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OLG München, Urteil vom 21.02.2024 – 7 U 3629/22

Mittwoch, 21. Februar 2024

Vorstandsvergütung

„Für den Abschluss der vom Kläger behaupteten Vergütungsvereinbarung wäre auf Seiten der Beklagten gemäß § 112 AktG der Aufsichtsrat der Beklagten zuständig, der gemäß § 108 Abs. 1 AktG durch Beschluss entscheidet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und auch nach der allgemeinen Meinung in der Literatur können Beschlüsse des Aufsichtsrats nur ausdrücklich, nicht jedoch stillschweigend oder konkludent gefasst werden. Denn es muss aus Gründen der Rechtssicherheit gewährleistet sein, dass das Zustandekommen eines Beschlusses festgestellt werden kann. Dies ist bei stillschweigend oder konkludent gefassten Beschlüssen nicht möglich, weil bei diesen nicht die für eine Abstimmung unerlässlichen Feststellungen darüber getroffen werden können, inwieweit Beschlussfähigkeit, Zustimmung, Ablehnung und Stimmenthaltungen gegeben sind (vgl. BGH, Urteil vom 21.06.2010 – II ZR 24/09, Rdnr. 14 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung und Literatur).

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 13.05.2022, Az. 43 O 10588/21, wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Dieses Urteil sowie das in Ziffer 1 des Tenors bezeichnete Urteil des Landgerichts München I sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 76.778,80 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

A.

Die Parteien streiten um Vorstandsvergütungsansprüche.

Der Kläger war von Oktober 2001 bis zum 30.09.2020 Alleinvorstand der Beklagten. Er war darüber hinaus als selbständiger Unternehmensberater tätig.

Gegenstand des Unternehmens der Beklagten, die eine börsennotierte Aktiengesellschaft ist, sind die Gründung, der Erwerb, die Verwaltung sowie die Veräußerung von Beteiligungen an Firmen des Bank- und Dienstleistungssektors sowie der Industrie. Der Unternehmensgegenstand erstreckt sich ferner auf den Erwerb, die Veräußerung sowie die Verwaltung von Beteiligungen aller Art an Handelsgesellschaften im In- und Ausland. Bis 31.07.2018 war Geschäftsgegenstand der Beklagten darüber hinaus die Herstellung von und der Handel mit Maschinen und Werkzeugen.

Zum Konzern der Beklagten gehörten bis zu ihrem Verkauf an die deutsche Tochter der S. Group am 31.07.2018 auch die Tochterunternehmen der Maschinenbaugruppe.

Die Satzung der Beklagten laut Anl. B 1 lautet auszugsweise wie folgt:

㤠15

(…)

(2) Beschlüsse des Aufsichtsrats werden in Sitzungen gefasst. Schriftliche, telegrafische oder fernmündliche Beschlussfassungen des Aufsichtsrats sind nur zulässig, wenn kein Mitglied des Aufsichtsrats diesem Verfahren widerspricht.

(3) Beschlüsse des Aufsichtsrats bedürfen der Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

(…)

§ 16

(…)

(2) Willenserklärungen des Aufsichtsrates und seiner Ausschüsse werden namens des Aufsichtsrats von dem Vorsitzenden abgegeben.“

Vorsitzender des Aufsichtsrats der Beklagten war bis 13.02.2018 J. G., ab 13.02.2018 G.M.R. und ab 13.11.2018 wiederum J. G.

Die Parteien schlossen am 15.07.2017 rückwirkend für den Zeitraum ab 01.04.2017 und bis 30.09.2019 den Vorstandsanstellungsvertrag laut Anl. K 1 (im Folgenden als AV 2017 bezeichnet). Dieser lautete auszugsweise wie folgt:

㤠1 Aufgaben

(1) Herr J. führt die Geschäfte der AG nach Maßgabe der Gesetze, der Satzung der vom Aufsichtsrat erlassenen Geschäftsordnung für den Vorstand, die für die gesamt formulierte Strategie der Gesellschaft und dieses Anstellungsvertrages gelten [sic]. Insbesondere ist Herr J. für den Bereich Finanz- und Rechnungswesen sowie die Berichtserstattung [sic] der AG und des Konzerns verantwortlich. Das Aufgabengebiet umfasst nicht die Geschäftsführung in einer der Tochtergesellschaften innerhalb des Konzerns. Herr J. wird im Rahmen dieser Aufgabe ein Aufsichtsratsmandat bei der W. Maschinenbau GmbH wahrnehmen.

(2) Herr J. ist für die interne und externe [sic] Quartals-, Halbjahres- und Jahresberichte sowie Jahresabschlüsse der AG und des Konzerns zuständig. Er wird der AG seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen (…).

(…)

§ 5 Vergütung

(1) Herr J. erhält für seine Tätigkeit gemäß § 1 eine monatliche Bruttovergütung von Euro 1.500,00 sowie eine monatliche Pauschale von Euro 50 für Telefon-, Porto- und Fahrkosten (im Raum München): (…):

(2) Die Firma S. erhält monatlich eine Vergütung in Höhe von 4.000 zuzüglich der gesetzlichen MwSt (zurzeit [sic] 19%), insgesamt Euro 4.760 (…).

(3) Seit dem 20.07.2003 stellt die AG Herrn J. einen Dienstwagen zur Verfügung (…)

(4) Herr J. erhält ein [sic] Bonus in Höhe von Eur 2.000,- wenn die Erstellung des Jahresabschlusses bzw. Durchführung der Hauptversammlung vor Ende Mai statt finden [sic] kann. Des Weiteren erhält Herr J. ein [sic] Bonus in Höhe von 1% von W. Holdings Konzernergebnis nach Steuern (…)“

Eine auf den 01.06.2017 datierte Anlage zum Dienstvertrag 2017 vom 15.07.2017 (Anl. K 1) lautete wie folgt:

„Führt die Geschäfte der AG nach Maßgabe der Gesetzte [sic], der Satzung und der Geschäftsordnung. Der Schwerpunkt liegt im Bereich Finanz-, Rechnungswesen inkl. Berichterstattung des Konzerns und der Tochtergesellschaften.

Ist zuständig für die interne und externe [sic] Monats-, Quartals- und Jahresberichte Konzern und AG

Erstellt Jahresabschluss Konzern und AG sowie Teilkonzern W. I. AG

Unterstützt die Tochtergesellschaften bei der Erstellung der Jahresabschlüsse

Erstellt die Quartalsabschlüsse des Konzern [sic]

Erstellt das Budget für Konzern und AG sowie unterstützt die Tochtergesellschaften bei der Zusammenstellen [sic] der Budgetinformationen

Erstellt BWA für Konzern, AG und Tochtergesellschaften bzw. nach Bereich und/oder Profitcenter sowie Analysen, Kalkulationen und Statistiken zu erstellen und zu präsentieren [sic]

Erstellt Prognosen für Umsatz und Ergebnis Konzern und AG

Steuert und beