Erfolg nicht mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung versagt werden.52

a) Das Berufungsgericht nimmt zwar zu Recht und von der Revision unbeanstandet an, dass sich die Klägerin insoweit nicht auf einen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 3, § 241 Abs. 2 BGB stützen kann. Denn der Beklagte zu 2 hat selbst nach dem für das Revisionsverfahren zu unterstellenden Vortrag der Klägerin nicht in besonderem Maße persönliches Vertrauen in Anspruch genommen (vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 13. Januar 2022 – III ZR 210/20, NZG 2022, 513 Rn. 21 mwN). Insbesondere dessen etwaig als Geschäftsführer der ehemaligen Verwalterin der GdWE erlangten Kenntnisse von den Beschlüssen der Wohnungs- und Teileigentümer können eine über das gewöhnliche Verhandlungsvertrauen hinausgehende Vertrauensbeziehung nicht begründen.53

b) Das Berufungsgericht verneint jedoch rechtsfehlerhaft deliktische Schadensersatzansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB oder § 826 BGB. Wie bereits ausgeführt kann eine Aufklärungspflichtverletzung mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht verneint werden. Für das Revisionsverfahren ist zu unterstellen, dass der Beklagte zu 2 auf die Nachfrage der Klägerin die behauptete (unvollständige) Antwort gegeben hat (vgl. Rn. 19).

C.54

I. Das Berufungsurteil kann daher in dem dargelegten Umfang keinen Bestand haben; es ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Dies umfasst auch die Entscheidung über den Hilfsantrag, dem mit der Aufhebung der Entscheidung über den Hauptantrag nunmehr die verfahrensrechtliche Grundlage fehlt. Im Übrigen ist die Revision zurückzuweisen.55

II. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil im Hinblick auf den Datenraum noch weitere Feststellungen zu dem Inhalt der Vereinbarungen und den tatsächlichen Umständen der Einrichtung und Nutzung zu treffen sind (§ 563 Abs. 3 ZPO). Da es für das Berufungsgericht hierauf bislang nicht ankam, wird es den Beklagten ggf. Gelegenheit zur Ergänzung ihres Vortrags geben müssen. Mangels Entscheidungsreife ist die Sache daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).56

III. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:57

1. Das Berufungsgericht wird dem von den Beklagten mit der Gegenrüge aufgezeigten Vortrag nachzugehen haben, der Klägerin sei das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 schon vor dem Einstellen in den Datenraum gesondert übersandt worden. Sollte dies der Fall sein, hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob hierin die Erfüllung der Aufklärungspflicht bezüglich des Kostenaufwandes für die anstehenden Sanierungsmaßnahmen zu sehen ist. Grundsätzlich wäre von einer Erfüllung der Aufklärungspflicht der Verkäuferin auszugehen, wenn der Klägerin das Protokoll gesondert übersandt worden sein sollte. Anders kann es aber liegen, wenn das Protokoll ohne Hinweis auf seine besondere Bedeutung zusammen mit sämtlichen Protokollen seit dem Jahr 2007 übersandt worden sein sollte. Dann wäre es eine Frage der Gesamtumstände, etwa der für die Durchsicht aller Unterlagen zur Verfügung stehenden Zeit, der Sachkunde der Klägerin bzw. ihrer Berater usw., ob die Verkäuferin mit einer Kenntnisnahme durch die Klägerin rechnen konnte. Hierbei wäre allerdings davon auszugehen, dass Zeitknappheit allein eine an sich berechtigte Erwartung des Verkäufers, der Käufer werde die Information zur Kenntnis nehmen, nicht beseitigt. Ist der Käufer der Ansicht, für die – sorgfältige – Durchsicht übergebener bzw. in den Datenraum eingestellter Unterlagen mehr Zeit zu benötigen, ist es – vorbehaltlich etwaiger hierzu getroffener Vereinbarungen – grundsätzlich an ihm, den Verkäufer hierauf hinzuweisen und ggf. um eine Verlängerung der Prüfungsfristen und um eine Verlegung des Notartermins zu bitten.58

2. Sollte die Aufklärungspflicht nicht erfüllt worden sein, wäre die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den Vertragsschluss zugunsten der Klägerin zu vermuten und – anders als das Berufungsgericht meint – die Verkäuferin darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre (vgl. Senat, Urteil vom 15. Juli 2016 – V ZR 168/15, BGHZ 211, 216 Rn. 9). Verbindlichkeiten aus dem zur Finanzierung des Kaufpreises eingegangenen Darlehensvertrags wären Teil des zu ersetzenden Vertrauensschadens (vgl. Senat, Urteil vom 6. April 2001 – V ZR 402/99, NJW 2001, 2021, 2022).

Löffler I www.K1.de I Gesellschaftsrecht I Gesellschafterversammlung I M&A I Unternehmenskauf I Erfurt I Thüringen I Sachsen I Sachsen-Anhalt I Hessen I Deutschland 2023

Schlagworte: Aufklärungspflicht, Aufklärungspflicht und Auswahlermessen der Geschäftsführung, Aufklärungspflichten, Aufklärungspflichtverletzung, Gesteigerte Aufklärungs- und Sorgfaltspflicht des Verkäufers, Immobilienverkauf Offenbarungspflicht, Verletzung der Aufklärungspflicht, vorvertragliche Aufklärungspflichten beim Unternehmenskauf

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BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – II ZB 6/23

Dienstag, 12. September 2023

Kapitalerhöhung Notarkosten

GNotKG § 108 Abs. 1 Satz 2, Abs. 5, § 105 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2, § 97 Abs. 1

Für die Bemessung des Geschäftswerts eines Beschlusses über die Erhöhung des Stammkapitals einer GmbH ist innerhalb der durch § 105 Abs. 1 Satz 2 und § 108 Abs. 5 GNotKG vorgegebenen Grenzen der den Ausgabepreis übersteigende Wert des auszugebenen Geschäftsanteils maßgeblich. Für die Bewertung kann eine mit dem Übernehmer der Geschäftsanteile geschlossene Vereinbarung über eine Zuzahlung in das Eigenkapital gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB berücksichtigt werden.

Tenor

Die Sprungrechtsbeschwerde der Beteiligten zu 2 gegen den Beschluss des Landgerichts Dresden vom 17. Januar 2023 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Gründe

I.

Der Beteiligte zu 1 (nachfolgend Notar) beurkundete für die Beteiligte zu 2, eine GmbH, am 2. November 2020 einen Beschluss über die Erhöhung des Stammkapitals von 54.705 € um 16.270 € durch Neuausgabe von 16.270 Geschäftsanteilen mit einem Nennbetrag von jeweils 1 € zum Nennwert. Zuvor hatten die Gesellschafter der Beteiligten zu 2 mit dieser und Investoren einen als Investment Agreement bezeichneten Vertrag geschlossen, in dem für die in der Kapitalerhöhung ausgegebenen Geschäftsanteile eine Zuzahlung in die Kapitalrücklage gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB in Höhe von 7.076.961,90 € vereinbart worden war. Der Notar hat in seiner Kostenberechnung die Zuzahlung bei der Bemessung des Geschäftswerts berücksichtigt.2

Das Landgericht hat den Antrag der Beteiligten zu 2 auf gerichtliche Entscheidung gegen die Kostenberechnung zurückgewiesen. Der Senat hat auf Antrag der Beteiligten zu 2 die Sprungrechtsbeschwerde zugelassen, soweit der Beteiligte zu 1 in der Kostenberechnung bei der Bemessung des Geschäftswerts 7.076.961,90 € als Zuzahlung/Agio angesetzt hat.

II.

Die Sprungrechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.4

1. Das Landgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Notar habe in die Berechnung des Geschäftswerts zu Recht die vereinbarte Zuzahlung in die Kapitalrücklage unter Ansatz des Höchstwerts von 5.000.000 € eingestellt. § 108 Abs. 5 GNotKG nehme nicht auf § 105 Abs. 1 GNotKG Bezug. Der Geschäftswert sei daher gemäß § 36 GNotKG nach billigem Ermessen zu bestimmen. Die Verpflichtung zur Einzahlung eines Aufgelds sei bei der Festsetzung des Geschäftswerts auch dann werterhöhend zu berücksichtigen, wenn die Einzahlungsverpflichtung in einer gesonderten Vereinbarung der Gesellschafter vor oder zeitgleich mit dem Kapitalerhöhungsbeschluss getroffen worden sei. Das sogenannte schuldrechtliche Agio führe zu einer über die Nennbeträge hinausgehenden Werterhöhung der neu geschaffenen Geschäftsanteile.5

2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Prüfung stand. Das Landgericht hat die im Investment Agreement vereinbarte Zuzahlung für die in der Kapitalerhöhung ausgegebenen Geschäftsanteile im Ergebnis zutreffend bei der Bemessung des Geschäftswerts berücksichtigt.6

a) Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung, der sich das Landgericht angeschlossen hat, soll ein vor dem Kapitalerhöhungsbeschluss zwischen den Gesellschaftern vereinbartes Aufgeld neben dem Nominalwert der übernommenen Geschäftsanteile bei der Bestimmung des Geschäftswerts zu berücksichtigen sein (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, ZIP 2018, 526). Diese Rechtsprechung hat im Schrifttum Zustimmung gefunden (Fackelmann, ZNotP 2018, 159; Thelen, RNotZ 2020, 121, 145 f.; Stephan in Heinemann/Trautrims, Notarrecht, § 108 GNotKG Rn. 24; Trautrims/Lang in Heinemann/Trautrims, Notarrecht, § 53 GmbHG Rn. 42; Bormann in Bormann/Diehn/Sommerfeld, GNotKG, 4. Aufl., § 107 Rn. 31; Heisel in Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Aufl., § 108 Abs. 1 GNotKG Rn. 27; Korintenberg/Tiedke, GNotKG, 22. Aufl., § 108 Rn. 1b; Toussaint/Uhl, Kostenrecht, 53. Aufl., § 105 GNotKG Rn. 18;Mayer/Weiler in Beck’sches Notar-Handbuch, 7. Aufl., § 22 Rn. 404; Diehn/Diehn, Notarkostenberechnungen, 8. Aufl., Kap. 3 Rn. 1360d; Volpert in Dien/Volpert, Praxis des Notarkostenrechts, 3. Aufl., Abschnitt B Rn. 308), aber auch Kritik erfahren (Strauß, MittBayNot 2018, 487, 488 f.; Weitnauer, GWR 2018, 245, 248; Stopp in Herrler, Gesellschaftsrecht in der Notar- und Gestaltungspraxis, 2. Aufl., § 10 Rn. 87a; Notarkasse Anstalt des öffentlichen Rechts, München, Streifzug durch das GNotKG, 13. Aufl., Rn. 1339; Leipziger Gerichts- und Notarkosten-Kommentar/Heinze, 3. Aufl., § 108 Rn. 27 bei Fn. 27; MünchKommGmbHG/Lieder, 4. Aufl., § 55 Rn. 217; offen Koch, AktG, 17. Aufl., § 182 Rn. 34; Wicke, GmbHG, 4. Aufl., § 55 Rn. 17).7

b) Der Senat schließt sich der erstgenannten Auffassung an. Für die Bemessung des Geschäftswerts eines Beschlusses über die Erhöhung des Stammkapitals einer GmbH ist innerhalb der durch § 105 Abs. 1 Satz 2 und § 108 Abs. 5 GNotKG vorgegebenen Grenzen der den Ausgabepreis übersteigende Wert des auszugebenen Geschäftsanteils maßgeblich. Für die Bewertung kann eine mit dem Übernehmer der Geschäftsanteile geschlossene Vereinbarung über eine Zuzahlung in das Eigenkapital gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB berücksichtigt werden.8

aa) Der Beschluss über die Erhöhung des Stammkapitals ist nach allgemeiner Auffassung ein Beschluss, dessen Gegenstand einen bestimmten Geldwert hat, § 108 Abs. 1 Satz 2 GNotKG (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, ZIP 2018, 526;LG Düsseldorf, Beschluss vom 19. April 2023 – 19 OH 1/21, juris Rn. 28; Bormann in Bormann/Diehn/Sommerfeldt, GNotKG, 4. Aufl., § 108 Rn. 15; Leipziger Gerichts- und Notarkosten-Kommentar/Heinze, 3. Aufl., § 108 Rn. 27; Heisel in Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Aufl., § 108 GNotKG Rn. 27; BeckOK KostR/Neie, Stand 1.1.2022, § 108 Rn. 20;Korintenberg/Tiedke, GNotKG, 22. Aufl., § 108 Rn. 43; Toussaint/Uhl, Kostenrecht, § 108 GNotKG Rn. 12; Waldner in Rohs/Wedewer, GNotKG, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 17). Dies ergibt sich schon aus dem Verweis auf § 105 Abs. 1 GNotKG, der verschiedene Beschlussfassungen benennt, bei denen ein bestimmter Geldbetrag im Handelsregister eingetragen wird und in dessen Nr. 3 der Beschluss über die Erhöhung oder Herabsetzung des Stammkapitals einer Gesellschaft mit beschränkter HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Gesellschaft
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Haftung
ausdrücklich benannt wird. Der Geschäftswert für die Beurkundung eines solchen Beschlusses beträgt nicht weniger als der sich nach § 105 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GNotKG ergebende Wert, im Fall der Erhöhung des Stammkapitals mithin der in das Handelsregister einzutragende Betrag, um den das Stammkapital erhöht wurde(BeckOK KostR/Neie, Stand 1.7.2023, § 105 Rn. 10; Korintenberg/Tiedke, GNotKG, 22. Aufl., § 105 Rn. 20, § 108 Rn. 1), mindestens aber 30.000 € (§ 105 Abs. 1 Satz 2 GNotKG) und, auch wenn mehrere Beschlüsse mit verschiedenem Gegenstand in einem Beurkundungsverfahren zusammengefasst werden, höchstens 5 Mio. € (§ 108 Abs. 5 GNotKG).9

bb) Der Geschäftswert eines Beschlusses über die Erhöhung des Stammkapitals kann innerhalb der durch § 108 Abs. 1 Satz 2, Abs. 5 GNotKG vorgegebenen Grenzen unter ergänzender Heranziehung von § 97 Abs. 1, Abs. 2 GNotKG ermittelt werden (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, ZIP 2018, 526; Bormann in Bormann/Diehn/Sommerfeldt, GNotKG, 4. Aufl., § 108 Rn. 12; BeckOK KostR/Neie, Stand 1.1.2022, § 108 Rn. 19; Stephan in Heinemann/Trautrims, Notarrecht, § 127 GNotKG Rn. 24; Korintenberg/Tiedke, GNotKG, 22. Aufl., § 108 Rn. 1; Toussaint/Uhl, Kostenrecht, § 108 GNotKG Rn. 11; Diehn in Hauschild/Kallrath/Wachter, Notarhandbuch Gesellschafts- und Unternehmensrecht, 3. Aufl., § 36 Rn. 68; Diehn/Diehn, Notarkostenberechnungen, 8. Aufl., Kap. 3 Rn. 1252; Fackelmann, ZNotP 2018, 159; Strauß, MittBayNot 2018, 487, 488). Soweit das Landgericht unmittelbar auf § 36 Abs. 1 GNotKG zurückgegriffen hat (so auch LG Gera, Beschluss vom 17. Juli 2018 – +-6 OH 16/16, Umdruck S. 4; Leipziger Gerichts- und Notarkosten-Kommentar/Heinze, 3. Aufl., § 108 Rn. 18; Heinze, NotBZ 2015, 201, 205), vermag der Senat dem nicht zu folgen.10

(1) Aus der Regelung des § 108 Abs. 1 Satz 2 GNotKG kann entgegen der Sicht des Landgerichts diesbezüglich nichts abgeleitet werden. Diese Bestimmung sieht nach ihrem Wortlaut für Beschlüsse, „deren Gegenstand einen bestimmten Geldwert hat“, einen Mindestwert vor. Wie bereits die Kostenordnung (vgl. § 30 Abs. 1 Halbsatz 2, § 41c Abs. 1 KostO, dazu BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2008 – V ZB 89/08, NJW-RR 2009, 228 Rn. 6 ff.;OLGR Braunschweig 2007, 577, 578; OLG Stuttgart, ZNotP 2008, 503, 504) enthält das GNotKG hierzu keine nähere Begriffsbestimmung. Es geht, wie zuvor die entsprechenden Bestimmungen der Kostenordnung, davon aus, dass der Geschäftswert dem jeweiligen Geldwert entspricht (zur KostO: BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2008 – V ZB 89/08, NJW-RR 2009, 228 Rn. 7; OLG HammBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Hamm
, DNotZ 1994, 126, 128; zum GNotKG: Waldner in Rohs/Wedewer, GNotKG, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 13; Pfeiffer, NZG 2013, 244, 245).11

(2) Die Wertvorschriften für das Beurkundungsverfahren sehen in § 97 Abs. 1 GNotKG vor, dass sich bei der Beurkundung von Verträgen und Erklärungen der Geschäftswert nach dem Wert des Rechtsverhältnisses bestimmt, das Beurkundungsgegenstand ist. Die Norm ist auch auf Beschlüsse anwendbar, soweit § 108 GNotKG keine spezielle Regelung vorsieht (Stephan in Heinemann/Trautrims, Notarrecht, § 97 GNotKG Rn. 2; Korintenberg/Tiedke, GNotKG, 22. Aufl., § 97 Rn. 1; Uhl in Toussaint, Kostenrecht, 53. Aufl., § 97 Rn. 3; Diehn in Hauschild/Kallrath/Wachter, Notarhandbuch Gesellschafts- und Unternehmensrecht, 3. Aufl., § 36 Rn. 68; aA LG Gera, Beschluss vom 17. Juli 2018 – 6 OH 16/16, Umdruck S. 4; Wudy in Rohs/Wedewer, GNotKG, Stand September 2022, § 97 Rn. 34). Die Beurkundung eines Gesellschafterbeschlusses kann in der Form eines Tatsachenprotokolls im Sinne der §§ 36, 37 BeurkG erfolgen (OLG CelleBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Celle
, ZIP 2017, 1623, 1624; Wicke, GmbHG, 4. Aufl., § 53 Rn. 13; Scheller, GmbHR 2023, 20 Rn. 2; vgl. für das Hauptversammlungsprotokoll einer AG: BGH, Urteil vom 16. Februar 2009 – II ZR 185/07, DNotZ 2009, 688 Rn. 11). Daneben wird überwiegend auch eine Beurkundung als Willenserklärung gemäß §§ 8 ff. BeurkG für zulässig erachtet (OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Köln
, BB 1993, 317, 318; Nordholtz/Hupka, DNotZ 2018, 404, 405 ff.; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 21. Aufl., § 53 Rn. 16; BeckOGK-GmbHG/Born, Stand: 15.4.2023, § 53 Rn. 265 ff.; Wicke, GmbHG, 4. Aufl., § 53 Rn. 13; kritisch: Noack in Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl., § 53 Rn. 70). Aus § 108 GNotKG und Teil 2, Hauptabschnitt 1, Abschnitt 1 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GNotKG ergibt sich, dass der Geschäftswert für die Beurkundung von Beschlüssen von Organen unabhängig von der konkret gewählten Form der Beurkundung einheitlich erfolgen soll. Die systematische Stellung von § 108 GNotKG spricht dabei für die Anknüpfung an § 97 GNotKG, der als allgemeine Geschäftswertvorschrift Anwendung findet, soweit § 108 GNotKG keine spezielle Regelung enthält (Korintenberg/Tiedke, GNotKG, 22. Aufl., § 97 Rn. 1; BeckOK KostR/Glaser, Stand: 1.4.2022, § 97 GNotKG Rn. 1).12

cc) Der Wert der Beschlussfassung über eine Erhöhung des Stammkapitals bei der GmbH entspricht dem Wert des neu geschaffenen oder erhöhten Geschäftsanteils, wenn dieser den Ausgabebetrag der Anteile übersteigt (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, ZIP 2018, 526; Bormann in Bormann/Diehn/Sommerfeldt, GNotKG, 4. Aufl., § 108 Rn. 15; Thelen, RNotZ 2020, 121, 145; aA Korintenberg/Tiedke, GNotKG, 22. Aufl., § 108 Rn. 44; Waldner in Rohs/Wedewer, GNotKG, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 17; Leipziger Gerichts- und Notarkosten-Kommentar/Heinze, 3. Aufl., § 108 Rn. 27 Fn. 27; Heinze, NotBZ 2015, 201, 205).13

(1) Für den Wert des Rechtsverhältnisses im Sinn des § 97 Abs. 1 GNotKG kommt es im Fall einer Beschlussfassung darauf an, ob der Gegenstand des Beschlusses geeignet ist, eine Wertverschiebung herbeizuführen. Bei dem Beschlussgegenstand muss es sich demnach grundsätzlich um die Begründung eines neuen Rechtsverhältnisses von bestimmten Wert oder um die Herbeiführung solcher Änderungen handeln, bei denen sich der Wert des geänderten Rechtsverhältnisses in einer bestimmten Summe vom Wert des geänderten Rechtsverhältnisses unterscheidet (BayObLG, DNotZ 1991, 401, 402).14

(2) Bei der Beschlussfassung über die Erhöhung des Stammkapitals wird das von dem Übernehmer erstrebte Mitgliedschaftsrecht nicht von der Gesellschaft „geliefert“. Es entsteht vielmehr auf der Grundlage des (satzungsändernden) Kapitalerhöhungsbeschlusses und des Übernahmevertrags kraft Gesetzes mit der Eintragung im Handelsregister, vgl. § 54 Abs. 3, § 57 GmbHG (BGH, Urteil vom 3. November 2015 – II ZR 13/14, ZIP 2015, 2315 Rn. 13). Übersteigt der objektive Wert der neuen Geschäftsanteile den Ausgabebetrag, führt dies nach durchgeführter Kapitalerhöhung zu einer Wertverschiebung im Verhältnis der Gesellschafter untereinander (Bormann in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 5. Aufl., § 55 Rn. 13). Der Wert des Gegenstands der Beschlussfassung wird daher bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht nur durch die nach der Beschlussfassung vom Gesellschafter zu erbringende Leistung in das Gesellschaftsvermögen geprägt, sondern auch durch den Wert des Gesellschaftsanteils, den der Übernehmer mit der Eintragung im Handelsregister erwirbt (Thelen, RNotZ 2020, 121, 145 f.; aA Strauß, MittBayNot 2018, 487, 488 f.). Verpflichtet sich der Übernehmer für die in der Kapitalerhöhung ausgegebenen Geschäftsanteile eine Zuzahlung in die Kapitalrücklage gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB zu leisten, ist dies ein relevanter Anhaltspunkt für die Wertbestimmung (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, ZIP 2018, 526; Thelen, RNotZ 2020, 121, 145 f.; auf den engen Zusammenhang mit der Kapitalerhöhung abstellend Korintenberg/Tiedtke, GNotKG, 22. Aufl., § 108 Rn. 1b).

Schlagworte: Aufgeld, Barkapitalerhöhung, Kapitalerhöhung, Notarkosten, Stammkapitalerhöhung, Zusätzliches Agio

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BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21

Dienstag, 12. September 2023

Verletzung rechtliches Gehör

GG Art. 103 Abs. 1, ZPO § 544 Abs. 9

Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (st. Rspr. vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. April 2018 – VI ZR 378/17, juris).

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 5. November 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 320.000 €

Gründe

I.

Der Kläger begehrt von den Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz im Zusammenhang mit der Behandlung seiner Mutter bei seiner Geburt.2

Die Mutter des Klägers, die sich in der 40. Schwangerschaftswoche befand, traf an einem Tag im Oktober 2007 um 2.55 Uhr im Klinikum der Beklagten zu 1 ein. Sie klagte weder über Wehen noch Schmerzen, äußerte aber die Vermutung eines Blasensprungs mit Flüssigkeitsabgang. Weitere Angaben der Mutter zum Aufnahmezeitpunkt gegenüber der Beklagten zu 2, der aufnehmenden Hebamme, sind streitig. Um 2.57 Uhr legte die beklagte Hebamme der Mutter ein CTG-Gerät an. Voruntersuchungen bzw. eine vaginale Untersuchung nahm sie nicht vor. Das CTG zeigte leichte unregelmäßige Wehen und Auffälligkeiten mit Herztonabfällen. Wegen weiterhin bestehender Herztonabfälle und nach vergeblichen Weckversuchen rief die beklagte Hebamme um 3.15 Uhr die Gynäkologin Dr. G. hinzu, die um 3.18 Uhr im Kreißsaal erschien. Die Mutter gab gegenüber der Ärztin vaginale Blutungen an. Bei der vaginalen Untersuchung zeigte sich ein geschlossener Muttermund und eine „Blutung > Regelstärke“. Nach einer Ultraschalluntersuchung löste Dr. G. wegen des Verdachts auf eine Plazentaablösung um 3.26 Uhr den Alarm für eine Notsectio aus, um 3.34 Uhr wurde der Kläger entbunden. Er litt unter einer Sauerstoffunterversorgung, hatte eine Herzfrequenz von 40/min und es lag ein akutes Nierenversagen vor. Nach erfolgter Reanimation wurde der Kläger in eine Universitätsklinik verlegt. Der Umfang seiner Gesundheitsschäden ist streitig.3

Der Kläger hat geltend gemacht, beim Eintreffen im Klinikum habe seine Mutter auf starke Blutungen hingewiesen und auch darauf, dass sie nicht wisse, ob die Fruchtblase geplatzt sei. Sie habe mitgeteilt, viel Blut und Blutstücke verloren zu haben. Aufgrund dieser Mitteilungen habe von einem geburtshilflichen Notfall ausgegangen werden müssen. Deshalb hätte die Beklagte zu 2 neben dem Anlegen des CTG-Gerätes unbedingt eine vaginale Untersuchung sowie eine Kontrolle der Vorlage bei der Kindsmutter zur Feststellung der Blutung vornehmen und sofort ärztliches Personal hinzuziehen müssen. Das Unterlassen dieser Maßnahmen stelle einen groben Behandlungsfehler dar. Bei richtiger und rechtzeitiger Befunderhebung hätte die Notsectio mindestens 20 Minuten früher ausgeführt werden können und müssen. Die Verzögerung habe zu schwersten Gesundheitsschäden wegen des verlängerten Sauerstoffmangels geführt. Seine geistigen, motorischen, sprachlichen und seelisch-psychischen Fähigkeiten seien beeinträchtigt.4

Die Beklagten haben vorgetragen, die Mutter habe gegenüber der Beklagten zu 2 von Blutungen nichts berichtet. Das Anlegen des CTG-Gerätes sei als Erstmaßnahme zur Sicherung der Vitalität des Kindes richtig gewesen. Typische Leitsymptome einer vorzeitigen Plazentaablösung seien nicht vorhanden gewesen. Eine vaginale Untersuchung sei nicht vorrangig gewesen. Selbst wenn die Blutungen bei der Mutter bereits zu Hause eingesetzt hätten, hätte sich kein anderer Verlauf ergeben. Dann hätte auch erst nach Aufzeichnung eines 20 bis 30-minütigen CTG eine verwertbare Aussage getroffen werden können und deshalb auch nicht eher mit der Notsectio begonnen werden können. Da die vorzeitige Plazentaablösung dann bereits um 2.20 Uhr begonnen hätte, hätte auch eine sofortige Notsectio am Gesundheitszustand des Klägers nichts geändert.5

Das Landgericht hat die Klage mangels Nachweises eines Behandlungsfehlers der Beklagten abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 300.000 € verurteilt und ihre Verpflichtung zum Ersatz sämtlichen weiteren materiellen und immateriellen Schadens festgestellt. Es hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen wenden sich die Beklagten mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.7

1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Schadensersatzverpflichtung beruhe auf einem behandlungsfehlerhaften Vorgehen der Beklagten zu 2 bei der Betreuung der Mutter des Klägers. Nach Anhörung der Eltern und der Beklagten zu 2 sei der Senat überzeugt, dass die Eltern des Klägers bei Aufnahme der Mutter im Kreißsaal der Beklagten zu 2 über zu Hause einsetzende Blutungen berichtet hätten. Der Beklagten zu 2 sei ein Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers vorzuwerfen, da sie die ihr mitgeteilte Blutung nicht kontrolliert und deshalb die diensthabende Ärztin statt bereits um 3.05 Uhr erst um 3.15 Uhr, mithin zehn Minuten zu spät informiert habe. Die Beklagte zu 2 hätte nach der Mitteilung von der Blutung eine Kontrolle der Vorlage der Mutter durchführen müssen, ohne diese hätte sie nicht einschätzen können, ob es sich bei der Blutung nur um eine Zeichnungsblutung gehandelt habe oder aber trotz des äußerlich gesunden Zustands um eine stärkere Blutung. Die fehlende Vorlagekontrolle stelle einen vorwerfbaren Behandlungsfehler der Beklagten zu 2 dar. Die Beklagte zu 2 hätte spätestens um 3.05 Uhr die Ärztin informieren müssen. Der wegen der unterlassenen Vorlagekontrolle vorzuwerfende Befunderhebungsfehler sei für die gesundheitliche Schädigung des Klägers mindestens mitursächlich. Stehe fest, dass eine medizinisch erforderliche Befunderhebung Unterlassen worden sei, werde zu Gunsten des Patienten vermutet, dass der fragliche Befund ein aus medizinischer Sicht reaktionspflichtiges Ergebnis gehabt hätte, wenn letzteres hinreichend wahrscheinlich sei. Das sei hier der Fall. Die Angabe in dem Gedächtnisprotokoll vom 27. Oktober 2007, dass um 3.20 Uhr eine Blutung > Regelstärke vorlag, rechtfertige den Schluss, dass die Beklagte zu 2 diese Feststellung bereits zu dem Zeitpunkt getroffen hätte, zu dem sie die Vorlage hätte kontrollieren müssen, mithin gegen 3.02 Uhr. Der Sachverständige habe insoweit ausgeführt, dass, sofern die Hebamme die Vorlage angeschaut hätte, sie mutmaßlich eine Blutung in Regelstärke bemerkt hätte, wie sie 20 Minuten später ja auch festgestellt und dokumentiert worden sei. Bei Durchführung der Vorlagekontrolle hätte sich ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben, dass sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion als grob fehlerhaft dargestellt hätte. Der Sachverständige habe darauf verwiesen, dass er sich nicht erklären könne, weshalb die Hebamme erst um 3.15 Uhr den Arzt gerufen habe. Wenn sie die überstarke Regelblutung gesehen hätte, hätte sie den Arzt rufen müssen. Dies sei zehn Minuten zu spät erfolgt. Dies sei ein Fehler, der einer Hebamme schlicht nicht unterlaufen dürfe. Der Kläger habe einen Geburtsschaden erlitten. Der Befunderhebungsfehler der Beklagten zu 2 sei generell geeignet gewesen, den Geburtsschaden des Klägers zu verursachen. Es trete deshalb eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Klägers ein.8

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht die von den Beklagten benannten Zeugen Dr. G., Dr. F. und Dr. K. nicht vernommen und daher unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nach Anhörung lediglich der Eltern und der Beklagten zu 2 aufgrund der Angaben der Eltern zu der Überzeugung gekommen ist, dass die Mutter des Klägers der Beklagten zu 2 bei der Aufnahme über Blutungen berichtet habe.9

a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 25. September 2018 – VI ZR 234/17, NJW 2019, 607 Rn. 7; vom 10. April 2018 – VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803 Rn. 7; jeweils mwN).10

b) So liegt es im Streitfall. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht bei seiner Annahme, die Eltern des Klägers hätten der Beklagten zu 2 bereits bei der Aufnahme im Kreißsaal über zu Hause einsetzende Blutungen der Mutter berichtet, beweisbewehrtes Sachvorbringen der Beklagten übergangen hat und einem erheblichen Beweisangebot nicht nachgegangen ist.11

aa) Die Beklagten haben in den Instanzen vorgetragen, dass die Mutter gegenüber der Beklagten zu 2 nichts über eine Blutung berichtet habe, sondern erstmals bei Eintreffen der Zeugin Dr. G. über das Auftreten einer vaginalen Blutung gesprochen habe, so wie es in dem vorgelegten und unmittelbar nach der Sectio erstellten Gedächtnisprotokoll der Zeugen Dres G., F. und K. und der Beklagten zu 2 festgehalten worden sei. Der nach der Sectio nochmals zur anamnestischen Situation befragte Vater habe erst dann zum ersten Mal erwähnt, dass die Kindsmutter bereits zu Hause eine vaginale Blutung gehabt habe. Hierzu hätten die Beklagten schon in ihrer Klagerwiderung Beweis durch Benennung der Zeuginnen Dres G., F. und K. angetreten und im Berufungsverfahren an die unerledigten Beweisantritte erinnert.12

bb) Dieser Beweisantritt ist weder unzulässig noch fehlt dem Beweisangebot die Eignung zum Beweismittel. Das Berufungsgericht hat zur Frage der Mitteilung häuslicher Blutungen gegenüber der Beklagten zu 2 dennoch lediglich die Eltern des Klägers und die Beklagte zu 2 angehört.13

(1) Der Antritt eines Zeugenbeweises erfordert – außer bei inneren Tatsachen – grundsätzlich keine Angaben dazu, wie der Zeuge die unter Beweis gestellte Tatsache erfahren haben soll (vgl. BGH, Urteil vom 8. November 1995 – XII ZR 202/94 – ZMR 1996, 122, juris Rn. 17). Ein Beweisantrag ist nur unter sehr engen Voraussetzungen als rechtsmissbräuchlich und daher als unzulässig zu bewerten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Partei ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt; bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten (vgl. Senatsurteil vom 25. April 1995 – VI ZR 178/94, NJW 1995, 2111, juris Rn. 13). Denn eine Partei ist in einem Zivilprozess häufig darauf angewiesen, Tatsachen zu behaupten, über die sie zwar keine genauen Kenntnisse besitzt, die sie nach Lage der Dinge aber für wahrscheinlich hält (vgl. BGH, Urteile vom 20. Juni 2002 – IX ZR 177/99 – NJW-RR 2002, 1419, juris Rn. 17 und vom 25. April 1995 – VI ZR 178/94 – NJW 1995, 2111, juris Rn. 13).14

(2) Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann (Senatsbeschluss vom 10. April 2018 – VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803, Rn. 9; BGH, Urteil vom 23. Oktober 2014 – III ZR 82/13, WM 2014, 2212 Rn. 17 mwN). Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten (BGH, Urteil vom 26. November 2003 – IV ZR 438/02, BGHZ 157, 79, 84 f., juris Rn. 15). Darüber hinaus scheidet die Ablehnung eines Beweisantrags als ungeeignet aus, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt wird, weil dies eine unzulässige Beweisantizipation darstellt (BGH, Urteil vom 23. Oktober 2014, ebenda).15

(3) Eine Begründung für einen solchen Ausnahmefall kann den Gründen des Berufungsurteils nicht entnommen werden. Das Berufungsgericht hat dazu nur ausgeführt, dass es die Angaben der Eltern für glaubhaft halte. Da bei der vaginalen Untersuchung der Mutter durch die Ärztin eine Blutung > Regelstärke festgestellt worden sei, sei es für den Senat nachvollziehbar, dass die Eltern, die wegen dieser Blutung die Klinik aufgesucht hätten, gegenüber der Beklagten zu 2 nicht nur den Verdacht eines Blasensprungs geäußert hätten, sondern ihr auch über die Blutung berichtet hätten. Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Eltern des Klägers begründen könnten, seien nicht ersichtlich und hätten auch die Beklagten nicht aufgezeigt. Es spreche auch sonst nichts dafür, dass die Eltern des Klägers die vorhandene Blutung erst der später herbeigerufenen Ärztin mitgeteilt hätten.16

c) Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Die Begründung eines Befunderhebungsfehlers der Beklagten zu 2 durch das Berufungsgericht steht und fällt mit der Annahme, dass der Beklagten zu 2 bei der Aufnahme eine häusliche Blutung der Mutter mitgeteilt worden ist, die Veranlassung gegeben hätte, deren Vorlage zur Prüfung und Feststellung des Umfangs der Blutung zu kontrollieren.17

3. Die neue Verhandlung gibt dem Berufungsgericht im Übrigen Gelegenheit, sich gegebenenfalls mit dem weiteren Vorbringen der Parteien im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen.

Löffler I www.K1.de I Gesellschaftsrecht I Gesellschafterversammlung I M&A I Unternehmenskauf I Erfurt I Thüringen I Sachsen I Sachsen-Anhalt I Hessen I Deutschland 2023

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BGH, Urteil vom 8. August 2023 – II ZR 13/22

Dienstag, 8. August 2023

Stimmverbot

§ 47 Abs 4 S 2 Alt 2 GmbHG, § 48 GmbHG

1. Bei der Beschlussfassung über die Einleitung eines Rechtsstreits gegen eine Drittgesellschaft oder über die außergerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen gegen die Drittgesellschaft unterliegen diejenigen GmbH-Gesellschafter einem Stimmverbot, die zusammen alle Anteile an der Drittgesellschaft innehaben.

2. Das Gericht darf im Rahmen der positiven Beschlussfeststellungsklage nicht an Stelle der GmbH-Gesellschafter entscheiden und einen Beschluss feststellen, der so nicht zur Abstimmung der Gesellschafter in der Gesellschafterversammlung stand. Es kann nur das Ergebnis einer tatsächlich erfolgten Willensbildung feststellen.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird unter Zurückweisung seiner weitergehenden Revision das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Bamberg vom 2. Dezember 2021 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufungsanträge des Klägers 11, 12 und 13 zurückgewiesen wurden.

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 1. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Bamberg vom 23. Oktober 2020 abgeändert und neu gefasst.

Die zu den TOP 13, 14 und 15 der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 30. Juli 2019 gefassten Beschlüsse werden für nichtig erklärt.

Es wird festgestellt, dass auf der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 30. Juli 2019 nachfolgende Beschlüsse gefasst wurden:

TOP 13. Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen      D.        gem. § 46 Nr. 8 GmbHG wegen verbotswidriger Konkurrenztätigkeit mit dem Unternehmen T.            GmbH sowie wegen Anmeldung und des Eintrages der Konkurrenzmarke „H.                   Collection“ beim Deutschen Patent- und Markenamt, einschließlich deren wirtschaftlicher Nutzung im Rahmen der verbotswidrigen Konkurrenztätigkeit, sowie Bestellung eines Prozessvertreters der Gesellschaft für die gerichtliche Durchsetzung solcher Schadensersatzansprüche gem. § 46 Nr. 8 Alt. 2 GmbHG sowie etwaiger Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes und deren Abwehr. Zustimmung der Beauftragung einer Rechtsanwaltskanzlei. Kostentragung durch die Gesellschaft.

TOP 14. Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Frau       M.       wegen verbotswidriger Konkurrenztätigkeit.

TOP 15. Geltendmachung von Schadensersatzforderungen gegenüber der T.            GmbH.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens erster Instanz, des Berufungsverfahrens und des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens tragen der Kläger zu ¾ und die Beklagte zu ¼. Die Kosten des Revisionsverfahrens tragen der Kläger zu ¼ und die Beklagte zu ¾.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Der Kläger ist Gesellschafter der beklagten GmbH. Weitere Gesellschafterinnen der Beklagten sind neben anderen mit einem Anteil am Stammkapital von jeweils 26,084% Frau D.       , die zudem Geschäftsführerin der Beklagten ist, und Frau M.     .Randnummer2

Frau D.        und Frau M.      sind daneben mit einer jeweils hälftigen Beteiligung Gesellschafterinnen der T.            GmbH, deren Geschäftsführerin ebenfalls Frau D.         ist.Randnummer3

Beide Gesellschafterinnen sind darüber hinaus neben dem Kläger und weiteren Gesellschaftern Kommanditistinnen der T.                                 GmbH u. Co. KG (im Folgenden: T.                       KG), deren Komplementärin die Beklagte ist.Randnummer4

Die T.                      KG ist Inhaberin verschiedener beim Deutschen Patent- und Markenamt eingetragener Marken, unter anderem der Marke „H.             Original“. Seit 1994 bestand zwischen der T.                      KG und der T.            GmbH ein Vertrag, auf dessen Grundlage die Markenrechte von der T.           GmbH gegen Zahlung eines Entgelts von jährlich 90.000 € genutzt werden konnten.Randnummer5

Ab August 2017 wurden beim Deutschen Patent- und Markenamt auf Veranlassung von Frau D.        für die T.            GmbH verschiedene vom Kläger als Konkurrenzmarken angesehene Marken der Produktserie „H.        “ angemeldet und im Oktober 2018 eingetragen.Randnummer6

Am 30. Juli 2019 fand eine Gesellschafterversammlung der Beklagten statt, die unter anderem folgende Tagesordnungspunkte vorsah:

„TOP 13. – Beschlussfassung über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen     D.        gem. § 46 Nr. 8 GmbHG wegen verbotswidriger Konkurrenztätigkeit mit dem Unternehmen T.           GmbH sowie wegen Anmeldung und des Eintrages der Konkurrenzmarke „H.                      Collection“ beim Deutschen Patent- und Markenamt, einschließlich deren wirtschaftlicher Nutzung im Rahmen der verbotswidrigen Konkurrenztätigkeit, sowie Bestellung eines Prozessvertreters der Gesellschaft für die gerichtliche Durchsetzung solcher Schadensersatzansprüche gem. § 46 Nr. 8 Alt. 2 GmbHG sowie etwaiger Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes und deren Abwehr. Zustimmung der Beauftragung einer Rechtsanwaltskanzlei. Kostentragung durch die Gesellschaft.

TOP 14. – Beschlussfassung über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Frau        M.       wegen verbotswidriger Konkurrenztätigkeit.

TOP 15. – Beschlussfassung über die Geltendmachung von Schadensersatzforderungen gegenüber der T.           GmbH.“Randnummer7

Der Versammlungsleiter stellte nach der Abstimmung unter Zählung der Stimmen der Gesellschafterinnen D.       und M.      fest, dass die Beschlussanträge zu TOP 13, 14 und 15 abgelehnt worden seien.Randnummer8

Am 31. Juli 2019 beantragte Frau D.        die Umschreibung der im Oktober 2018 eingetragenen Marken von der T.           GmbH auf die T.                          KG, die dann auch erfolgte.Randnummer9

Der Kläger begehrt die Nichtigerklärung der ablehnenden Beschlüsse. Weiter verlangt er die Feststellung, dass die jeweiligen Beschlüsse gefasst wurden sowie, über die Beschlussanträge in der Gesellschafterversammlung hinausgehend, ihn als Prozessvertreter zur Durchsetzung der Schadensersatzansprüche in allen drei Fällen einzusetzen (Berufungsanträge zu 11 (TOP 13), 12 (TOP 14) und 13 (TOP 15)). Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat hinsichtlich der Berufungsanträge zu 11 (TOP 13), 12 (TOP 14) und 13 (TOP 15) zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Anträge weiter.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat überwiegend Erfolg. Sie führt zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen und Abänderung des landgerichtlichen Urteils.Randnummer11

I. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, ausgeführt:Randnummer12

Da ein Nichtigkeits- bzw. Anfechtungsgrund nicht vorliege, seien die ablehnenden Beschlüsse der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 30. Juli 2019 zu den TOP 13, 14 und 15 wirksam. Das Landgericht habe zu Recht angenommen, dass die Gesellschafterinnen D.        und M.      bei der Abstimmung über die Tagesordnungspunkte keinem Stimmverbot unterlegen wären, weil die Geltendmachung von Konkurrenzschutz- und Schadensersatzansprüchen gegen die Gesellschafterinnen D.        , M.       oder die T.         GmbH nicht geboten gewesen sei. Die Anmeldung der Marken „H.     “ für die T.            GmbH sei nicht vorsätzlich, sondern nur versehentlich erfolgt, und begründe allenfalls ein Organisationsverschulden, aber keine gravierende Pflichtverletzung.Randnummer13

II. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.Randnummer14

1. Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht angenommen, dass zu TOP 13 ein ablehnender Beschluss gefasst wurde. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts unterlag die Gesellschaftergeschäftsführerin D.          einem Stimmverbot.Randnummer15

a) Der Beschlussantrag zum TOP 13 hat die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Frau D.        als Geschäftsführerin der Beklagten zum Inhalt (§ 46 Nr. 8 Fall 1 GmbHG). Daneben sollte ein Prozessvertreter der Gesellschaft für die gerichtliche Durchsetzung solcher Schadensersatzansprüche sowie etwaiger Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes und deren Abwehr bestellt werden.Randnummer16

Bei der Beschlussfassung über die Einleitung eines Rechtsstreits gegenüber einem Gesellschaftergeschäftsführer hat dieser nach § 47 Abs. 4 Satz 2 Fall 2 GmbHG kein Stimmrecht. Aus dem in § 47 Abs. 4 GmbHG zum Ausdruck kommenden Grundgedanken, dass niemand Richter in eigener Sache sein darf, folgt zudem ein Stimmverbot bei der Beschlussfassung über die außergerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 33; Urteil vom 7. Februar 2012 – II ZR 230/09, ZIP 2012, 917 Rn. 16; Urteil vom 11. September 2018 – II ZR 307/16, ZIP 2018, 2024 Rn. 26; Urteil vom 17. Januar 2023 – II ZR 76/21, ZIP 2023, 467 Rn. 25). Der Stimmrechtsausschluss gilt ebenso, wenn es darum geht, nach § 46 Nr. 8 Fall 2 GmbHG das Organ zu bestellen, das die Gesellschaft bei der Anspruchsverfolgung vertreten soll (BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 34; Urteil vom 16. Dezember 1991 – II ZR 31/91, BGHZ 116, 353).Randnummer17

b) Für das Stimmverbot kommt es, anders als das Berufungsgericht meint, nicht darauf an, ob die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen den Gesellschaftergeschäftsführer rechtlich geboten ist.Randnummer18

Es ist bereits unklar, was das Berufungsgericht unter dem Prüfungsansatz, die Geltendmachung sei „rechtlich nicht geboten“, versteht. Jedenfalls kann es nicht darauf ankommen, ob die beabsichtigte Anspruchsverfolgung Aussicht auf Erfolg hat.Randnummer19

Geht es um die Geltendmachung von ErsatzansprüchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Ersatzansprüchen
Geltendmachung von Ersatzansprüchen
gegen Gesellschafter oder Geschäftsführer, so reicht es grundsätzlich aus, dass der die Abstimmung beantragende Gesellschafter im Einzelnen umreißt, worin die Pflichtverletzung und der Tatbeitrag der einzelnen Mitgesellschafter besteht. Es kommt nicht darauf an, ob die Anspruchsverfolgung Aussicht auf Erfolg hat (BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 36; Urteil vom 30. Juni 2020 – II ZR 8/19, BGHZ 226, 182 Rn. 29). Es würde die Durchsetzung der Ersatzansprüche unzumutbar erschweren, wenn schon im Anfechtungsprozess und mangels Rechtskrafterstreckung im nachfolgenden prozess nochmals gerichtlich geklärt werden müsste, ob der Haftungsgrund besteht (BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 36).Randnummer20

c) Die fehlerhafte Berücksichtigung der Stimme der Gesellschaftergeschäftsführerin D.        bei der Abstimmung über TOP 13 führt zur Unrichtigkeit der Beschlussfeststellung und damit zur erfolgreichen Anfechtung des ablehnenden Beschlusses.Randnummer21

aa) Die entgegen dem Stimmverbot dennoch erfolgte Stimmabgabe der Frau D.        war nichtig und nicht mitzuzählen (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 2021 – II ZR 8/21, BGHZ 232, 203 Rn. 29). Eine unrichtige Beschlussfeststellung aufgrund unrichtiger Stimmzählung liegt vor, wenn der Fehler für das festgestellte Beschlussergebnis ursächlich ist (BGH, Urteil vom 20. November 2018 – II ZR 12/17, BGHZ 220, 207 Rn. 48).Randnummer22

bb) Das ist hier der Fall. Der ablehnende Beschluss zu TOP 13 wäre bei rechtmäßiger Zählung der Stimmen nicht gefasst worden.Randnummer23

(1) Nach § 4a Abs. 3 der Satzung der Beklagten werden Beschlüsse, soweit nicht das Gesetz oder die Satzung etwas Anderes vorschreiben, mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst. Für das Abstimmungsergebnis sind die vom Berufungsgericht festgestellten, im Protokoll der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 30. Juli 2019 festgehaltenen Stimmverhältnisse und Abstimmungsergebnisse zugrunde zu legen (vgl. Protokoll der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 30. Juli 2019, Anlage B 11). Den ablehnenden Beschluss zu TOP 13 hat der Versammlungsleiter danach unter Berücksichtigung von Nein-Stimmen entfallend auf 52,168 % des Stammkapitals der Gesellschaft und Ja-Stimmen bezogen auf 47,821 % des Stammkapitals festgestellt. Ohne Berücksichtigung der Stimme von Frau D.       (26,084 % des Stammkapitals) wurden in der Gesellschafterversammlung zu TOP 13 Nein-Stimmen bezogen auf 26,084 % des Stammkapitals und Ja-Stimmen bezogen auf 47,821 % des Stammkapitals abgegeben.Randnummer24

(2) Der Wirksamkeit der abgegebenen Ja-Stimmen steht entgegen der Ansicht der Beklagten kein Verstoß der mit Ja stimmenden Gesellschafter gegen ihre gesellschafterliche Treuepflicht entgegen.Randnummer25

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass die Stimmen eines Gesellschafters nichtig sind, wenn der Gesellschafter von seinem Stimmrecht rechtsmissbräuchlich Gebrauch macht. Bei der Feststellung des BeschlussergebnissesBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Feststellung
Feststellung des Beschlussergebnisses
sind sie nicht mitzuzählen (BGH, Urteil vom 10. Februar 1977 – II ZR 79/75, WM 1977, 361; Urteil vom 26. Oktober 1983 – II ZR 87/83, BGHZ 88, 320; Urteil vom 9. November 1987 – II ZR 100/87, BGHZ 102, 172, 176; Urteil vom 19. November 1990 – II ZR 88/89, ZIP 1991, 23, 24; Urteil vom 12. Juli 1993 – II ZR 65/92, ZIP 1993, 1228, 1230; Beschluss vom 4. Mai 2009 – II ZR 166/07, ZIP 2009, 2193 Rn. 2). Dies kann etwa der Fall sein, wenn ein Gesellschafter mit seiner Stimme ausschließlich eigennützige Zwecke verfolgt, etwa eine Blockademacht dazu benutzt, seinen Lästigkeitswert in die Höhe zu treiben und eine Abfindung zu erstreiten, oder seine Mehrheitsmacht zur Schädigung der Mitgesellschafter oder für ungerechtfertigte Sondervorteile einsetzt (BGH, Urteil vom 12. April 2016 – II ZR 275/14, ZIP 2016, 1220 Rn. 20, 23).Randnummer26

Da der Vorwurf verbotener Konkurrenztätigkeit durch die Gesellschafterinnen D.       und M.      sowie die T.            GmbH im Raum steht, liegt in der Stimmabgabe für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft die Verfolgung von Gesellschaftsinteressen. Die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen ist auch nicht deshalb rechtsmissbräuchlich, weil der vorgeworfenen Konkurrenztätigkeit bzw. der Anmeldung der Konkurrenzmarken nur ein fahrlässiges Handeln zugrunde liegen soll. Dies schließt das Bestehen von Schadensersatzansprüchen nicht von vornherein aus.Randnummer27

2. Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht angenommen, dass zu TOP 14 ein ablehnender Beschluss gefasst wurde. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts unterlag die Gesellschafterin M.       einem Stimmverbot.Randnummer28

a) Der Beschlussantrag zum TOP 14 hat die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen verbotswidriger Konkurrenztätigkeit gegen die Gesellschafterin M.     zum Inhalt, weshalb diese bei der Beschlussfassung kein Stimmrecht hat (s.o. II. 1. a) und b)).Randnummer29

b) Die fehlerhafte Berücksichtigung der Stimme der Gesellschafterin M.     bei der Abstimmung über TOP 14 führt zur Unrichtigkeit der Beschlussfeststellung und damit zur erfolgreichen Anfechtung des ablehnenden Beschlusses.Randnummer30

Den ablehnenden Beschluss zu TOP 14 hat der Versammlungsleiter ausweislich des vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Protokolls der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 30. Juli 2019 unter Berücksichtigung von Nein-Stimmen entfallend auf 52,168 % des Stammkapitals der Gesellschaft und Ja-Stimmen bezogen auf 43,474 % des Stammkapitals festgestellt. Ohne die Stimme der Gesellschafterin M.      (26,084 % des Stammkapitals) wurden zu TOP 14 Nein-Stimmen bezogen auf 26,084 % des Stammkapitals und Ja-Stimmen bezogen auf 43,474 % des Stammkapitals abgegeben. Anhaltpunkte für eine rechtsmissbräuchliche Abgabe der Ja-Stimmen bestehen nicht (s.o. II. 1. c) bb) (2)).Randnummer31

3. Schließlich hat das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft angenommen, dass zu TOP 15 ein ablehnender Beschluss gefasst wurde. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts unterlagen die Gesellschafterinnen D.       und M.     einem Stimmverbot. Bei der Beschlussfassung über die Einleitung eines Rechtsstreits gegen eine Drittgesellschaft oder über die außergerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen gegen die Drittgesellschaft unterliegen diejenigen GmbH-Gesellschafter einem Stimmverbot, die zusammen alle Anteile an der Drittgesellschaft innehaben.Randnummer32

a) Der Beschlussantrag zum TOP 15 hat die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber der T.           GmbH zum Gegenstand.Randnummer33

b) Ist ein GmbH-Gesellschafter Alleingesellschafter einer Drittgesellschaft, besteht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 47 Abs. 4 GmbHG für ihn ein Stimmverbot bei einer Beschlussfassung, die die Vornahme eines Rechtsgeschäfts oder die Einleitung oder Erledigung eines Rechtsstreits gegen diese Drittgesellschaft betrifft (BGH, Urteil vom 29. März 1971 – III ZR 255/68, BGHZ 56, 47, 53; Urteil vom 29. März 1973 – II ZR 139/70, NJW 1973, 1039, 1040; Urteil vom 30. November 2021 – II ZR 8/21, BGHZ 232, 203 Rn. 29). Aus dem in § 47 Abs. 4 GmbHG zum Ausdruck kommenden Grundgedanken, dass niemand Richter in eigener Sache sein darf, folgt zudem ein Stimmverbot bei der Beschlussfassung über die außergerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen gegen die Drittgesellschaft (vgl. BGH, Urteil vom 20. Januar 1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 33; Urteil vom 7. Februar 2012 – II ZR 230/09, ZIP 2012, 917 Rn. 16; Urteil vom 11. September 2018 – II ZR 307/16, ZIP 2018, 2024 Rn. 26; Urteil vom 17. Januar 2023 – II ZR 76/21, ZIP 2023, 467 Rn. 25). Diese Grundsätze gelten entsprechend, wenn mehrere Gesellschafter einer GmbH alle Anteile an der Drittgesellschaft innehaben (BGH, Urteil vom 10. Februar 1977 – II ZR 81/76, BGHZ 68, 107, 110). In diesem Fall ist die wirtschaftliche Verbindung so stark, dass man das persönliche Interesse der GmbH-Gesellschafter mit dem der Drittgesellschaft gleichsetzen kann. Das in der anderweitigen Beteiligung der GmbH-Gesellschafter verkörperte Interesse schließt dann bei Entscheidungen über Rechtsgeschäfte oder die Einleitung oder Erledigung eines Rechtsstreits mit der Drittgesellschaft oder die außergerichtliche Anspruchsverfolgung eine unbefangene Stimmabgabe in der Regel aus und bedeutet deshalb für die GmbH eine erhebliche Gefahr (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 1977 – II ZR 81/76, BGHZ 68, 107, 110; Urteil vom 7. Februar 2012 – II ZR 230/09, ZIP 2012, 917 Rn. 32 mwN; Urteil vom 30. November 2021 – II ZR 8/21, BGHZ 232, 203 Rn. 29).Randnummer34

c) Nach diesen Grundsätzen hatten die Gesellschafterinnen der Beklagten D.        und M.       bei der Abstimmung über die Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber der T.          GmbH kein Stimmrecht, weil sie mit jeweils 50 % an dieser beteiligt sind.Randnummer35

d) Die fehlerhafte Berücksichtigung der Stimmen der Gesellschafterinnen D.         und M.      bei der Abstimmung über TOP 15 führt zur Unrichtigkeit der Beschlussfeststellung und damit zur erfolgreichen Anfechtung des ablehnenden Beschlusses.Randnummer36

Den ablehnenden Beschluss zu TOP 15 hat der Versammlungsleiter ausweislich des vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Protokolls der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 30. Juli 2019 unter Berücksichtigung von Nein-Stimmen entfallend auf 52,168 % des Stammkapitals der Gesellschaft und Ja-Stimmen bezogen auf 47,821 % des Stammkapitals festgestellt. Ohne die Stimmen von Frau D.       und Frau M.      wurden zu TOP 15 ausschließlich Ja-Stimmen bezogen auf 47,821 % des Stammkapitals abgegeben. Anhaltpunkte für eine rechtsmissbräuchliche Abgabe der Ja-Stimmen bestehen nicht (s.o. II. 1. c) bb) (2)).Randnummer37

III. Soweit die Revision in Bezug auf die Nichtigerklärung der Ablehnung der Beschlussanträge und die positive Beschlussfeststellung zu den TOP 13, 14 und 15 der Gesellschafterversammlung Erfolg hat, ist das angefochtene Urteil aufzuheben (§ 563 Abs. 2 ZPO). Der Senat hat nach § 563 Abs. 3 ZPO in der Sache selbst zu entscheiden, weil die Aufhebung des Urteils nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist. Die zu den TOP 13, 14 und 15 der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 30. Juli 2019 gefassten Beschlüsse sind für nichtig zu erklären, die beantragten Beschlüsse sind festzustellen.Randnummer38

1. Der Inhalt der Beschlussanträge und das Ergebnis der Abstimmung zu TOP 13, 14 und 15 sind vom Berufungsgericht unter Bezugnahme auf die im Protokoll der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 30. Juli 2019 festgehaltenen Stimmverhältnisse und Abstimmungsergebnisse für das Abstimmungsergebnis für das Revisionsgericht bindend festgestellt (vgl. Urteil des Berufungsgerichts vom 2. Dezember 2021 Seite 3 und Urteil des Landgerichts Bamberg vom 23. Oktober 2020 Seite 30).Randnummer39

Danach ist festzustellen, dass der Beschluss zu TOP 13 in der Fassung des Beschlussantrags der Gesellschafterversammlung vom 30. Juli 2019 wirksam gefasst wurde, weil die Zahl der Ja-Stimmen mit 47,821 % die Zahl der Nein-Stimmen mit 26,084 %, jeweils bezogen auf das Stammkapital, überwiegt. Soweit der Beschluss neben der Bestellung eines besonderen Vertreters die Zustimmung der Beauftragung einer Rechtsanwaltskanzlei sowie die Kostentragung durch die Gesellschaft vorsieht, ist dies zulässig (MünchKommGmbHG/Liebscher, 4. Aufl., § 46 Rn. 291 f.; Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 4. Aufl., § 46 Rn. 493).Randnummer40

Es ist weiter festzustellen, dass der Beschluss zu TOP 14 in der Fassung des Beschlussantrags der Gesellschafterversammlung vom 30. Juli 2019 wirksam gefasst wurde, weil die Zahl der Ja-Stimmen mit 43,474 % die Zahl der Nein-Stimmen mit 26,084 %, jeweils bezogen auf das Stammkapital, überwiegt.Randnummer41

Schließlich ist festzustellen, dass der Beschluss zu TOP 15 in der Fassung des Beschlussantrags der Gesellschafterversammlung vom 30. Juli 2019 wirksam gefasst wurde, weil ausschließlich Ja-Stimmen zu zählen sind.Randnummer42

2. Zu Recht wendet die Beklagte ein, dass die Anträge des Klägers auf positive Beschlussfeststellung über die der Gesellschafterversammlung der Beklagten vorliegenden Beschlussanträge zu TOP 13, 14 und 15 hinausgehen. Dies führt aber nicht zur Abweisung der positiven Beschlussfeststellungsklage insgesamt, sondern nur zur Zurückweisung der Revision im überschießenden Umfang.Randnummer43

Das Gericht darf im Rahmen der positiven Beschlussfeststellungsklage nicht an Stelle der Gesellschafter entscheiden und einen Beschluss feststellen, der so nicht zur Abstimmung der Gesellschafter in der Gesellschafterversammlung stand. Es kann nur das Ergebnis einer tatsächlich erfolgten Willensbildung feststellen (OLG Köln, ZIP 2018, 2410, 2412; BeckOK GmbHG/Leinekugel, Stand 1.6.2023, Anhang § 47 Rn. 269; Noack in Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl., Anhang nach § 47 Rn. 189; MünchKommGmbHG/Wertenbruch, 4. Aufl., Anhang § 47 Rn. 445). Danach bleibt die mit den Berufungsanträgen 11, 12 und 13 begehrte Feststellung erfolglos, soweit sie über die Beschlussanträge zu TOP 13, 14 und 15 der Gesellschafterversammlung hinausgehen.

Schlagworte: Abberufung aus wichtigem Grund, Abberufung des Geschäftsführers, Gesellschafter ohne Stimmrecht, Gesellschaftsrechtliche Stimmverbote, Gesetzliche Stimmverbote, Positive Beschlussfeststellungsklage, Rechtsfolgen bei Verstoß gegen Stimmverbot, Stimmen von Gesellschaftern ohne Stimmrecht, Stimmrecht im Einzelfall ausgeschlossen, Stimmrechte, Stimmrechtsausschluss, Stimmrechtsmissbrauch, Stimmverbot, Stimmverbot für betroffenen Gesellschafter, Stimmverbote

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BGH, Beschluss vom 8. August 2023 – VIII ZR 20/23

Dienstag, 8. August 2023

Rechtliches Gehör

ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 544 Abs. 9; GG Art. 103 Abs. 1

Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist nicht auf den Umfang beschränkt, in dem eine zweitinstanzliche Tatsachenfeststellung der Kontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt. Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben (Bestätigung von BGH, Urteile vom 9. März 2005 – VIII ZR 266/03, BGHZ 162, 313, 315 f.; vom 29. Juni 2016 – VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rn. 26; Senatsbeschluss vom 11. Oktober 2016 – VIII ZR 300/15, WuM 2016, 743 Rn. 23).

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts München II – 12. Zivilkammer – vom 13. Dezember 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an eine andere Kammer des Berufungsgerichts zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wird auf 85.200 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin vermietete mit Wohnraummietvertrag vom 9. November 2018 ein Hausgrundstück am           S.  an die Beklagten. Bei dem Mietobjekt handelt es sich um ein Haupt- und ein Nebenhaus, die beide miteinander verbunden sind und eine Gesamtwohnfläche von 410 m² aufweisen.2

Die Klägerin beabsichtigte zunächst einen Verkauf des Hausgrundstücks. Eine Besichtigung des Objekts durch den Makler wurde ihr im Frühjahr 2021 von den Beklagten, denen die Klägerin ebenfalls ein Verkaufsangebot unterbreitet hatte, verwehrt.3

Mit Schreiben vom 31. August 2021 erklärte die Klägerin, die zwei erwachsene und mit ihren Familien in München lebende Söhne hat, die Kündigung des Mietverhältnisses zum 30. November 2021 wegen Eigenbedarfs. In der Kündigungserklärung heißt es unter anderem, dass die Klägerin nunmehr das Haus selbst mit ihrem Sohn D.     und dessen Familie bewohnen und ihr Sohn P.    einen Bereich des Hauses als Zweitwohnsitz nutzen wolle.4

Die Beklagten widersprachen der Kündigung gemäß § 574 BGB.5

Das Amtsgericht hat der auf Räumung und Herausgabe des Hausgrundstücks gerichteten Klage nach zeugenschaftlicher Vernehmung der beiden Söhne zum Vorliegen des behaupteten Eigenbedarfs stattgegeben. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen.6

Hiergegen wenden sich die Beklagten mit der Nichtzulassungsbeschwerde, mit der sie ihr auf Abweisung der Klage, hilfsweise auf Feststellung der Fortsetzung des Mietverhältnisses nach §§ 574 f. BGB gerichtetes Begehren weiterverfolgen.

II.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:8

Das Amtsgericht habe zu Recht angenommen, dass ein Kündigungsgrund gemäß § 573 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB vorliege, weil die Klägerin die Räume als Wohnung für sich und ihre Familienangehörigen benötige. Es habe festgestellt, dass die Klägerin beabsichtige, das Nebenhaus zu beziehen und ihren Sohn D.     mit seiner Familie das Haupthaus beziehen zu lassen sowie dem Sohn P.     einen Raum zur Nutzung als Zweitwohnsitz zur Verfügung zu stellen.9

Das Berufungsgericht sei grundsätzlich an die Beweiswürdigung des Amtsgerichts gebunden, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen würden. Solche Anhaltspunkte seien ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche. Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinn seien die objektivierbaren rechtlichen und tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen; bloße subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügten nicht.10

Die Berufungsbegründung könne derartige konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht aufzeigen. Das Amtsgericht habe sich in seiner Beweiswürdigung auch mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass die Klägerin zunächst eine Verkaufsabsicht gehabt und erst in der Folge den Eigennutzungswunsch gefasst habe. Insgesamt setzten die Beklagten lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Amtsgerichts.

III.

Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat in der Sache Erfolg (§ 544 Abs. 9 ZPO), weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Denn es hat – ausgehend von einem zu engen rechtlichen Überprüfungsmaßstab des Berufungsgerichts gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO – die Ausführungen der Beklagten in der Berufungsbegründung zur Beweiswürdigung des Amtsgerichts nicht in dem gebotenen Maße in seine Erwägungen zur Nachprüfung des angefochtenen Urteils gemäß § 513 ZPO einbezogen.12

1. Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 26; Senatsbeschlüsse vom 5. Oktober 2022 – VIII ZR 88/21, WM 2022, 2242 Rn. 10; vom 13. Dezember 2022 – VIII ZR 298/21, ZIP 2023, 972 Rn. 17; jeweils mwN). Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. nur Senatsbeschluss vom 21. Juni 2022 – VIII ZR 285/21, WuM 2022, 551 Rn. 12). Der Anspruch einer Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist deshalb verletzt, wenn das Berufungsgericht den Vortrag einer Partei in der Berufungsbegründung aufgrund von rechtlichen Erwägungen nur eingeschränkt berücksichtigt, die im Prozessrecht keine Stütze finden (vgl. BGH, Beschluss vom 4. September 2019 – VII ZR 69/17, NJW-RR 2019, 1343 Rn. 9).13

2. Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht den Prüfungsmaßstab der Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und seine daraus folgende Prüfungskompetenz und -pflicht grundlegend verkannt und deshalb die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung zum Vorliegen einer Eigennutzungsabsicht der Klägerin und ihrer Söhne hinsichtlich der streitgegenständlichen Immobilie unter Einbeziehung der von den Beklagten in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen unterlassen hat.14

a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO). Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Derartige konkrete Anhaltspunkte können sich unter anderem aus dem Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften auch aus dem Vortrag der Parteien in der Berufungsinstanz ergeben (vgl. BGH, Beschluss vom 4. September 2019 – VII ZR 69/17, NJW-RR 2019, 1343 Rn. 11).15

Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist dabei nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Denn bei der Berufungsinstanz handelt es sich auch nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer „fehlerfreien und überzeugenden“ und damit „richtigen“ Entscheidung des Einzelfalles besteht (Senatsurteile vom 14. Juli 2004 – VIII ZR 164/03, BGHZ 160, 83, 86 ff.; vom 9. März 2005 – VIII ZR 266/03, BGHZ 162, 313, 315 f.; vom 29. Juni 2016 – VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rn. 26; Senatsbeschluss vom 11. Oktober 2016 – VIII ZR 300/15, WuM 2016, 743 Rn. 23 mwN).16

Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen (BGH, Beschlüsse vom 11. Oktober 2016 – VIII ZR 300/15, aaO Rn. 24; vom 4. September 2019 – VII ZR 69/17, aaO). Vielmehr sind auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Dabei können sich Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (vgl. BGH, Urteile vom 9. März 2005 – VIII ZR 266/03, aaO S. 316 f.; vom 29. Juni 2016 – VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rn. 26; vom 14. Februar 2017 – VI ZR 434/15, NJW-RR 2017, 725 Rn. 20; vom 18. November 2020 – VIII ZR 123/20, WuM 2021, 38 Rn. 23; vom 25. März 2021 – I ZR 37/20, juris Rn. 28; Beschlüsse vom 11. Oktober 2016 – VIII ZR 300/15, aaO; vom 4. September 2019 – VII ZR 69/17, aaO).17

b) Diesen Prüfungsmaßstab hat das Berufungsgericht grundlegend verkannt, denn es hat die mit der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen der Beklagten gegen die Beweiswürdigung des Amtsgerichts nur unter dem Ansatz geprüft, ob dem Amtsgericht hierbei Rechtsfehler unterlaufen sind.18

Bereits die im Abschnitt des Berufungsurteils zum allgemeinen rechtlichen Maßstab enthaltene Aufzählung von Umständen, die das Berufungsgericht als Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ansieht, legt die Anwendung eines nur eingeschränkten – auf Rechtsfehler beschränkten – Prüfungsmaßstabs nahe. Anhand dieses – unzutreffenden – Maßstabs hat das Berufungsgericht sodann die in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwände der Beklagten gegen die Beweiswürdigung des Amtsgerichts auch beurteilt, wie sich aus der Formulierung ergibt, dass die Berufungsbegründung „derartige“ konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit nicht aufzeigen könne. Soweit das Berufungsgericht sich mit dem von der Berufung gegen die „Richtigkeit“ der amtsgerichtlichen Beweiswürdigung angeführten – bedeutsamen – Umstand befasst hat, dass die Klägerin zunächst eine Verkaufsabsicht gehabt und erst später den Eigennutzungsentschluss gefasst habe, ist es seiner Prüfungspflicht ebenfalls nicht in dem oben genannten gebotenen Maße nachgekommen, sondern hat die Prüfung ausschließlich auf die Vollständigkeit – nicht hingegen auf die Richtigkeit – der Beweiswürdigung bezogen. Die im vorgenannten Sinne umfassende Prüfung wird nachzuholen sein.19

Schließlich hat das Berufungsgericht die in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen der Beklagten „insgesamt“ mit der Begründung beschieden, die Beklagte setze „lediglich ihre Beweiswürdigung anstelle derjenigen des Amtsgerichts“. Damit hat es deutlich gemacht, dass es die amtsgerichtliche Beweiswürdigung im Ergebnis allein auf Rechtsfehler geprüft hat, ohne auch nur zu erwägen, ob sich unter Berücksichtigung der Einwendungen der Beklagten Zweifel an den erstinstanzlichen Feststellungen zum Vorliegen einer Eigennutzungsabsicht der Klägerin und ihrer Söhne hinsichtlich der streitgegenständlichen Immobilie aus der Möglichkeit einer anderen Würdigung der Angaben der Klägerin und der als Zeugen vernommenen Söhne ergeben könnten. Mit einer solchen Begründung durfte das Berufungsgericht das Vorbringen der Beklagten gegen die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht als unbeachtlich ansehen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 14. Februar 2017 – VI ZR 434/15, NJW-RR 2017, 725 Rn. 21; Beschluss vom 22. Dezember 2015 – VI ZR 67/15, NJW 2016, 713 Rn. 7).20

c) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Anwendung des zutreffenden Prüfungsmaßstabs im Sinne des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und bei Vornahme einer eigenen Beweiswürdigung unter Einbeziehung der Argumente der Berufungsbegründung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.21

Denn die Beklagten haben neben dem vorstehend bereits erwähnten Umstand einer zunächst bestehenden Verkaufsabsicht der Klägerin – wie die Nichtzulassungsbeschwerde unter Verweis auf die betreffenden Aktenstellen aufzeigt – mit der Berufungsbegründung unter anderem darauf hingewiesen, dass die Angaben der Klägerin zur zeitlichen Einordnung des gemeinsamen Entschlusses über die künftige Eigennutzung des Mietobjekts im Widerspruch zu den Angaben ihres erstinstanzlich als Zeugen vernommenen Sohnes D.     stünden und dessen Angaben wiederum nicht dazu passten, dass die Klägerin noch zu einem späteren Zeitpunkt sogar gerichtlich von den Beklagten die Duldung einer Besichtigung des Mietobjekts zum Zwecke des Verkaufs verlangt habe. Ferner haben die Beklagten die einander widersprechenden Angaben der beiden erstinstanzlich als Zeugen vernommenen Söhne der Klägerin über die beabsichtigte räumliche Aufteilung des Mietobjekts angeführt und unter anderem darauf hingewiesen, dass die diesbezügliche Würdigung des Amtsgerichts nicht dazu passe, dass die Klägerin nach den Angaben in der Kündigungserklärung hierüber ausführlich mit ihren Söhnen gesprochen habe.22

3. Die weiteren von der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Rügen hat der Senat geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 6 Satz 2 ZPO).

IV.

Nach alledem ist das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO). Der Senat macht dabei von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch, der auch im Beschlussverfahren nach § 544 Abs. 9 ZPO entsprechend herangezogen werden kann (Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2022 – VIII ZR 96/22, NJW-RR 2023, 229 Rn. 29 mwN).

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Schlagworte: Art. 103 Abs. 1 GG, GG Art. 103, rechtliches Gehör, Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs

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BGH, Versäumnisurteil vom 11. Juli 2023 – II ZR 116/21

Montag, 7. August 2023

actio pro socio Ausschließung

ZPO § 51 Abs. 1; GmbHG § 30 Abs. 1 Satz 1

1. Der Gesellschafter einer Zwei-Personen-GmbH kann unter den Voraussetzungen der actio pro socio die Ausschließungsklage gegen den anderen Gesellschafter erheben.

2. Wird ein Gesellschafter wegen Vorliegens eines wichtigen Grundes ohne statutarische Regelung durch Urteil aus der GmbH ausgeschlossen, wird die Ausschließung des betroffenen Gesellschafters bereits mit Rechtskraft des Urteils wirksam und ist nicht durch die Leistung der Abfindung bedingt (Aufgabe BGH, Urteil vom 01. April 1953 – II ZR 235/52, von BGHZ 9, 157, 174).

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. Juni 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Kläger und Beklagter sind Gesellschafter der Nebenintervenientin, einer GmbH, und an dieser jeweils hälftig beteiligt. Die Satzung der Nebenintervenientin enthält keine Regelung zum Ausschluss eines Gesellschafters oder zur Einziehung von GeschäftsanteilenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Einziehung
Einziehung von Geschäftsanteilen
. Das Stammkapital von 25.000 € haben die Gesellschafter vollständig eingezahlt.2

Der Kläger hat beantragt, den Beklagten aus der Nebenintervenientin auszuschließen und dessen Geschäftsanteil nach Wahl des Klägers entweder gegen Zahlung einer Abfindung einzuziehen oder den Kläger für befugt zu erklären, die Abtretung des Geschäftsanteils an sich, die Gesellschaft oder einen Dritten herbeizuführen. Hilfsweise hat er beantragt, den Beklagten unter der Bedingung auszuschließen, dass die Gesellschaft innerhalb eines Zeitraums von höchstens sechs Monaten ab Rechtskraft des Urteils an den Beklagten eine im Ermessen des Gerichts liegende Abfindung zu zahlen hat.3

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers und der Nebenintervenientin hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers, mit der er seine Klageanträge weiterverfolgt.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Entscheidung ergeht durch Versäumnisurteil, da der Beklagte in der mündlichen Verhandlung trotz rechtzeitiger Ladung zum Termin nicht ordnungsgemäß vertreten war. Sie beruht aber inhaltlich auf einer Sachprüfung (vgl. BGH, Urteil vom 4. April 1962 – V ZR 110/60, BGHZ 37, 79, 81).5

I. Das Berufungsgericht (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, NZG 2021, 1213) hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:6

Die Ausschließungsklage setze voraus, dass die Nebenintervenientin die Abfindung des Beklagten aus ihrem freien, ungebundenen Vermögen zahlen könne. Zwar sei nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die nicht auf eine Satzungsregelung gestützte Ausschließung eines Gesellschafters auch dann möglich, wenn die Gesellschaft die Abfindung nicht aus freiem, ungebundenem Vermögen zahlen könne, weil das Urteil dahingehend bedingt werde, dass der ausgeschiedene Gesellschafter von der Gesellschaft den im Ausschließungsurteil festzusetzenden Abfindungsbetrag binnen einer ebenfalls im Urteil zu bestimmenden Frist ausbezahlt erhalte. Nachdem aber der Bundesgerichtshof im Fall einer durch Beschluss der Gesellschafter auf Grundlage einer Satzungsregelung vorgenommenen Einziehung entschieden habe, dass die Einziehung bereits vor Zahlung des Abfindungsentgelts wirksam und vollziehbar werde, sei die Übertragung dieser Rechtsprechung auf den Fall der Ausschließung ohne statutarische Regelung angezeigt. Auch wenn das Wirksamwerden des den Ausschluss aussprechenden Gestaltungsurteils damit nicht von der Zahlung der Abfindung an den auszuschließenden Gesellschafter abhänge, müsse das Urteil jedoch die Kapitalerhaltungspflicht des § 30 Abs. 1 GmbHG berücksichtigen und sicherstellen, dass ein Ausschluss nur ausgesprochen werde, wenn nicht schon bei Urteilserlass feststehe, dass die an den auszuschließenden Gesellschafter zu zahlende Abfindung nicht aus dem freien Vermögen der Gesellschaft aufgebracht werden könne. Von diesen Grundsätzen ausgehend könne im vorliegenden Fall die Nebenintervenientin den nach dem Klägervortrag dem Beklagten zustehenden Abfindungsbetrag in Höhe von 2.839.456,65 € nicht aus ihrem freien Vermögen zahlen, selbst wenn man die von ihr vorgetragenen korrigierten Jahresergebnisse zugrunde lege. Die Zusage des Klägers, die Nebenintervenientin mit dem zur Auszahlung der Abfindung notwendigen Betrag auszustatten, sei nicht entscheidungserheblich, solange es in der Gesellschaft an dem für die Abfindung erforderlichen Kapital fehle.7

II. Das Berufungsurteil hält in einem Punkt revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.8

1. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Klage nicht mangels Bestimmtheit des Klageantrags unzulässig, weil der Kläger im Hauptantrag zwei Satzteile mit dem Wort „oder“ verknüpft hat, wodurch unklar bleibe, in welchem Verhältnis Ausschließung, Einziehung und Befugnis zur Abtretung des Geschäftsanteils zueinander stünden. Bei der Auslegung des Klageantrags ist im Zweifel wegen des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz und rechtliches Gehör das als gewollt anzusehen, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage der erklärenden Partei entspricht (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 3. August 2021 – II ZR 123/20, BGHZ 231, 17 Rn. 11 mwN). Im Wege gebotener Auslegung ist danach dem Hauptantrag hinreichend zu entnehmen, dass der Kläger die Ausschließung des Beklagten aus der Nebenintervenientin beantragt und darüber hinaus die Rechtsmacht über die Verwertung des GeschäftsanteilsBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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erlangen will, die entweder durch Einziehung oder Abtretung erfolgen soll. Es mag grammatikalisch möglich sein, den Antrag so zu verstehen, dass der Kläger isoliert für befugt erklärt werden soll, die Abtretung des Geschäftsanteils des Beklagten an sich, die Gesellschaft oder einen Dritten herbeizuführen, wie der Beklagte meint. Dies widerspräche jedoch erkennbar dem Interesse des Klägers, weil die Verwertung des GeschäftsanteilsBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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die Ausschließung des Beklagten aus der Nebenintervenientin voraussetzt. Ebenso wenig bestehen Unklarheiten in Bezug auf das beanspruchte Wahlrecht des Klägers, das sich auf das Verhältnis von Einziehung zur Befugnis zur Abtretung des Geschäftsanteils bezieht und nicht, wie vom Beklagten erwogen, auf die Zahlung einer Abfindung oder die Einräumung der Befugnis.9

2. Der Kläger ist für die im eigenen Namen erhobene Ausschließungsklage prozessführungsbefugt. Die Prozessführungsbefugnis ist eine Prozessvoraussetzung, die in jeder Lage des Verfahrens und auch in der Revisionsinstanz vorliegen muss (BGH, Urteil vom 19. Dezember 2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 276 Rn. 9; Urteil vom 25. Januar 2022 – II ZR 50/20, BGHZ 232, 275 Rn. 8).10

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Ausschließungsklage grundsätzlich von der GmbH zu erheben (BGH, Urteil vom 1. April 1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 177; Urteil vom 17. Februar 1955 – II ZR 316/53, BGHZ 16, 317, 322). Ob in einer Zwei-Personen-GmbH den Gesellschaftern ein Klagerecht zur Ausschließung des jeweils anderen zusteht, konnte der Bundesgerichtshof bisher offenlassen (BGH, Urteil vom 1. April 1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 177).11

aa) Überwiegend wird angenommen, dass in einer Zwei-Personen-GmbH jeder Gesellschafter persönlich eine Ausschließungsklage gegen den Mitgesellschafter anstrengen kann (Ensthaler in Ensthaler/Füller/Schmidt, GmbHG, 2. Aufl., § 34 Rn. 26; Fleischer in Henssler/Strohn, GesR, 5. Aufl., § 34 GmbHG Rn. 31; Görner in Rowedder/Pentz, GmbHG, 7. Aufl., § 34 Rn. 93; Kersting in Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl., Anhang nach § 34 Rn. 8a; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 21. Aufl., § 34 Rn. 124;Klingsch in Saenger/Inhester, GmbHG, 4. Aufl., Anhang zu § 34 Rn. 16;Sandhaus in Gehrlein/ Born/Simon, GmbHG, 5. Aufl., § 34 Rn. 83; BeckOK GmbHG/Schindler,Stand 1.9.2022, § 34 Rn. 144; Scholz/Seibt, GmbHG, 13. Aufl., Anhang § 34 Rn. 38; Sosnitza in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 4. Aufl., Anhang § 34 Rn. 28; MünchKommGmbHG/Strohn, 4. Aufl., § 34 Rn. 176; Ulmer/Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl., Anhang nach § 34 Rn. 33; Wicke, GmbHG, 4. Aufl., Anhang § 34 Rn. 5;Gehrlein, Ausschluss und Abfindung von GmbH-Gesellschaftern, 1997, Rn. 228; MünchHdBGesR III/Kort, 6. Aufl., § 29 Rn. 44, 52; Reher, Die Zweipersonen-GmbHNotwendigkeit eines Sonderrechts?, 2003, 146 ff.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 35 IV 2c, S. 1062 f.; Soufleros, Ausschließung und Abfindung, 1983, S. 71 ff.; Taetzner/Maul in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6. Aufl., § 14 Rn. 100;Battke, GmbHR 2008, 850, 854; Damrau-Schröter, NJW 1991, 1927, 1934; Eser, DB 1985, 29, 31; Eser, DStR 1991, 747, 749; Oppenländer, DStR 1996, 922, 927 f.; Wolf, ZGR 1998, 92, 106 ff.; U. H. Schneider, Festschrift Kellermann, 1991, 403, 416 f.; weitergehend: Fischer, Festschrift Walter Schmidt, 1959, 117, 133 f.; Joost, ZGR 1984, 71, 100 ff.).12

Begründet wird die Prozessführungsbefugnis zum Teil mit Praktikabilitätserwägungen (Kersting in Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl., Anhang nach § 34 Rn. 8a; Klingsch in Saenger/Inhester, GmbHG, 4. Aufl., Anhang zu § 34 Rn. 16;Battke, GmbHR 2008, 850, 854; Fischer, Festschrift Walter Schmidt, 1959, 117, 133 f.). Andere greifen die Grundsätze der actio pro socio bzw. deren Rechtsgedanken auf (Ensthaler in Ensthaler/Füller/Schmidt, GmbHG, 2. Aufl., § 34 Rn. 26; MünchKommGmbHG/Strohn, 4. Aufl., § 34 Rn. 176; Ulmer/Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl., Anhang nach § 34 Rn. 33; Sosnitza in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 4. Aufl., Anhang § 34 Rn. 28; Reher, Die Zweipersonen-GmbHNotwendigkeit eines Sonderrechts?, 2003, 147 f.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 35 IV 2c, S. 1062; Eser, DStR 1991, 747, 749).13

bb) Nach anderer Auffassung besteht kein Bedürfnis für eine vom allgemeinen Grundsatz abweichende unmittelbare Klagebefugnis des ausschließungswilligen Gesellschafters bei einer Zwei-Personen-GmbH (OLG NürnbergBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, BB 1970, 1371; Balz, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der GmbH, 1984, S. 47; Goette/Goette, Die GmbH, 3. Aufl., § 6 Rn. 12; Ganßmüller, GmbHR 1956, 145, 148; Goette, DStR 2001, 533, 534; Seydel, GmbHR 1953, 149, 150). Da über die Erhebung der Ausschließungsklage die Gesellschafterversammlung zu befinden habe und der betroffene Gesellschafter nicht stimmberechtigt sei, bestehe ein praktisches Bedürfnis allenfalls dann, wenn der auszuschließende Gesellschafter zugleich der einzige Geschäftsführer der GmbH sei (Goette, DStR 2001, 533, 534).14

cc) Der Senat schließt sich der überwiegenden Meinung an. Der Gesellschafter einer Zwei-Personen-GmbH kann unter den Voraussetzungen der actio pro socio die Ausschließungsklage erheben.15

(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann ein Gesellschafter einer GmbH berechtigt sein, einen Mitgesellschafter auf Leistung an die Gesellschaft in Anspruch zu nehmen, was namentlich dann in Betracht kommt, wenn dieser seine zwischen den Gesellschaftern bestehende Treuepflicht verletzt und durch eine damit verbundene Schädigung des Vermögens der Gesellschaft mittelbar auch dasjenige des klagenden Gesellschafters geschädigt hat (sog. actio pro socio, BGH, Urteil vom 5. Juni 1975 – II ZR 23/74, BGHZ 65, 15, 18 f.; Urteil vom 28. Juni 1982 – II ZR 199/81, ZIP 1982, 1203 f.; Urteil vom 14. Mai 1990 – II ZR 125/89, WM 1990, 1240, 1241; Urteil vom 29. November 2004 – II ZR 14/03, ZIP 2005, 320, 321; Urteil vom 22. Januar 2019 – II ZR 143/17,ZIP 2019, 1008 Rn. 10). Die Befugnis wurzelt im Gesellschaftsverhältnis und ist Ausfluss des Mitgliedschaftsrechts des Gesellschafters (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 26. April 2010 – II ZR 69/09, ZIP 2010, 1232 Rn. 3; Urteil vom 19. Dezember 2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 276 Rn. 11; Urteil vom 22. Januar 2019 – II ZR 143/17, ZIP 2019, 1008 Rn. 10; Urteil vom 25. Januar 2022 – II ZR 50/20, BGHZ 232, 275 Rn. 12).16

(2) Die Übertragung der Grundsätze der actio pro socio auf die Ausschließungsklage ist gerechtfertigt. Das Recht auf Ausschließung eines Gesellschafters hat seinen materiellen Grund in der gesellschafterlichen Treuepflicht (BGH, Urteil vom 1. April 1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 163; Urteil vom 20. September 1999 – II ZR 345/99, ZIP 1999, 1843, 1844 mwN). Die actio pro socio soll die Gesellschafter auch vor Beeinträchtigungen durch eine unrechtmäßige Einflussnahme auf die Geschäftsführung bei der Verfolgung von aus der gesellschafterlichen Treuepflicht erwachsenden Ansprüchen schützen (vgl. BGH, Urteil vom 8. November 2022 – II ZR 91/21, BGHZ 235, 57 Rn. 67). Diese Gefahr besteht auch bei Ausschließungsklagen, weil der oft intensiv geführte Streit zwischen den Gesellschaftern sich auf die Geschäftsführung der Gesellschaft und damit auch auf die Durchsetzung einer gebotenen Ausschließung auswirkt.17

b) Der Prozessführungsbefugnis des Klägers nach diesen Grundsätzen steht insbesondere nicht der Vorrang der inneren Zuständigkeitsordnung der GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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entgegen.18

aa) Gegenüber der Gesellschafterklage besteht grundsätzlich ein Vorrang der inneren Zuständigkeitsordnung der GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, der jedoch entfällt, wenn eine Klage der Gesellschaft undurchführbar, durch den Schädiger selbst vereitelt worden oder infolge der Machtverhältnisse der Gesellschaft so erschwert ist, dass es für den betroffenen Gesellschafter ein unzumutbarer Umweg wäre, müsste er die Gesellschaft erst zu einer Klage zwingen (BGH, Urteil vom 5. Juni 1975 – II ZR 23/74, BGHZ 65, 15, 21; Urteil vom 28. Juni 1982 – II ZR 199/81, ZIP 1982, 1203, 1204; Urteil vom 29. November 2004 – II ZR 14/03, ZIP 2005, 320, 321).19

bb) So liegt es hier. Im Zeitpunkt der Klageerhebung war die organschaftliche Vertretung der Nebenintervenientin Gegenstand mehrerer Gerichtsverfahren, in denen u.a. über die Abberufung des Rechtsvorgängers des Beklagten als Geschäftsführer sowie über die Bestellung neuer Geschäftsführer gestritten wurde. Weil die Parteien sich nicht auf einen neuen Geschäftsführer einigen konnten, bestellte das Amtsgericht – Registergericht – nach Klageerhebung im vorliegenden Rechtsstreit einen Notgeschäftsführer mit einem vornehmlich auf die Erstellung und Prüfung von Jahresabschlüssen sowie die Vertretung in Gerichtsprozessen beschränkten Aufgabenkreis. Beide Parteien haben hiergegen Beschwerde eingelegt.20

3. Soweit der Senat bisher die Ausschließung eines Gesellschafters durch Gestaltungsurteil an die Bedingung geknüpft hat, dass der betroffene Gesellschafter binnen einer im Urteil festzusetzenden angemessenen Frist den ebenfalls im Urteil zu bestimmenden Gegenwert für seinen Geschäftsanteil erhält (sog. Bedingungslösung; vgl. BGH, Urteil vom 1. April 1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157), hält er daran nicht mehr fest. Wird ein Gesellschafter wegen Vorliegens eines wichtigen Grundes ohne statutarische Regelung durch Urteil aus der GmbH ausgeschlossen, wird die Ausschließung des betroffenen Gesellschafters bereits mit Rechtskraft des Urteils wirksam und ist nicht durch die Leistung der Abfindung bedingt.21

a) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird die Einziehung des GeschäftsanteilsBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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bereits mit der Mitteilung eines entsprechenden Beschlusses an den betroffenen Gesellschafter wirksam, wenn der Einziehungsbeschluss weder nichtig ist noch für nichtig erklärt wird (BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rn. 13; Urteil vom 20. November 2018 – II ZR 12/17, BGHZ 220, 207 Rn. 25; Urteil vom 2. Juli 2019 – II ZR 406/17, BGHZ 222, 323 Rn. 46). Der Gesellschafter, dessen Geschäftsanteil eingezogen wird, muss allerdings davor geschützt werden, dass die verbleibenden Gesellschafter sich mit der Fortsetzung der Gesellschaft den wirtschaftlichen Wert seines Anteils aneignen und ihn aufgrund der gläubigerschützenden Kapitalerhaltungspflicht mit seinem Abfindungsanspruch leer ausgehen lassen. Die Gesellschafter haften daher dem ausgeschiedenen Gesellschafter anteilig auf Zahlung der Abfindung, wenn die Fortsetzung der Gesellschaft unter Verzicht auf Maßnahmen zur Befriedigung des Abfindungsanspruchs des ausgeschiedenen Gesellschafters als treuwidrig anzusehen ist (BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rn. 14, 21; Urteil vom 10. Mai 2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 186 Rn. 22 f.). Diese sog. Haftungslösung vermeidet die erheblichen Nachteile der Schwebelage, die nach der Bedingungslösung entsteht (kritisch zur Schwebelage bereits BGH, Urteil vom 30. Juni 2003 – II ZR 326/01, ZIP 2003, 1544, 1546). Dem ausgeschiedenen Gesellschafter bleiben während der Schwebezeit seine mitgliedschaftlichen Rechte jedenfalls grundsätzlich erhalten, obwohl es zumindest dann, wenn ein wichtiger Grund in seiner Person zur Einziehung geführt hat, der Gesellschaft und den verbleibenden Gesellschaftern gerade unzumutbar ist, dass er weiter in der Gesellschaft bleibt (BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rn. 15). Die Durchsetzung der berechtigt betriebenen Einziehung kann sogar scheitern, weil der betroffene Gesellschafter durch Wahrnehmung seiner grundsätzlich fortbestehenden Gesellschafterrechte die Auszahlung der Abfindung an ihn in dieser Schwebezeit obstruiert (Goette, Festschrift Lutter, 2001, S. 399, 405). Der ausgeschiedene Gesellschafter wird seinerseits in seinem berechtigten Interesse am Erhalt seiner Abfindung ausreichend durch die persönliche HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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der Gesellschafter geschützt (BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rn. 21 f.; Urteil vom 10. Mai 2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 186 Rn. 22 ff.).22

b) Diese Erwägungen lassen sich auf die Ausschließung eines Gesellschafters ohne statutarische Regelung durch Klage übertragen (Altmeppen, GmbHG, 11. Aufl., § 60 Rn. 99; Fleischer in Henssler/Strohn, GesR, 5. Aufl., § 34 GmbHG Rn. 31; Görner in Rowedder/Pentz, GmbHG, 7. Aufl., § 34 Rn. 92; Kersting in Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl., Anhang § 34 Rn. 14;Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 21. Aufl., § 34 Rn. 132; Klingsch in Saenger/Inhester, 4. Aufl., Anhang zu § 34 Rn. 16; Sosnitza in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 4. Aufl., Anhang § 34 Rn. 31; MünchKommGmbHG/Strohn, 4. Aufl., § 34 Rn. 186; Anacker, Der Schutz des Abfindungsinteresses des zwangsweise ausscheidenden GmbH-Gesellschafters, 2015, S. 346 f.; Goette/Goette, Die GmbH, 3. Aufl., § 6 Rn. 49; MünchHdBGesR III/Kort, 6. Aufl., § 29 Rn. 45; MAH GmbH-Recht/Römmermann/Passarge, 4. Aufl., § 14 Rn. 103; Witt in Gehrlein/Witt/Volmer, GmbH-Recht in der Praxis, 4. Aufl., Kap. 3 Rn. 50; Bayer in Festschrift Bergmann, 2018, S. 43, 60 f.; Schneider/Hoger, NJW 2013, 502, 504 f.; Staake, LMK 2012, 330924; Strohn, Festschrift Bergmann, 2018, S. 729, 741 f.; Tröger, VGR 2013, 23, 66 ff.; a.A. BeckOK GmbHG/Schindler, Stand 1.9.2022, § 34 Rn. 145.3; Scholz/Seibt, GmbHG, 13. Aufl., Anhang § 34 Rn. 46; Thiessen in Bork/Schäfer, GmbHG, 5. Aufl., § 34 Rn. 63; Ulmer/Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl., Anhang nach § 34 Rn. 37; Blath in Herrler, Gesellschaftsrecht in der Notar- und Gestaltungspraxis, 2. Aufl., § 6 Rn. 1558; Lutz, Der Gesellschafterstreit, 7. Aufl., Rn. 272b; Gehrlein, WM 2019, 1, 4; Klöckner, GmbHR 2012, 1325, 1327; Trölitzsch, KSzW 2016, 55, 57; offen: Sandhaus in Gehrlein/Born/Simon, 5. Aufl., § 34 Rn. 86 ff.; Wicke, GmbHG, 4. Aufl., Anhang § 34 Rn. 6).23

aa) Die bei der Bedingungslösung nach Rechtskraft des Urteils entstehende Schwebelage ist den übrigen Gesellschaftern in besonderem Maße unzumutbar, weil die Ausschließung, anders als die Einziehung, als äußerstes und letztes Mittel stets nur zulässig ist, wenn in der Person oder dem Verhalten des Gesellschafters ein wichtiger Grund vorliegt, mithin ein Verbleib des Gesellschafters in der Gesellschaft die gedeihliche Fortführung des Unternehmens in Frage stellen würde oder aus sonstigen Gründen die Fortsetzung des Gesellschaftsverhältnisses mit ihm für die übrigen Gesellschafter unzumutbar wäre (BGH, Urteil vom 1. April 1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 164; Urteil vom 17. Februar 1955 – II ZR 316/53, BGHZ 16, 317; Urteil vom 17. September 1964 – II ZR 136/62, WM 1964, 1188, 1191; Urteil vom 9. März 1987 – II ZR 215/86, GmbHR 1987, 302; MünchKommGmbHG/Strohn, 4. Aufl., § 34 Rn. 134). Liegen diese Voraussetzungen vor, besteht, anders als etwa in Fällen einer einvernehmlichen Einziehung (§ 34 Abs. 1 GmbHG), die erhöhte Gefahr, dass der Gesellschafter seine verbliebenen Gesellschafterrechte nutzt, um die gestaltende Wirkung des Urteils zu verzögern oder zu vereiteln.24

bb) Der Abfindungsanspruch des Gesellschafters wird auch bei einem mit Rechtskraft des Ausschließungsurteils wirksamen Ausscheiden ausreichend gesichert, nämlich zum einen durch das Gebot der Kapitalerhaltung und zum anderen durch die persönliche HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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der verbliebenen Gesellschafter ab dem Zeitpunkt, in dem die Fortsetzung der Gesellschaft unter Verzicht auf Maßnahmen zur Befriedigung des Abfindungsanspruchs des ausgeschiedenen Gesellschafters als treuwidrig anzusehen ist.25

(1) Das vorrangig gläubigerschützende Gebot der Kapitalerhaltung schützt auch den Auszuschließenden davor, seine Mitgliedschaft zu verlieren, wenn zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung feststeht, dass die Abfindung nicht ohne Verletzung von § 30 Abs. 1 GmbHG gezahlt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 1. April 1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 175; Urteil vom 4. August 2020 – II ZR 171/19, ZIP 2020, 1757 Rn. 31 mwN; zur Einziehung: MünchKommGmbHG/Strohn, 4. Aufl., § 34 Rn. 31).26

(a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt das Gebot der Kapitalerhaltung auch dann, wenn die Gesellschaft einen Gesellschafter ausschließen will. Geschieht das durch Beschluss der Gesellschafterversammlung aufgrund einer statutarischen Regelung, ist dieser entsprechend § 241 Nr. 3 AktG wegen Verstoßes gegen § 30 Abs. 1 GmbHG nichtig, wenn bereits bei Beschlussfassung feststeht, dass die Abfindung nicht aus freiem Vermögen gezahlt werden kann (BGH, Urteil vom 5. April 2011 – II ZR 263/08, ZIP 2011, 1104 Rn. 19; Urteil vom 4. August 2020 – II ZR 171/19, ZIP 2020, 1757 Rn. 31).27

(b) Diese Grundsätze gelten sinngemäß bei einer Ausschließung ohne Satzungsregelung. Steht fest, dass die geschuldete Abfindung nicht gezahlt werden kann, ist kein Grund dafür ersichtlich, warum sich ein Gesellschafter einer Ausschließung unterwerfen soll (BGH, Urteil vom 5. April 2011 – II ZR 263/08, ZIP 2011, 1104 Rn. 21). Dementsprechend kann auch ein die Ausschließung des Gesellschafters aussprechendes Gestaltungsurteil nicht ergehen, wenn zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung feststeht, dass die Abfindung nicht ohne Verletzung von § 30 Abs. 1 GmbHG gezahlt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 1. April 1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 175;Urteil vom 5. April 2011 – II ZR 263/08, ZIP 2011, 1104 Rn. 19; Urteil vom 4. August 2020 – II ZR 171/19, ZIP 2020, 1757 Rn. 31 mwN).28

(2) Darüber hinaus haften die verbliebenen Gesellschafter nach Wirksamwerden der Ausschließung persönlich für die Abfindung des ausgeschlossenen Gesellschafters ab dem Zeitpunkt, in dem die Fortsetzung der Gesellschaft unter Verzicht auf Maßnahmen zur Befriedigung des Abfindungsanspruchs des ausgeschiedenen Gesellschafters als treuwidrig anzusehen ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 186 Rn. 23). Durch diese Haftung wird der Abfindungsanspruch zwar nicht in vollem Umfang gegen Veränderungen der Vermögenslage der Gesellschaft geschützt; einen derartigen Schutz hätte der nach der Bedingungslösung in der Gesellschaft verbleibende Gesellschafter im Rahmen eines Liquidationsverfahrens aber ebenfalls nicht (BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rn. 22).29

cc) Die Ausschließung durch BeschlussBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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ist ebenfalls nicht durch die Zahlung einer Abfindung bedingt.30

Hat ein rechtmäßiger Ausschließungsbeschluss der Gesellschafterversammlung nach der Satzung der GmbH die Wirkung, dass der betroffene Gesellschafter seine Gesellschafterstellung mit sofortiger Wirkung verliert, tritt diese Wirkung unabhängig von der Zahlung der dem Gesellschafter zustehenden Abfindung ein (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 1960 – II ZR 22/59, BGHZ 32, 17, 23; Urteil vom 20. Juni 1983 – II ZR 237/82, NJW 1983, 2880, 2881; Urteil vom 30. Juni 2003 – II ZR 326/01, ZIP 2003, 1544, 1546; Beschluss vom 8. Dezember 2008 – II ZR 263/07, ZIP 2009, 314 Rn. 6; Urteil vom 5. April 2011 – II ZR 263/08, ZIP 2011, 1104 Rn. 21; Urteil vom 4. August 2020 – II ZR 171/19, ZIP 2020, 1757 Rn. 26). Die Gesellschafterstellung des Betroffenen lebt nicht wieder auf, wenn die Gesellschaft nicht in angemessener Frist die Einziehung des GeschäftsanteilsBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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beschließt oder seine Abtretung verlangt und nichts dazu tut, dass der Ausgeschlossene den Gegenwert seines Geschäftsanteils erlangt (BGH, Urteil vom 25. Januar 1960 – II ZR 22/59, BGHZ 32, 17, 23; Beschluss vom 8. Dezember 2008 – II ZR 263/07, ZIP 2009, 314 Rn. 6; Urteil vom 4. August 2020 – II ZR 171/19, ZIP 2020, 1757 Rn. 26). Im prozess über die Wirksamkeit des Ausschließungsbeschlusses kommt es daher nicht darauf an, dass lediglich die Ausschließung des Klägers beschlossen, nicht aber über seinen Geschäftsanteil Beschluss gefasst worden ist, und welchen Wert dieser Geschäftsanteil hat (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 1960 – II ZR 22/59, BGHZ 32, 17, 23; Beschluss vom 8. Dezember 2008 – II ZR 263/07, ZIP 2009, 314 Rn. 6; Urteil vom 4. August 2020 – II ZR 171/19, ZIP 2020, 1757 Rn. 26).31

dd) Auch die fehlende antizipierte Zustimmung zum Ausschluss ohne satzungsmäßige Regelung zwingt nicht zur Kopplung des Abfindungsanspruchs an die Wirksamkeit der Ausschließung.32

(1) Die Satzung einer GmbH kann den Ausschluss regeln und für den Fall des Ausschlusses eines Gesellschafters durch Gesellschafterbeschluss anordnen, dass der betroffene Gesellschafter seine Gesellschafterstellung mit sofortiger Wirkung verliert (BGH, Urteil vom 4. August 2020 – II ZR 171/19, ZIP 2020, 1757 Rn. 21 mwN). Zwar ist ein auf einer solchen Satzungsgrundlage auszuschließender Gesellschafter wegen seiner antizipierten Zustimmung grundsätzlich weniger schutzwürdig als ein Gesellschafter, der einer entsprechenden Satzungsregelung nicht zugestimmt hat (vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 2011 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rn. 16). Dem wird aber dadurch Rechnung getragen, dass letzterer nur durch Gestaltungsurteil aufgrund eines gerichtlichen Verfahrens, das für den Ausschluss als besonders einschneidende Maßnahme von vornherein klare Verhältnisse schaffen soll, aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden kann (BGH, Urteil vom 1. April 1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 166). Gleichzeitig gewährleistet das gerichtliche Verfahren damit gegenüber der Ausschließung durch Gesellschafterbeschluss dem auszuschließenden Gesellschafter besseren verfahrensrechtlichen Schutz vor einem unberechtigten Ausscheiden aus der Gesellschaft. Will ein Gesellschafter sich gegen einen auf einer Satzungsregelung beruhenden Ausschließungsbeschluss der Gesellschafterversammlung wehren, muss er selbst Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage erheben und, ggf. im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, der Gesellschaft verbieten lassen, eine neue Gesellschafterliste, in der er nicht mehr aufgeführt ist, bei dem Registergericht einzureichen (vgl. BGH, Urteil vom 2. Juli 2019 – II ZR 406/17, BGHZ 222, 323 Rn. 39).33

(2) In Bezug auf die hiervon zu trennende Frage, ob die sofortige Wirksamkeit der Ausschließung von der Zahlung der Abfindung abhängt, ist die Interessenlage aber in beiden Fällen gleich. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, der Gesellschafter gebe mit der Unterwerfung unter eine satzungsmäßige Regelung zu erkennen, für den Fall des Eintritts eines wichtigen Grundes dem Fortsetzungsinteresse der Gesellschaft bzw. der übrigen Gesellschafter gegenüber seinem Verbleib und seinem Interesse am sofortigen Erhalt der Abfindung den Vorzug zu geben (so Pentz in Festschrift Ulmer, 2003, 451, 467). Zum einen ist ein solcher – unterstellter – Wille in der Satzung nicht niedergelegt; zum anderen kann ein Gesellschafter auch bei Fehlen einer satzungsmäßigen Ausschließungsregelung angesichts des das Recht der Dauerschuldverhältnisse beherrschenden Grundsatzes, sich aus wichtigem Grund von diesem lösen zu können (vgl. §§ 314, 626, 723 BGB, §§ 117, 127, 133, 140 HGB), nicht berechtigt darauf vertrauen, in der Gesellschaft zu verbleiben, obwohl in seiner Person oder in seinem Verhalten ein wichtiger Grund für seinen Ausschluss vorliegt (vgl. Goette, DStR 2001, 533, 539; Strohn, Festschrift Bergmann, 2018, S. 729, 732 f.).34

4. Allerdings tragen die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht die Annahme, die Abfindung des Beklagten könne nicht aus freiem Vermögen der Nebenintervenientin gezahlt werden.35

a) Das Berufungsgericht ist unter Bezugnahme auf die landgerichtliche Entscheidung (§ 540 Abs. 1 ZPO) davon ausgegangen, die Zusage des Klägers, die Nebenintervenientin mit dem zur Auszahlung der Abfindung notwendigen Betrag auszustatten, sei nicht entscheidungserheblich, solange es in der Gesellschaft an dem für die Abfindung erforderlichen Kapital fehle. Ein im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorhandenes freies Vermögen der Nebenintervenientin zur Zahlung der vollständigen Abfindung habe es nicht feststellen können.36

b) Diese Auffassung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.37

aa) Für das im Gläubigerinteresse bestehende Auszahlungsverbot nach § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG gilt eine bilanzielle Betrachtungsweise. Auszahlungen an (ausgeschiedene) Gesellschafter dürfen nicht zur Entstehung oder Vertiefung einer Unterbilanz führen. Deren Vorliegen bestimmt sich nicht nach Verkehrswerten, sondern nach den Buchwerten einer stichtagsbezogenen Handelsbilanz; stille Reserven finden keine Berücksichtigung (BGH, Urteil vom 29. September 2008 – II ZR 234/07, ZIP 2008, 2217 Rn. 11; Urteil vom 5. April 2011 – II ZR 263/08, ZIP 2011, 1104 Rn. 17; Urteil vom 26. Juni 2018 – II ZR 65/16, ZIP 2018, 1540 Rn. 15; Urteil vom 26. Januar 2021 – II ZR 391/18, ZIP 2021, 459 Rn. 32).38

bb) Hat der Gesellschafter einer GmbH mit der Gesellschaft vereinbart, sie in der Weise auszustatten, dass die Zahlung der Abfindung an einen ausgeschiedenen Gesellschafter nicht zur Entstehung einer Unterbilanz führt, kann nach allgemeinen Grundsätzen (§ 42 GmbHG, §§ 242 ff. HGB) eine Forderung in der Handelsbilanz der Gesellschaft aktiviert werden.39

(1) Ein Gesellschafter kann sich causa societatis, über seine Verpflichtung zur Leistung seiner Einlage (§ 19 Abs. 1 GmbHG) hinausgehend, zur Erbringung weiterer Leistungen, etwa zu Sanierungszwecken in Form von Verlustanteilserhöhungen oder verlorenen Zuschüssen oder zu sonstigen freiwilligen finanziellen Zuwendungen, verpflichten. Diese Zusagen werden regelmäßig ohne unmittelbare Gegenleistung im Rechtssinne, wohl aber vor dem Hintergrund abgegeben, dass sich der Gesellschafter davon eine Stärkung der Gesellschaft und damit mittelbar eine Verbesserung seiner durch die Mitgliedschaft vermittelten Vermögenslage verspricht (BGH, Urteil vom 8. Mai 2006 – II ZR 94/05, ZIP 2006, 1199 Rn. 11 ff.). Dementsprechend begegnet es keinen Bedenken, wenn sich ein Gesellschafter, ggf. auch erst im Rahmen eines Prozesses, gegenüber der Gesellschaft dazu verpflichtet, sie so auszustatten, dass sie die Abfindungsforderung eines ausscheidenden Gesellschafters ohne Verstoß gegen § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG zahlen kann. Ein entsprechender Ausstattungsanspruch der Gesellschaft gegen ihren Gesellschafter kann in ihrer Bilanz nach allgemeinen Grundsätzen (§ 42 GmbHG, §§ 242 ff. HGB) aktiviert werden (vgl. MünchKommGmbHG/Ekkenga, 4. Aufl., § 30 Rn. 105; BeckOGK BGB/Harnos, Stand 1.5.2023, § 765 Rn. 668.2; Wittmann, GmbHR 2020, 191, 193 f.; vgl. zur Überschuldungsbilanz: BGH, Urteil vom 20. September 2010 – II ZR 296/08, BGHZ 187, 69 Rn. 17 f. – STAR 21; Urteil vom 13. Juli 2021 – II ZR 84/20, BGHZ 230, 255 Rn. 74).40

(2) Das Berufungsgericht hat bisher keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Ausstattungszusage des Klägers eine in der Bilanz der Nebenintervenientin im Zeitpunkt der Zahlung der Abfindung aktivierbare Forderung begründet. Nach seinen Feststellungen hat der Kläger im prozess erklärt, er werde der Nebenintervenientin – sollte über eine anderweitig gerichtlich verfolgte und in der Bilanz zu aktivierende Schadensersatzforderung gegen den früheren Geschäftsführer und Rechtsvorgänger des Beklagten noch nicht entschieden sein – den zur Auszahlung der Abfindung notwendigen Betrag im Wege einer Einlage rechtzeitig zur Verfügung stellen. Soweit die Revisionserwiderung in diesem Zusammenhang einwendet, es handele sich um keine rechtsverbindliche Vereinbarung zwischen Kläger und Nebenintervenientin, fehlt es an entsprechenden Feststellungen des Berufungsgerichts zum Rechtsbindungswillen und Vertragsabschluss nach §§ 145 ff. BGB.41

IV. Das Berufungsurteil ist danach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist, da der Rechtsstreit noch nicht zur Endentscheidung reif ist, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 ZPO), damit dieses ergänzende Feststellungen zur Aktivierbarkeit einer Forderung aus der Ausstattungszusage des Klägers in der Handelsbilanz der Nebenintervenientin im Zeitpunkt der Zahlung der Abfindung und zu den weiteren Voraussetzungen einer Ausschließung treffen kann.

V. Rechtsbehelfsbelehrung:42

Gegen dieses Versäumnisurteil kann die säumige Partei innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen, die mit der Zustellung des Versäumnisurteils beginnt, schriftlich Einspruch durch eine von einer beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwältin oder einem beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnete Einspruchsschrift beim Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45a, 76133 Karlsruhe (Postanschrift: 76125 Karlsruhe) einlegen.

Schlagworte: 2-Mann-GmbH, 2-Personen-Gesellschaft, 2-Personen-GmbH, 2-Personen-GmbH gesellschaftsvertrag, actio pro socio Ausschließungsklage, Ausschließen, Ausschließung, Ausschließung durch Beschluss, Ausschließung durch Gestaltungsurteil, Ausschließung in BGB-Gesellschaft, Ausschließungsklage, Ausschluss, Ausschluss BGB-Gesellschafter, Ausschluss der Ausschließung in der Satzung, Ausschluss des Gesellschafters, Ausschluss des Mehrheitsgesellschafters, Ausschluss Gesellschafter, Ausschluss GmbH-Gesellschafter, Ausschluss Kommanditist, Ausschluss Komplementär, Ausschluss OHG-Gesellschafter, Ausschluss- oder Einziehungsbeschluss, Ausschlussbeschluss aufgrund Satzungsgrundlage, Ausschlussgrund, Ausschlussklage, Ausschlussklauseln in Satzung, bei Gesamtbetrachtung aller Umstände ist Struktur der Zwei-Personen-GmbH zu berücksichtigen, Besonderheiten bei der Zwei-Personen-GmbH, Besonderheiten bei Konflikt zwischen zwei geschlossenen Fronten, Besonderheiten in der Zwei-Personen-Gesellschaft, Besonderheiten in Zwei-Personen-GmbH, Gesellschafterausschluss, Wenn zwei sich streiten, Wirksamkeit des Ausschließungsbeschlusses, Zwangseinziehung des Geschäftsanteils 5. Zwei-Personen-Gesellschaft Zwei Mann GmbH, Zwei Mann GmbH, Zwei Personen GmbH, Zwei-Personen-Gesellschaft

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BGH, Beschluss vom 1. August 2023 – VI ZR 191/22

Dienstag, 1. August 2023

Gehörsrüge

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 544 Abs. 9

Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Schadensersatzprozess.

Schlagworte: Art. 103 Abs. 1 GG, Gehörsrüge, Gehörsverstoß, GG Art. 103, rechtliches Gehör, Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs, Verletzung rechtlichen Gehörs

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BGH, Beschluss vom 27. Juli 2023 – I ZB 74/22 – Schiedsvereinbarung

Donnerstag, 27. Juli 2023

ZPO § 1032 Abs. 2 zu dem Thema Schiedsvereinbarung

Als Mindestvoraussetzung für einen zulässigen Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO muss eine konkrete Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien mit einem potenziell daraus erwachsenden Schiedsverfahren vorgetragen werden. Eine nur potenzielle oder zukünftige Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien genügt nicht.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 1. September 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als hinsichtlich des Antrags zu 2 zum Nachteil der Antragsgegnerin erkannt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird der Antrag zu 2 auf Feststellung, dass jegliches schiedsrichterliche Verfahren zwischen dem Antragsteller und der Antragsgegnerin auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 3 und 4 ECV unzulässig ist, als unzulässig verworfen.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller zu 40 % und die Antragsgegnerin zu 60 %.

Der Wert des Beschwerdegegenstands wird bis zum 4. Mai 2023 auf 30 Mio. € und danach auf 10 Mio. € festgesetzt.

Gründe

A. Der Antragsteller ist das Königreich der Niederlande (nachfolgend „Niederlande“). Die Antragsgegnerin hat ihren satzungsmäßigen Sitz in der Bundesrepublik Deutschland (nachfolgend „Deutschland“). Sie investiert unter anderem in die konventionelle Stromerzeugung aus Kohle.2

Die Antragsgegnerin sieht ihre Investitionen in das im Staatsgebiet des Antragstellers in M.     gelegene Kohlekraftwerk aufgrund der regulatorischen Entscheidung des Antragstellers, bis 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen, geschädigt. Sie reichte daher am 22. April 2021 mit zwei weiteren Schiedsklägerinnen einen Antrag auf Einleitung eines Schiedsverfahrens gegen den Antragsteller auf Grundlage des Energiecharta-Vertrags beim Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitions-Streitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes; nachfolgend „ICSID“ bzw. „Zentrum“) ein. Das Verfahren wurde zum Aktenzeichen ICSID ARB/21/22 registriert. Die Schiedsklägerinnen bezifferten ihre Ansprüche auf Hunderte von Millionen Euro. Mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2022 stellten die Schiedsklägerinnen einen Antrag auf Verfahrensbeendigung („discontinuance of the proceedings“), dem der Antragsteller mit Schriftsatz vom 6. Januar 2023 nicht entgegentrat. Mit Beschluss vom 17. März 2023 stellte das Schiedsgericht das Verfahren ein.3

Der Energiecharta-Vertrag ist ein multilaterales Abkommen zur Kooperation im Energiesektor, das von 49 Staaten sowie der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) ratifiziert wurde und am 16. April 1998 in Kraft trat. Seit diesem Tag ist der Energiecharta-Vertrag nach Zustimmung durch Gesetz vom 20. Dezember 1996 (BGBl. II 1997 S. 4) auch in Deutschland (BGBl. II 1998 S. 3009; nachfolgend „ECV“) und, nach Ratifikation am 11. Dezember 1997, in den Niederlanden in Kraft.4

In Art. 10 ECV sichern sich die Vertragsparteien die Förderung und den Schutz von Investitionen durch die Schaffung stabiler, gerechter, günstiger und transparenter Bedingungen für Investoren anderer Vertragsstaaten zu. In Art. 13 ECV wird unter anderem Schutz vor entschädigungslosen Enteignungen gewährt. Beide Regelungen finden sich in Teil III des Energiecharta-Vertrags. Nach Art. 26 ECV besteht für den Investor aus einem Vertragsstaat die Möglichkeit, einen anderen Vertragsstaat wegen möglicher Verletzungen des Energiecharta-Vertrags im Wege eines Schiedsverfahrens in Anspruch zu nehmen. Die Vorschrift lautet auszugsweise:

(1)     Streitigkeiten zwischen einer Vertragspartei und einem Investor einer anderen Vertragspartei über eine Investition des letzteren im Gebiet der ersteren, die sich auf einen behaupteten Verstoß der ersteren Vertragspartei gegen eine Verpflichtung aus Teil III beziehen, sind nach Möglichkeit gütlich beizulegen.
        
(2)     Können solche Streitigkeiten nicht innerhalb von drei Monaten nach dem Zeitpunkt, zu dem eine der Streitparteien um eine gütliche Beilegung ersucht hat, nach Absatz 1 beigelegt werden, so kann der Investor als Streitpartei die Streitigkeit auf folgende Weise beilegen lassen:
        
        a)    durch die Zivil- oder Verwaltungsgerichte der an der Streitigkeit beteiligten Vertragspartei;
        
        b)    im Einklang mit einem anwendbaren, zuvor vereinbarten Streitbeilegungsverfahren oder
        
        c)    im Einklang mit den folgenden Absätzen.
        
(3)     a)    Vorbehaltlich nur der Buchstaben b und c erteilt jede Vertragspartei hiermit ihre uneingeschränkte Zustimmung, eine Streitigkeit einem internationalen Schieds- oder Vergleichsverfahren in Übereinstimmung mit diesem Artikel zu unterwerfen. …
        
(4)     Beabsichtigt ein Investor, die Streitigkeit einer Beilegung nach Absatz 2 Buchstabe c zu unterwerfen, so hat er ferner schriftlich seine Zustimmung zu erteilen, damit die Streitigkeit folgenden Stellen vorgelegt werden kann:
        
        a) i) dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten, das im Rahmen des am 18. März 1965 in Washington zur Unterzeichnung aufgelegten Übereinkommens zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (im folgenden als „ICSID-Übereinkommen“ bezeichnet) errichtet wurde, falls sowohl die Vertragspartei des Investors als auch die an der Streitigkeit beteiligte Vertragspartei Vertragsparteien des ICSID-Übereinkommens sind, …
        
(5)     a)    Die Zustimmung nach Absatz 3 zusammen mit der schriftlichen Zustimmung des Investors nach Absatz 4 wird so angesehen, als erfülle sie das Erfordernis
        
        i)    der schriftlichen Zustimmung der Streitparteien im Sinne des Kapitels II des ICSID-Übereinkommens und im Sinne der Regeln für die Zusatzeinrichtung, …
        
(6)     Ein nach Absatz 4 gebildetes Schiedsgericht entscheidet über die strittigen Fragen in Übereinstimmung mit diesem Vertrag und den geltenden Regeln und Grundsätzen des Völkerrechts. …

Mit dem Übereinkommen vom 18. März 1965 zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (nachfolgend „ICSID-Übereinkommen“) wurde ein Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten errichtet, dessen Zweck es ist, nach Maßgabe des Übereinkommens Vergleichs- und Schiedseinrichtungen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Vertragsstaaten und Angehörigen anderer Vertragsstaaten zur Verfügung zu stellen (Art. 1 ICSID-Übereinkommen). Der Deutsche Bundestag stimmte dem ICSID-Übereinkommen mit Gesetz vom 25. Februar 1969 zu (BGBl. II S. 369; nachfolgend „InvStreitBeilG“); das Übereinkommen trat am 18. Mai 1969 in Kraft (BGBl. II S. 1191). Die Niederlande unterzeichneten das ICSID-Übereinkommen am 25. Mai 1966; es trat dort am 14. Oktober 1966 in Kraft.6

Der Antragsteller hat mit seinen am 10. Mai 2021 beim Oberlandesgericht eingegangenen Anträgen die Feststellung der Unzulässigkeit des zum Aktenzeichen ICSID ARB/21/22 eingeleiteten Schiedsverfahrens (Antrag zu 1) sowie jeglichen schiedsrichterlichen Verfahrens nach Art. 26 Abs. 3 und 4 ECV (Antrag zu 2) beantragt. Das Oberlandesgericht hat den Anträgen stattgegeben (OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, ZUR 2022, 684). Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin, mit der sie zunächst ihre zuletzt vor dem Oberlandesgericht gestellten Zurückweisungsanträge weiterverfolgt hat, bevor sie mit Schriftsatz vom 4. Mai 2023 abweichend von den Anträgen in der Rechtsbeschwerdebegründung beantragt hat, den angefochtenen Beschluss abzuändern und den Antrag zu 2 zurückzuweisen. Der Antragsteller beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.7

B. Das Oberlandesgericht hat seine Entscheidung – soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren relevant – wie folgt begründet:8

Der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten sei gemäß § 13 GVG in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO eröffnet. Die sachliche, örtliche und internationale Zuständigkeit folge aus § 1062 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 ZPO. Mangels inländischen Schiedsorts sei der Sitz der Antragsgegnerin maßgeblich, was die Zuständigkeit des Senats begründe. Der Antrag zu 2 sei zulässig und begründet. Die Zulässigkeit des Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO erfordere noch keinen konkreten Streitfall. Das allein erforderliche allgemeine Rechtsschutzbedürfnis sei gegeben.9

C. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit § 1065 Abs. 1 Satz 1, § 1062 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1, § 1032 Abs. 2 ZPO) und auch sonst zulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO). Sie erweist sich im Umfang des zulässig beschränkten Rechtsbeschwerdeantrags (dazu C I) auch als begründet. Der im Rechtsbeschwerdeverfahren allein noch zu überprüfende Antrag zu 2 ist unzulässig. Die deutschen Gerichte sind für die Entscheidung über den Antrag zwar international zuständig (dazu C II). Der Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit jeglichen schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen den Parteien ist aber entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts mangels einer vom Antragsteller behaupteten Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien unzulässig (dazu C III).10

I. Die Teilrücknahme durch die Beschränkung des Rechtsbeschwerdeantrags gemäß Schriftsatz vom 4. Mai 2023 ist zulässig.11

1. Die Beschränkung der Rechtsbeschwerde auf den Antrag zu 2 stellt eine Teilrücknahme der Rechtsbeschwerde dar. Da die Antragsgegnerin innerhalb der verlängerten Frist des § 575 Abs. 2 Satz 1 und 3, § 551 Abs. 2 Satz 6 ZPO die Entscheidung des Oberlandesgerichts zunächst vollumfänglich angefochten hat, handelt es sich insbesondere nicht um die erstmalige Bestimmung des Rechtsmittelumfangs (siehe dazu BGH, Beschluss vom 3. Juli 1968 – VIII ZB 26/68, NJW 1968, 2106 [juris Rn. 4]; zur Revision vgl. BGH, Urteil vom 13. April 2010 – XI ZR 197/09, BGHZ 185, 166 [juris Rn. 7]; MünchKomm.ZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl., § 516 Rn. 17).12

2. Für die (teilweise) Rücknahme der Rechtsbeschwerde gelten mangels besonderer Bestimmungen grundsätzlich die in § 516 ZPO normierten Regelungen zur Zurücknahme der Berufung entsprechend, sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt (vgl. MünchKomm.ZPO/Hamdorf aaO § 575 Rn. 23 und § 569 Rn. 23). Eine Zustimmung des Gegners ist damit, zumindest wenn die (Teil-)Rücknahme – wie hier – vor der mündlichen Verhandlung erklärt wird, nicht erforderlich.13

3. Die Teilrücknahme ist auch im Übrigen zulässig.14

a) Ein Rechtsmittel kann zwar nicht auf einzelne Rechtsfragen oder Anspruchselemente beschränkt werden, wohl aber auf einen tatsächlich und rechtlich selbständigen und damit abtrennbaren Teil des Gesamtstreitstoffs. Dafür reicht es aus, dass der von der Beschränkung betroffene Teil des Streits in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unabhängig von dem übrigen Prozessstoff beurteilt werden kann und kein Widerspruch zwischen dem noch zur Entscheidung stehenden und dem unanfechtbaren Teil des Streitstoffs auftreten kann (zur Beschränkung der Revisionszulassung vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juni 2019 – I ZR 91/18, juris Rn. 7 mwN).15

b) Danach ist die nach der Teilrücknahme auf den Antrag zu 2 als separaten Streitgegenstand beschränkte Rechtsbeschwerde zulässig. Insbesondere kann mit Blick auf die Frage der Statthaftigkeit eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO bei (drohenden) ICSID-Schiedsverfahren kein Widerspruch zu der aufgrund der Teilrücknahme rechtskräftigen Entscheidung des Oberlandesgerichts über den Antrag zu 1 auftreten, weil es um unterschiedliche Zeitpunkte geht. Der Antrag zu 1 betrifft ein bereits eingeleitetes Schiedsverfahren, bei dem Antrag zu 2 geht es dagegen um potenzielle zukünftige Schiedsverfahren.16

II. Die deutschen Gerichte sind gemäß § 1025 Abs. 2 ZPO für den Antrag zu 2 nach § 1032 Abs. 2 ZPO international zuständig.17

1. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist im Rechtsbeschwerdeverfahren von Amts wegen zu prüfen. Die Prüfung ist nicht durch § 576 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen; für das Rechtsbeschwerdeverfahren gilt nichts anderes als für das Revisionsverfahren, in dem § 545 Abs. 2 ZPO der Prüfung der internationalen Zuständigkeit nicht entgegensteht (vgl. BGH, Beschluss vom 13. August 2009 – I ZB 43/08, WRP 2009, 1559 [juris Rn. 10]; Beschluss vom 22. September 2016 – V ZB 125/15, RIW 2017, 138 [juris Rn. 8]; zu § 545 Abs. 2 ZPO vgl. nur BGH, Urteil vom 14. Juli 2022 – I ZR 121/21, GRUR 2022, 1675 [juris Rn. 29] = WRP 2022, 1519 – Google-Drittauskunft, mwN).18

2. Die internationale Zuständigkeit für den Antrag zu 2 nach § 1032 Abs. 2 ZPO ergibt sich im Streitfall aus der analogen Anwendung des § 1025 Abs. 2 ZPO.19

a) Nach § 1032 Abs. 2 ZPO kann bei Gericht bis zur Bildung des Schiedsgerichts Antrag auf Feststellung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines schiedsrichterlichen Verfahrens gestellt werden. Nach § 1025 Abs. 2 ZPO sind die Bestimmungen der §§ 1032, 1033 und 1050 ZPO auch dann anzuwenden, wenn der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens im Ausland liegt oder noch nicht bestimmt ist.20

b) Die Vorschrift des § 1025 Abs. 2 ZPO regelt damit die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für – unter anderem – das Verfahren nach § 1032 Abs. 2 ZPO (vgl. Geimer, IZPR, 8. Aufl., Rn. 1258 f.; MünchKomm.ZPO/Münch aaO § 1025 Rn. 18; Schlosser in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 1062 Rn. 4, § 1025 Rn. 6; Voit in Musielak/Voit, ZPO, 20. Aufl., § 1062 Rn. 1, § 1025 Rn. 5; aA Kröll, IHR 2005, 142, 144). Bei der Einbeziehung von § 1032 Abs. 2 ZPO in § 1025 Abs. 2 ZPO handelt es sich auch nicht um ein gesetzgeberisches Versehen. Zwar wird in der Gesetzesbegründung nur auf die Schiedseinrede in Klageverfahren vor den staatlichen Gerichten gemäß § 1032 Abs. 1 ZPO Bezug genommen (vgl. Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts vom 12. Juli 1996, BT-Drucks. 13/5274, S. 31). Ein damit möglicherweise intendierter Ausschluss von § 1032 Abs. 2 und 3 ZPO bei der Anwendung von § 1025 Abs. 2 ZPO hat im Gesetz aber keinen Niederschlag gefunden. Für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist jedoch der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgeblich, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Die vorrangig am objektiven Sinn und Zweck des Gesetzes zu orientierende Auslegung kann durch Motive, die im Gesetzgebungsverfahren dargelegt wurden, im Gesetzeswortlaut aber keinen Ausdruck gefunden haben, nicht gebunden werden (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juni 2019 – I ZR 67/18, GRUR 2019, 970 [juris Rn. 66] = WRP 2019, 1304 – Erfolgshonorar für Versicherungsberater, mwN).21

c) Die internationale Zuständigkeit deutscher Gericht folgt nicht bereits aus dem Wortlaut des § 1025 Abs. 2 ZPO. Das von der Antragsgegnerin eingeleitete Schiedsverfahren findet weder im Sinne dieser Vorschrift „im Ausland“ statt (Fall 1) noch ist der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens „noch nicht bestimmt“ (Fall 2).22

aa) Das Schiedsverfahren wurde von der Antragsgegnerin vor dem Zentrum eingeleitet. Der Sitz des Zentrums ist gemäß Art. 2 Satz 1 ICSID-Übereinkommen am Sitz der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und damit in Washington D.C., Vereinigte Staaten von Amerika (USA). Gemäß Art. 62 f. in Kapitel VII des ICSID-Übereinkommens finden vorbehaltlich anderweitiger Parteivereinbarungen am Sitz des Zentrums, das vom Schiedsgericht zu unterscheiden ist (vgl. Schöbener/Markert, ZVglRWiss 2006, 65, 73), die Schiedsverfahren statt.23

bb) Daraus folgt indes nicht, dass der für § 1025 Abs. 2 ZPO maßgebliche Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens in den USA und damit im Ausland liegt.24

Anders als die Bezeichnung von Kapitel VII des ICSID-Übereinkommens – „Ort des Verfahrens“ („Place of Proceedings“) – nahelegen könnte, wird in Art. 62 f. ICSID-Übereinkommen nur der Tagungsort als derjenige Ort geregelt, an dem das Schiedsgericht seine Verhandlungen faktisch abhält. Dieser Tagungsort ist nicht gleichzusetzen mit dem Schiedsort als dem Legaldomizil des Schiedsverfahrens, das der Verankerung des Schiedsverfahrens in einer bestimmten Rechtsordnung dient (vgl. BT-Drucks. 13/5274, S. 47; BeckOK.ZPO/Wilske/Markert, 48. Edition [Stand 1. März 2023], § 1043 Rn. 1; MünchKomm.ZPO/Münch aaO § 1043 Rn. 3 und 5; Zöller/Geimer, ZPO, 34. Aufl., § 1043 Rn. 1 und 4).25

Das entspricht der ganz überwiegenden Ansicht in der nationalen sowie internationalen Literatur zum ICSID-Übereinkommen. Danach finden Investor-Staat-Schiedsverfahren nach diesem Übereinkommen delokalisiert statt (vgl. Kern, Schiedsgericht und Generalklausel, 2017, S. 62, 78; Bertolini, Die Durchsetzung von ISDS-Entscheidungen in Deutschland, 2019, S. 92; Köster, Investitionsschutz in Europa, 2022, S. 16 f.; Schütze/Thümmel, Schiedsgericht und Schiedsverfahren, 7. Aufl., § 25 Rn. 6; Happ in Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl., XV. Kapitel, Abschnitt II Rn. 13, Abschnitt IV Rule 13 ICSID Arbitration Rules Rn. 5; Sasson in Fouret/Gerbay/Alvarez, The ICSID Convention, Regulations and Rules, A Practical Commentary, Art. 62 Rn. 7.03 f.; Schütze in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl., § 1025 Rn. 56b; Gaillard, ICSID Review – Foreign Investment Law Journal 1988, 136, 138 f.; Berger, SchiedsVZ 2017, 282, 289; von Marschall, RIW 2021, 785, 787; Nikolov, EuR 2022, 496, 501; Seelmann-Eggebert, SchiedsVZ 2023, 32, 35 f.; aA Semler, SchiedsVZ 2003, 97, 101).26

Bei den von ICSID-Schiedsgerichten erlassenen Schiedssprüchen handelt es sich daher weder um inländische noch um ausländische Schiedssprüche im Sinne der §§ 1060 f. ZPO, sondern um Schiedssprüche sui generis (vgl. Semler, SchiedsVZ 2003, 97, 99; von Marschall, RIW 2021, 785, 787). Entgegen dem in der Handelsschiedsgerichtsbarkeit geltenden Grundsatz, dass es keine von jeder nationalen Rechtsordnung losgelösten privaten Schiedsverfahren gibt (vgl. Geimer aaO Rn. 3718 mwN; MünchKomm.ZPO/Münch aaO § 1025 Rn. 11; Schütze in Wieczorek/Schütze aaO § 1043 Rn. 6 f.), kommt es in einer Investitionsstreitigkeit vor dem Zentrum ausnahmsweise zu einem anationalen Schiedsverfahren (Köster aaO S. 16 f.).27

cc) Es liegt auch kein Fall eines „noch nicht bestimmten“ Schiedsorts vor (§ 1025 Abs. 2 Fall 2 ZPO). Die Formulierung „noch nicht bestimmt“ spricht für einen nur vorübergehenden Zustand. Nach § 1043 Abs. 1 Satz 1 ZPO können die Parteien eine Vereinbarung über den Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens treffen. Fehlt eine solche Vereinbarung, so wird der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens vom Schiedsgericht bestimmt (§ 1043 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Bis zu einer solchen Bestimmung besteht ein Schwebezustand ohne die Möglichkeit einer territorialen Anknüpfung. Für diesen Schwebezustand gilt die Regelung in § 1025 Abs. 2 Fall 2 ZPO (vgl. MünchKomm.ZPO/Münch aaO § 1025 Rn. 24).28

Ein solcher – vorübergehender – Schwebezustand liegt im Streitfall nicht vor. Bei einem ICSID-Schiedsverfahren wird kein Schiedsort, sondern allein ein Tagungsort bestimmt. Eine spätere Bestimmung des Schiedsorts durch das Schiedsgericht scheidet damit von vornherein aus.29

d) Die Regelung des § 1025 Abs. 2 ZPO ist aber, jedenfalls soweit sie auf die Bestimmung des § 1032 ZPO verweist, entsprechend anzuwenden, wenn es keinen inländischen Schiedsort gibt (ähnlich BeckOK.ZPO/Wolf/Eslami, 48. Edition [Stand 1. September 2022], § 1032 Rn. 39; ablehnend BeckOK.ZPO/Wilske/Markert aaO § 1062 Rn. 2.4 mwN).30

aa) Die analoge Anwendung einer Vorschrift setzt eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage voraus (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 7. November 2019 – I ZR 42/19, GRUR 2020, 429 [juris Rn. 32] = WRP 2020, 452 – Sportwetten in Gaststätten, mwN). Diese Voraussetzungen sind erfüllt.31

bb) Soweit die delokalisierten und damit anationalen ICSID-Investitionsschiedsverfahren vom Gesetzeswortlaut nicht erfasst werden, ergibt sich eine planwidrige Regelungslücke. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber diese besondere Konstellation aus dem 10. Buch der Zivilprozessordnung ausgrenzen wollte.32

(1) Nach § 1025 Abs. 1 ZPO sind die Vorschriften des 10. Buchs der Zivilprozessordnung anzuwenden, wenn der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens im Sinne des § 1043 Abs. 1 ZPO in Deutschland liegt. Für einige Vorschriften des 10. Buchs der Zivilprozessordnung, unter anderem die Schiedseinrede nach § 1032 Abs. 1 ZPO sowie das hier maßgebliche Feststellungsverfahren nach § 1032 Abs. 2 ZPO, eröffnet die Vorschrift des § 1025 Abs. 2 ZPO – wie bereits dargestellt – einen darüber hinausgehenden Anwendungsbereich, wenn der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens im Ausland liegt oder noch nicht bestimmt ist (vgl. Schlosser in Stein/Jonas aaO § 1062 Rn. 4, § 1025 Rn. 6; Voit in Musielak/Voit aaO § 1025 Rn. 5 bis 7).33

(2) Mit den sich danach aus § 1025 Abs. 1 und 2 ZPO ergebenden drei Fallgruppen – „Schiedsort in Deutschland“, „Schiedsort im Ausland“ und „Schiedsort noch nicht bestimmt“ – waren für die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit im Sinne des als Grundlage für die Schiedsverfahrensreform dienenden UNCITRAL-Modellgesetzes (vgl. BT-Drucks. 13/5274, S. 24; zum Anwendungsbereich des Modellgesetzes vgl. Melis in Kronke/Melis/Kuhn, Handbuch Internationales Wirtschaftsrecht, 2. Aufl., Teil P Rn. 230) alle denkbaren Konstellationen erfasst.34

(3) Der deutsche Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, das 10. Buch der Zivilprozessordnung über den Anwendungsbereich des UNCITRAL-Modellgesetzes hinaus auf alle Schiedsverfahren auszudehnen (vgl. BT-Drucks. 13/5274, S. 25 und 31). Damit sind alle nationalen und internationalen privatrechtlichen – und nicht nur die handelsrechtlichen – Schiedsverfahren erfasst (vgl. Kulick/Scheu in Fouret, Enforcement of Investment Treaty Arbitration Awards, 2. Aufl., S. 385, 389; Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl., Rn. 190; MünchKomm.ZPO/Münch aaO Vorb. zu § 1025 Rn. 23 f., § 1029 Rn. 93). Trotz ihres engen Bezugs zum Völkerrecht gehört hierher als Sonderform auch die internationale Investitionsschiedsgerichtsbarkeit zwischen privaten Investoren und Staaten (zu Schiedsverfahren aufgrund eines bilateralen Investitionsschutzabkommens vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2016 – I ZB 2/15, SchiedsVZ 2016, 328 [juris Rn. 15]; Beschluss vom 31. Oktober 2018 – I ZB 2/15, SchiedsVZ 2019, 46 [juris Rn. 16]; Beschluss vom 17. November 2021 – I ZB 16/21, IWRZ 2022, 129 [juris Rn. 8, 34]; Raeschke-Kessler in Prütting/Gehrlein, ZPO, 14. Aufl., § 1061 Rn. 11; Köster aaO S. 30; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl., Kapitel 41 Rn. 22 mwN; vgl. auch BeckOK.ZPO/Wolf/Eslami aaO § 1025 Rn. 9a mwN; MünchKomm.ZPO/Münch aaO Vorb. zu § 1025 Rn. 18 bis 22), zu der auch die ICSID-Investitionsschiedsverfahren zählen (vgl. Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht, 13. Aufl., § 23 Rn. 97; Kern aaO S. 66 bis 88; Schöbener/Markert, ZVglRWiss 2006, 65, 68 bis 70 mwN; offen Schwab/Walter aaO Kapitel 41 Rn. 5, Fn. 42; aA Raeschke-Kessler in Festschrift Schlick, 2015, S. 57 f., 75; insgesamt dazu Pirrung, Die Schiedsgerichtsbarkeit nach dem Weltbankübereinkommen für Investitionsstreitigkeiten, 1972, S. 183 bis 192 mwN).35

(4) Der Gesetzgeber hat mit der Änderung von Art. 2 Abs. 2 InvStreitBeilG im Zuge der Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts durch Gesetz vom 22. Dezember 1997 (BGBl. I S. 3224) auch keine abschließende Regelung für ICSID-Verfahren treffen wollen.36

Erklärte die Vorschrift vor der Reform des Schiedsverfahrensrechts für das Verfahren über den Antrag, die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus einem ICSID-Schiedsspruch festzustellen, die Vorschriften über das Verfahren bei der Vollstreckbarerklärung inländischer Schiedssprüche, die gemäß § 1044 Abs. 1 Satz 1 ZPO aF auch für ausländische Schiedssprüche galten, für entsprechend anwendbar, sind auf das Verfahren nunmehr ausdrücklich die Vorschriften über das Verfahren der Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche (§ 1025 Abs. 4, §§ 1061 bis 1065 ZPO) entsprechend anzuwenden.37

Diese Änderung stellt lediglich eine von vielen notwendigen Folgeanpassungen von bereits bestehenden Regelungen an die Neuregelung des 10. Buchs der Zivilprozessordnung dar (vgl. BT-Drucks. 13/5274, S. 68). Sie ändert nichts daran, dass Art. 2 InvStreitBeilG nach wie vor allein die postarbitrale Phase nach Erlass des Schiedsspruchs regelt und die insoweit angeordnete entsprechende Anwendung von Vorschriften des 10. Buchs der Zivilprozessordnung nur die Vollstreckung von ICSID-Schiedssprüchen betrifft. Aussagen zur (Nicht-)Anwendbarkeit von § 1025 Abs. 2 ZPO (und § 1032 Abs. 2 ZPO) bei ICSID-Schiedsverfahren lassen sich dem, zumal unter Berücksichtigung der bewussten Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs des 10. Buchs der Zivilprozessordnung über das UNCITRAL-Modellgesetz hinaus auf alle Schiedsverfahren (vgl. BT-Drucks. 13/5274, S. 25 und 31), nicht entnehmen.38

(5) Jedenfalls für das hier zur Entscheidung stehende Feststellungsverfahren nach § 1032 Abs. 2 ZPO zeigt sich die insoweit vorhandene Regelungslücke des § 1025 Abs. 2 ZPO auch bei einem Blick auf die Regelungen der örtlichen Zuständigkeit in § 1062 Abs. 1 und 2 ZPO, die mit der Abgrenzung allein vom inländischen Schiedsort einen im Grundsatz globalen Anwendungsbereich eröffnen.39

Die Vorschrift des § 1062 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 ZPO regelt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts, das in der Schiedsvereinbarung bezeichnet ist oder, wenn eine solche Bezeichnung fehlt, in dessen Bezirk der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens liegt, für Entscheidungen über Anträge betreffend die Feststellung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines schiedsrichterlichen Verfahrens (§ 1032 ZPO). Besteht in diesem Fall kein deutscher Schiedsort, so ist für die Entscheidungen das Oberlandesgericht zuständig, in dessen Bezirk der Antragsgegner seinen Sitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat oder sich Vermögen des Antragsgegners oder der mit der Schiedsklage in Anspruch genommene oder von der Maßnahme betroffene Gegenstand befindet, hilfsweise das Kammergericht (§ 1062 Abs. 2 ZPO).40

Diese Regelung spricht unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens der Doppelfunktionalität der örtlichen Zuständigkeit dafür, dass § 1025 Abs. 2 ZPO für die internationale Zuständigkeit – wie § 1062 Abs. 2 ZPO für die örtliche Zuständigkeit – trotz des positiv anknüpfenden Wortlauts („im Ausland“, „noch nicht bestimmt“) immer dann (entsprechend) anwendbar ist, wenn „kein deutscher Schiedsort“ besteht.41

Die internationale Zuständigkeit ergibt sich im Zweifel, wenn besondere Zuständigkeitsregeln fehlen, mittelbar aus den Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit (so genannte „Doppelfunktionalität“; zu § 32 ZPO vgl. BGH, Urteil vom 28. Juni 2007 – I ZR 49/04, BGHZ 173, 57 [juris Rn. 23] – Cambridge Institute, mwN; allgemein Roth in Stein/Jonas aaO Vor § 12 Rn. 32, 32b; Zöller/Schultzky aaO § 1 Rn. 8). Soweit nach diesen Vorschriften ein deutsches Gericht örtlich zuständig ist, ist es nach deutschem Recht auch international zuständig (vgl. MünchKomm.ZPO/Patzina aaO § 12 Rn. 90).42

§ 1025 Abs. 2 ZPO enthält zwar eine besondere Vorschrift für die internationale Zuständigkeit. Die Regelung ist aber im Einklang mit § 1062 Abs. 2 ZPO auszulegen. Sieht § 1062 Abs. 2 ZPO in Fällen, in denen – wie hier – „kein deutscher Schiedsort“ besteht, für das Feststellungsverfahren des § 1032 Abs. 2 ZPO grundsätzlich hilfsweise eine örtliche Zuständigkeit des Kammergerichts vor, offenbart eine für diesen Fall fehlende internationale Zuständigkeit eine planwidrige Regelungslücke.43

cc) Das Merkmal der vergleichbaren Interessenlage erfordert die Annahme, dass der Gesetzgeber bei einer Interessenabwägung nach den Grundsätzen, von denen er sich bei Erlass der herangezogenen Normen hat leiten lassen, zum gleichen Abwägungsergebnis gekommen wäre (BGH, GRUR 2020, 429 [juris Rn. 34] – Sportwetten in Gaststätten). So liegt es hier.44

Nach dem Willen des Gesetzgebers, der sich im Gesetzeswortlaut manifestiert hat, sollten die deutschen Gerichte in den in § 1025 Abs. 2 ZPO aufgeführten Fällen auch dann angerufen werden können, wenn das Schiedsverfahren im Ausland stattfindet (vgl. BT-Drucks. 13/5274, S. 31). Das darin zum Ausdruck kommende Interesse an einer globalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte in den genannten Fällen ist bei delokalisierten Schiedsverfahren nach dem ICSID-Übereinkommen ebenso gegeben wie bei Schiedsverfahren mit Schiedsort im Ausland. Das zeigt sich insbesondere an der in der Gesetzesbegründung ausdrücklich in Bezug genommenen Regelung des § 1032 Abs. 1 ZPO zur Schiedseinrede in Klageverfahren vor dem staatlichen Gericht. Diese Einrede mit der möglichen Folge der Unzulässigkeit der Klage wird im Fall von ICSID-Schiedsverfahren ebenfalls erst über eine entsprechende Geltung des § 1025 Abs. 2 ZPO eröffnet. Könnte die Einrede der (ICSID-)Schiedsvereinbarung vor dem staatlichen Gericht mangels Anwendbarkeit des § 1032 Abs. 1 ZPO (über § 1025 Abs. 2 ZPO) nicht zur Unzulässigkeit der Klage führen, widerspräche das dem Sinn und Zweck von Schiedsvereinbarungen auch im Anwendungsbereich des ICSID-Übereinkommens.45

III. Der Antrag zu 2 ist bereits mangels einer vom Antragsteller behaupteten Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien unzulässig. Auf die Frage, ob ein Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO im Kontext eines ICSID-Schiedsverfahrens statthaft ist, kommt es damit im Streitfall nicht an.46

1. Das Oberlandesgericht hat angenommen, es sei unerheblich, dass bislang nur das Schiedsverfahren ICSID ARB/21/22 vorliege, das durch Annahme des Angebots gemäß Art. 26 Abs. 3 ECV eingeleitet worden sei. Es sei ferner unerheblich, dass eine Schiedsvereinbarung erst zustande komme, wenn die Antragsgegnerin das „stehende Angebot“ gemäß Art. 26 Abs. 3 ECV annehme, was diese in Bezug auf weitere Streitigkeiten in Abrede stelle. Aufgrund der derzeit noch geltenden Regelung des „stehenden“ Schiedsverfahrensangebots des Antragstellers im Energiecharta-Vertrag könne die Antragsgegnerin jederzeit die Annahme erklären und dadurch ein Schiedsverfahren auf unionsrechtlich unwirksamer Basis in Gang setzen. Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.47

2. Im Rahmen eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO prüft das staatliche Gericht, ob eine wirksame Schiedsvereinbarung besteht, diese durchführbar ist und der Gegenstand des Schiedsverfahrens der Schiedsvereinbarung unterfällt (BGH, Beschluss vom 19. September 2019 – I ZB 4/19, SchiedsVZ 2020, 50 [juris Rn. 11]). Aus diesem Prüfungsumfang folgt, dass als Mindestvoraussetzung für einen zulässigen Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO eine Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien vorgetragen werden muss (vgl. Anders in Anders/Gehle, ZPO, 81. Aufl., § 1032 Rn. 3; BeckOK.ZPO/Wolf/Eslami aaO § 1032 Rn. 2; Schlosser in Stein/Jonas aaO § 1032 Rn. 38). Eine nur potenzielle oder zukünftige Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien genügt nicht.48

Streitig ist, wie weit im Vorfeld eines konkreten Schiedsverfahrens der Antrag statthaft ist, insbesondere, ob sich ein gegenständlich abgrenzbares individualisierbares Schiedsverfahren abzeichnen muss (so OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG München
, Beschluss vom 26. August 2015 – 34 SchH 2/14, juris Rn. 20, 22; Saenger/Saenger, ZPO, 9. Aufl., § 1032 Rn. 14; Hilger, NZG 2003, 575, 576; vgl. auch Schlosser in Stein/Jonas aaO § 1032 Rn. 38, 40; Spohnheimer in Festschrift Käfer, 2009, S. 357, 366), oder ob eine abstrakte Überprüfung der Gültigkeit vertraglicher Schiedsklauseln möglich ist (so KG, SchiedsVZ 2012, 337, 338; OLG FrankfurtBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Frankfurt
, SchiedsVZ 2015, 47 [juris Rn. 21 f.]; BeckOK.ZPO/Wolf/Eslami aaO § 1032 Rn. 6, 26 bis 32; MünchKomm.ZPO/Münch aaO § 1032 Rn. 33; Voit in Musielak/Voit aaO § 1032 Rn. 12; Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 44. Aufl., § 1032 Rn. 5).49

3. Diese Streitfrage bedarf hier keiner Entscheidung. Der Antrag zu 2 ist unzulässig, weil es schon an einer vom Antragsteller behaupteten (und möglicherweise unwirksamen) Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien fehlt.50

Im Streitfall liegt allein das so genannte „stehende Angebot“ gemäß Art. 26 Abs. 3 ECV des Antragstellers vor. Die Annahme dieses Angebots durch die Antragsgegnerin mit der Einreichung des Schiedsantrags im Verfahren ICSID ARB/21/22 hat nicht eine jegliche Streitigkeit aus dem Energiecharta-Vertrag erfassende Schiedsvereinbarung begründet.51

Soweit der Antragsteller vorbeugend geklärt wissen möchte, dass die Antragsgegnerin durch eine mögliche zukünftige Annahme des „stehenden Angebots“ – hinsichtlich eines anderen Streitgegenstands – keine wirksame Schiedsvereinbarung herbeiführen kann, betrifft diese Fragestellung keine konkrete Schiedsvereinbarung mit einem potenziell daraus erwachsenden Schiedsverfahren, sondern lediglich eine potenzielle Schiedsvereinbarung und ist mithin nicht vom Prüfungsumfang eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO umfasst.52

4. Von der Mindestvoraussetzung einer jedenfalls behaupteten Schiedsvereinbarung kann nicht mit Blick auf die Besonderheiten von Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahrens abgesehen werden. Der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 11. November 2015 – C-505/14, EuZW 2016, 57 [juris Rn. 40 f.] – Klausner Holz; Urteil vom 5. März 2019 – C-349/17, EuZW 2019, 379 [juris Rn. 137 f.] – Eesti Pagar; Urteil vom 7. April 2022 – C-116/20, juris Rn. 100 f. – Avio Lucos, jeweils mwN) gebietet zwar eine möglichst frühe Prüfung der Zulässigkeit von Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahren auf der Grundlage des Energiecharta-Vertrags. Dies wird aber bereits dadurch gewährleistet, dass der Rechtsbehelf des § 1032 Abs. 2 ZPO eröffnet ist, sobald eine Schiedsvereinbarung vorliegt.53

D. Auf die Rechtsbeschwerde ist der angefochtene Beschluss daher hinsichtlich des Antrags zu 2 aufzuheben und der Feststellungsantrag als unzulässig zu verwerfen. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil die Aufhebung der Entscheidung nur wegen einer Rechtsverletzung bei Anwendung des Rechts auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO).54

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO, § 516 Abs. 3 Satz 1 ZPO analog.55

E. Der Gegenstandswert ist bis zum 4. Mai 2023 auf 30 Mio. € und danach auf 10 Mio. € festzusetzen.56

I. Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG nach den Anträgen des Rechtsmittelführers. Mit ihren Anträgen (§ 575 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) in der Rechtsbeschwerdebegründung hat die Antragsgegnerin die Entscheidung des Oberlandesgerichts vollumfänglich angefochten. Erst mit dem Schriftsatz vom 4. Mai 2023 hat sie ihr Rechtsmittel teilweise zurückgenommen und auf eine Anfechtung der Entscheidung betreffend den Antrag zu 2 beschränkt.57

II. Im Verfahren auf Feststellung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Schiedsverfahrens (§ 1032 Abs. 2 ZPO) ist der Wert auf ein Fünftel des Hauptsachewerts festzusetzen (vgl. BGH, SchiedsVZ 2020, 50 [juris Rn. 26] mwN; Beschluss vom 9. Februar 2023 – I ZB 62/22, NJOZ 2023, 497 [juris Rn. 22]).58

Danach beträgt der Gegenstandswert bis zur Teilrücknahme des Rechtsmittels 30 Mio. €. Ausgehend von dem in der Schiedsklage geltend gemachten Entschädigungsbetrag für drei Schiedsklägerinnen in Höhe von „Hunderten von Millionen Euro“ hat der Senat für den Antrag zu 1 einen Gegenstandswert von 20 Mio. € angenommen (ein Fünftel von mindestens 100 Mio. € für die hiesige Antragsgegnerin als eine von drei Schiedsklägerinnen). Für den Antrag zu 2 sind gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 GKG, § 3 ZPO nach freiem Ermessen die Hälfte des Werts des Antrags zu 1, mithin weitere 10 Mio. €, anzusetzen und für den Gegenstandswert nach § 39 Abs. 1 GKG hinzuzurechnen. Der Wertansatz für den Antrag zu 2 berücksichtigt dabei die (potenzielle) wirtschaftliche Bedeutung dieses Antrags mit Blick auf Schiedsverfahren über denkbare künftige Investitionen der Antragsgegnerin auf dem Gebiet des Antragstellers.

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BGH, Urteil vom 10. Juli 2023 – VIa ZR 1119/22

Freitag, 14. Juli 2023

BGB § 823Bitte wählen Sie ein Schlagwort:
BGB
BGB § 823
Abs. 2 Bf, Eh, I, § 830 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1

1. Die Sonderpflicht, für ein Kraftfahrzeug eine mit den gesetzlichen Vorgaben konvergierende Übereinstimmungsbescheinigung auszugeben, trifft den Fahrzeughersteller, nicht den Motorhersteller. Der Motorhersteller kann, weil er die Übereinstimmungsbescheinigung nicht ausgibt, weder Mittäter einer diese Sonderpflicht verletzenden Vorsatztat des Fahrzeugherstellers noch mittelbarer (Vorsatz-)Täter hinter dem (gegebenenfalls fahrlässig handelnden) Fahrzeughersteller sein (Anschluss an BGH, Urteil vom 26. Oktober 2004 – XI ZR 279/03, NJW-RR 2005, 556, 557).

2. Voraussetzung einer Haftung des Motorherstellers als Gehilfe des Fahrzeugherstellers nach § 823 Abs. 2, § 830 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ist, dass der Motorhersteller mit doppeltem Vorsatz hinsichtlich der fremden rechtswidrigen Tat und der eigenen Unterstützungsleistung gehandelt hat. Bedingung einer Beteiligung ist weiter eine Vorsatztat des Fahrzeugherstellers. Die vorsätzliche Förderung einer fahrlässigen Tat erfüllt die Voraussetzungen des § 830 Abs. 2 BGB nicht (Anschluss an BGH, Urteil vom 29. Mai 1964 – Ib ZR 4/63, BGHZ 42, 118, 122; Urteil vom 30. Januar 1967 – III ZR 185/64, VersR 1967, 471 und Urteil vom 8. Februar 2018 – IX ZR 103/17, NJW 2018, 2404 Rn. 66, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 217, 300).

3. Anders als im Verhältnis zum Fahrzeughersteller bleibt es im Verhältnis zum vom Fahrzeughersteller verschiedenen Motorhersteller bei dem allgemeinen Grundsatz, dass hinsichtlich der Schuldhaftigkeit des Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV als anspruchsbegründender Voraussetzung einer Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB den Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast trifft (Fortführung von BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, juris Rn. 59 f., zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 7. Juli 2022 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.2

Der Kläger kaufte am 9. April 2019 von einem Händler ein nicht von der Beklagten hergestelltes gebrauchtes Kraftfahrzeug des Typs Porsche Macan Euro 6 3.0 Liter V6 TDI, das mit einem von ihr entwickelten und hergestellten Motor der Baureihe EA 897 (Euro 6) ausgerüstet ist. Das Fahrzeug war bereits zuvor von einem vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) angeordneten Rückruf wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen. Ein von der Beklagten zur Beseitigung der vom KBA beanstandeten Abschalteinrichtung erstelltes Software-Update hatte das KBA am 1. August 2018 freigegeben. Zwischen den Parteien ist streitig, ob das Software-Update am 16. Januar 2019 und damit vor Abschluss des Kaufvertrags auf das Fahrzeug des Klägers aufgespielt wurde.3

Die im Wesentlichen auf Erstattung des Kaufpreises abzüglich des Wertes gezogener Nutzungen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs gerichtete Klage hat vor dem Landgericht weitgehend Erfolg gehabt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg.

I.

Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung, im Wesentlichen wie folgt begründet:6

Der Kläger könne einen Anspruch wegen seiner sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung nicht darauf stützen, dass das Fahrzeug vor Abschluss des Kaufvertrags wegen der vom KBA beanstandeten Abschalteinrichtung einem Rückruf durch das KBA unterlegen habe. Er habe nicht dargelegt, dass diese ursprünglich vorhandene unzulässige Abschalteinrichtung in dem vom Kläger erworbenen Fahrzeug bei Abschluss des Kaufvertrags noch vorhanden gewesen sei. Der Kläger sei für die Voraussetzungen der von ihm geltend gemachten deliktischen Ansprüche darlegungs- und beweisbelastet. Den Anforderungen an die Darlegung einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung bei Abschluss des Kaufvertrags habe er durch das Bestreiten des Aufspielens des Software-Updates mit Nichtwissen nicht genügt. Insoweit fehle es auch, soweit sich der Kläger auf die ursprünglich vorhandene Abschalteinrichtung bezogen habe, an der Darlegung eines Schadens.7

Ein Anspruch des Klägers gemäß §§ 826, 31 BGB bestehe überdies nicht, weil den für die Beklagte handelnden Personen im Verhältnis zum Kläger aufgrund einer Verhaltensänderung kein sittenwidriges Verhalten zur Last gelegt werden könne. Die Beklagte habe noch vor Fahrzeugerwerb des Klägers in Zusammenarbeit mit dem KBA und in Abstimmung mit dem Fahrzeughersteller ein Software-Update zur Beseitigung der beanstandeten Softwarefunktionalität entwickelt. Im Februar 2018 habe der Fahrzeughersteller seine Vertragshändler informiert und zur Information potentieller Fahrzeugerwerber verpflichtet. Mit Pressemitteilung vom 18. Mai 2018 habe das KBA über den Rückruf des Porsche Macan Euro 6 3.0 Liter V6 TDI berichtet, ebenso am selben Tag die Bild-Zeitung, Focus Online, die Welt und Spiegel Online. Am 4. Juni 2018 habe der Fahrzeughersteller seine Vertragshändler nochmals darüber informiert, dass potentielle Kunden vor dem Verkauf eines Diesel-Gebrauchtfahrzeugs von den Beanstandungen des KBA an der Motorsteuerungssoftware zu unterrichten seien, und zu diesem Zweck dem Händlernetzwerk Kundeninformationen zur Verfügung gestellt, die durch die Vertragshändler gegenüber potentiellen Käufern vor Abschluss des Kaufvertrags zu verwenden gewesen seien. In der Gesamtschau dieser unstreitigen Umstände sei das Verhalten der Beklagten zum Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses im April 2019 nicht mehr als Sittenwidrig zu betrachten gewesen.8

Soweit der Kläger sein Begehren (hilfsweise) damit rechtfertige, durch das Aufspielen des Software-Updates seien „Folgeprobleme zu befürchten“, könne er daraus einen Anspruch aus §§ 826, 31 BGB nicht herleiten. Dieser Umstand rechtfertige den Vorwurf besonderer Verwerflichkeit selbst dann nicht, wenn durch das Software-Update nicht nur die unzulässige Manipulationssoftware entfernt worden sei, sondern auch eine nachteilige Veränderung des Kraftstoffverbrauchs oder sonstiger Parameter oder ein Wertverlust eingetreten sei.9

Soweit der Kläger sein Begehren auf den von ihm behaupteten Einbau eines Thermofensters stütze, kämen §§ 826, 31 BGB schon deshalb nicht zur Anwendung, weil der insoweit darlegungs- und beweisbelastete Kläger nicht dargelegt oder unter Beweis gestellt habe, dass Repräsentanten der Beklagten die Unzulässigkeit einer entsprechenden Abschalteinrichtung zumindest billigend in Kauf genommen hätten.10

Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bestehe nicht, da diese Vorschriften nicht den Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des einzelnen Fahrzeugerwerbers bezweckten.

II.

Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren im Ergebnis stand.12

1. Das Berufungsgericht ist im Ergebnis rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, die Beklagte hafte dem Kläger wegen der ursprünglich implementierten und vom KBA beanstandeten Abschalteinrichtung – je nach Kenntnisstand der Verantwortlichen des Fahrzeugherstellers als mittelbare Täterin oder als Mittäterin/Teilnehmerin (§ 830 BGB, vgl. zuletzt nur BGH, Urteil vom 19. Oktober 2021 – VI ZR 148/20, VersR 2022, 186 Rn. 13 mwN) – nicht aus unerlaubter Handlung.13

a) Zutreffend ist das Berufungsgericht zum einen davon ausgegangen, ein Anspruch scheitere schon daran, dass der Kläger das Vorhandensein der vom KBA beanstandeten Abschalteinrichtung im Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags nicht dargelegt habe. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorhandensein der Abschalteinrichtung, die ohne Rücksicht auf die konkrete Anspruchsgrundlage Bedingung eines deliktischen Schadensersatzanspruchs ist, obliegt bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt des Schadenseintritts dem Anspruchsteller (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, juris Rn. 53, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ). Maßgeblicher Zeitpunkt ist in Fällen wie dem vorliegenden der Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags (vgl. BGH, Beschluss vom 14. September 2021 – VI ZR 491/20, juris Rn. 7). Bezogen auf diesen Zeitpunkt ergab die Erklärung des Klägers mit Nichtwissen dazu, ob die vom KBA beanstandete Abschalteinrichtung noch vorhanden gewesen sei, schlüssigen Vortrag zu den Anspruchsvoraussetzungen einer Haftung aus unerlaubter Handlung nicht.14

Soweit sich die Revision gegen die Feststellung des Berufungsgerichts wendet, der Kläger habe sich zum Vorhandensein der vom KBA beanstandeten Abschalteinrichtung lediglich mit Nichtwissen erklärt, und ein unzureichendes Ausschöpfen des Prozessstoffs (§ 286 ZPO) unter Verweis auf die vom Kläger vorgetragene fehlende Dokumentation des Software-Updates in den Wartungshinweisen beanstandet, kann ihr die von ihr erhobene Verfahrensrüge mit Rücksicht auf §§ 314, 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht zum Erfolg verhelfen (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 2022 – VIa ZR 267/22, juris Rn. 11 ff.). Der Kläger hat die Feststellung, er habe das Vorbringen der Beklagten lediglich mit Nichtwissen bestritten, nicht mit einem Tatbestandsberichtigungsantrag angegriffen. Mit einer Verfahrensrüge kann der von der Revision behauptete Fehler bei der Wiedergabe des Parteivorbringens dann nicht gerügt werden (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 2022, aaO, Rn. 14).15

b) Zum anderen ist das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei auf der Grundlage der von ihm getroffenen und das Revisionsgericht bindenden Feststellungen (§ 559 Abs. 2 ZPO) zu dem Ergebnis gelangt, durch die vom Berufungsgericht festgestellte Verhaltensänderung der Fahrzeugherstellerin und der Beklagten seien wesentliche Elemente, die das Unwerturteil ihres bisherigen Verhaltens gegenüber bisherigen Käufern begründeten, derart relativiert worden, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit bezogen auf ihr Gesamtverhalten gerade gegenüber dem Kläger und gerade im Hinblick auf den Schaden, der bei ihm durch den Abschluss eines ungewollten Kaufvertrags im April 2019 entstanden sein könnte, nicht mehr gerechtfertigt war (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 34 ff.).16

Das galt nicht nur im Hinblick auf die vom Berufungsgericht geprüfte Haftung der Beklagten nach §§ 826, 31 BGB, sondern auch für eine mögliche Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2, § 830 BGB. Wie der Senat mit Urteil vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, juris Rn. 61) ausgeführt hat, kann der Vorwurf einer deliktischen Schädigung ohne Rücksicht auf die einen deliktischen Schadensersatzanspruch rechtfertigende Anspruchsgrundlage durch eine Verhaltensänderung insgesamt ausgeräumt werden. Von einem Motorhersteller, der nicht zugleich Fahrzeughersteller ist, kann, um den Vorwurf einer deliktischen Schädigung auszuräumen, nicht mehr verlangt werden als die von der Beklagten getroffenen Maßnahmen.17

2. Den Angriffen der Revision stand hält überdies die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte hafte dem Kläger aus Delikt auch nicht wegen eines im Fahrzeug verbauten Thermofensters.18

a) Soweit der Kläger Ansprüche auf §§ 826, 31, 830 Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 BGB stützt, hat das Berufungsgericht eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung des Klägers aufgrund einer tatrichterlichen Würdigung der vom Kläger vorgetragenen Umstände und in Übereinstimmung mit den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, NJW 2021, 921 Rn. 13 ff.; Beschluss vom 21. September 2022 – VII ZR 767/21, juris Rn. 10) rechtsfehlerfrei verneint. Die darauf bezogenen Verfahrensrügen der Revision hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet (§ 564 Satz 1 ZPO).19

b) Die Revision dringt aber auch nicht mit ihrem Einwand durch, die Beklagte hafte dem Kläger wegen des Thermofensters nach § 823 Abs. 2, § 830 Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV.20

Zwar steht, wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 versehenen Kraftfahrzeugs unter den Voraussetzungen des § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch gegen den Fahrzeughersteller auf Ersatz des Differenzschadens zu (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, juris Rn. 28 ff.). Die Sonderpflicht, eine mit den (unions-)gesetzlichen Vorgaben konvergierende Übereinstimmungsbescheinigung auszugeben, trifft indessen nur den Fahrzeughersteller, nicht den Motorhersteller. Der Senat (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO) hat die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 21. März 2023 – C-100/21, NJW 2023, 1111 Rn. 78 ff., 91) auf die Erteilung einer unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung gestützt, die der Fahrzeughersteller in seiner Eigenschaft als Inhaber einer EG-Typgenehmigung gemäß Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG jedem Fahrzeug beilegt und die gemäß Art. 3 Nr. 36 der Richtlinie 2007/46/EG nicht nur die Übereinstimmung des erworbenen Fahrzeugs mit dem genehmigten Typ, sondern auch die Einhaltung aller Rechtsakte bescheinigt. Die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV knüpft an die Erteilung einer unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung durch den Fahrzeughersteller an. Der Motorhersteller kann deshalb, weil er die Übereinstimmungsbescheinigung nicht ausgibt, nach den allgemeinen und durch das Unionsrecht unangetasteten Grundsätzen des deutschen Deliktsrechts weder Mittäter einer Vorsatztat des Fahrzeugherstellers noch mittelbarer (Vorsatz-)Täter hinter dem (gegebenenfalls fahrlässig handelnden) Fahrzeughersteller sein, weil ihm nicht die hierzu erforderliche Sonderpflicht obliegt (vgl. OLG CelleBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Celle
, Beschluss vom 30. März 2023 – 7 U 584/22, juris Rn. 7; OLG KoblenzBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Koblenz
, Urteil vom 11. Mai 2023 – 6 U 1268/21, BeckRS 2023, 12097 Rn. 50; OLG ZweibrückenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Zweibrücken
, Beschluss vom 28. März 2023 – 7 U 95/22, juris Rn. 16; Urteil vom 29. März 2023 – 7 U 109/22, juris Rn. 54; allgemein BGH, Urteil vom 26. Oktober 2004 – XI ZR 279/03, NJW-RR 2005, 556, 557 mwN).21

Eine bei Sonderdelikten mögliche Beteiligung der Beklagten als Motorherstellerin im Sinne des § 830 Abs. 2 BGB an einer deliktischen Schädigung des Fahrzeugherstellers kommt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die die Revision insoweit fristgerecht nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffen hat, ebenfalls nicht in Betracht. Zwar kann Beihilfe auch zu Sonderdelikten geleistet werden, bei denen der Gehilfe nicht Täter sein kann. Voraussetzung ist allerdings nicht nur, dass der Gehilfe mit doppeltem Vorsatz hinsichtlich der fremden rechtswidrigen Tat und der eigenen Unterstützungsleistung gehandelt hat (vgl. BGH, Urteil vom 8. Februar 2018 – IX ZR 103/17, BGHZ 217, 300 Rn. 66). Bedingung einer Beteiligung ist vielmehr weiter eine Vorsatztat des Fahrzeugherstellers. Die vorsätzliche Förderung einer fahrlässigen Tat erfüllt die Voraussetzungen des § 830 Abs. 2 BGB nicht (vgl. BGH, Urteil vom 29. Mai 1964 – Ib ZR 4/63, BGHZ 42, 118, 122; Urteil vom 30. Januar 1967 – III ZR 185/64, VersR 1967, 471, 473; Staudinger/Eberl-Borges, BGB, Neubearb. 2022, § 830 Rn. 46, auch mit Nachweisen zur vereinzelt abweichenden Auffassung in der Literatur).22

Dass der Fahrzeughersteller im konkreten Fall vorsätzlich eine im Hinblick auf das Thermofenster unrichtige Übereinstimmungsbescheinigung ausgegeben habe, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Eine darauf bezogene Verfahrensrüge erhebt die Revision nicht, die sich darauf beschränkt, die Feststellungen des Berufungsgerichts betreffend den mangelnden Vorsatz der beklagten Motorherstellerin in Zweifel zu ziehen, und übergangenen Vortrag des Klägers zu einem auf die Implementierung eines Thermofensters bezogenen vorsätzlichen Verhalten des Fahrzeugherstellers nicht aufzeigt.23

Ein materiell-rechtlicher Fehler bei der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast, der als Rechtsfehler auch ohne ausgeführte Verfahrensrüge im Revisionsverfahren zu beachten wäre (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 2022 – VIa ZR 115/22, juris Rn. 11 mwN), fällt dem Berufungsgericht nicht zur Last. Anders als im Verhältnis zum Fahrzeughersteller (vgl. dazu BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, juris Rn. 59 f.) bleibt es im Verhältnis zum vom Fahrzeughersteller verschiedenen Motorhersteller bei dem allgemeinen Grundsatz (BGH, Urteil vom 13. Dezember 1984 – III ZR 20/83, NJW 1985, 1774, 1775; MünchKommBGB/Wagner, 8. Aufl., § 830 Rn. 47; Katzenmeier in: Dauner-Lieb/Langen, BGB Schuldrecht, 4. Aufl., § 830 Rn. 23), dass hinsichtlich der Schuldhaftigkeit des Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV als anspruchsbegründender Voraussetzung einer Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB den Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast trifft. Auf die von der Revision gegen die Feststellung des Berufungsgerichts gerichtete Verfahrensrüge, Repräsentanten der Beklagten hätten in Bezug auf das Thermofenster lediglich fahrlässig gehandelt, kommt es mithin nicht an.24

3. Schließlich hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei erkannt, dass das Hilfsvorbringen des Klägers zu einem Mehraufwand im Falle des von ihm hilfsweise unterstellten Aufspielens des Software-Updates vor Erwerb des Fahrzeugs weder zu einer Haftung nach §§ 826, 31, 830 BGB noch zu einer Haftung nach § 823 Abs. 2, § 830 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV führen könnte. Eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung potentieller Käufer durch das zur Beseitigung der vom KBA beanstandeten Abschalteinrichtung installierte Software-Update hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Dass der Kläger in diesem Sinne Vortrag gehalten habe, den das Berufungsgericht nicht zur Kenntnis genommen habe, zeigt die Revision mit einer Verfahrensrüge nicht auf.25

Von der Fahrzeugherstellerin nach deren Erteilung ergriffene Maßnahmen konnten in der Übereinstimmungsbescheinigung keinen Niederschlag finden. Sie waren damit kein tauglicher Anknüpfungspunkt für eine Haftung des Fahrzeugherstellers nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV, so dass es an einer Haupttat fehlt, an der sich die Beklagte als Motorherstellerin nach § 830 Abs. 2 BGB hätte beteiligen können.

Schlagworte: BGB § 823, BGB § 823 Abs. 2, BGB § 826, Dieselskandal, Haftung nach § 826 BGB, Haftung wegen sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB, Verletzung von Schutzgesetzen nach § 823 Abs. 2 BGB

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BGH, Urteil vom 13. Juli 2023 – I ZR 152/21

Donnerstag, 13. Juli 2023

GG Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Art. 28 Abs. 2 Satz 1; UWG § 3 Abs. 1, §§ 3a, 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1

a) Zu der mit Blick auf das Gebot der Staatsferne der Presse zulässigen Öffentlichkeitsarbeit der
Kommune gehören grundsätzlich auch das Stadtmarketing und die Tourismusförderung.

b) Eine Anzeigenwerbung ist in einer kommunalen Publikation nur als fiskalisch motivierte Randnut-
zung zulässig. Für die Bestimmung einer zulässigen Randnutzung ist auf den Umfang der Anzei-
genschaltung abzustellen. Die Randnutzung muss als Annextätigkeit eine untergeordnete, quanti-
tativ nachgeordnete Tätigkeit in innerem Zusammenhang mit der Hauptnutzung bleiben (Fortfüh-
rung von BGH, Urteil vom 20. Dezember 2018 – I ZR 112/17, GRUR 2019, 189 [juris Rn. 41] Crailsheimer Stadtblatt II).

c) Nach allgemeinen Regeln unzulässige geschäftliche Handlungen der öffentlichen Hand sind bei
der Prüfung eines Verstoßes gegen das Gebot der Staatsferne der Presse nicht in die Gesamtwür-
digung einzubeziehen. Wettbewerbsverstöße dieser Art sind nach den allgemeinen lauterkeits-
rechtlichen Regelungen, wie zum Beispiel § 4 Nr. 4, §§ 4a, 5 Abs. 1 oder § 5a Abs. 4 Satz 1 UWG,
zu beurteilen; sie können zudem nur zu einem Verbot des jeweils konkret angegriffenen Beitrags,
nicht aber der kommunalen Publikation in der konkreten Verletzungsform insgesamt führen.

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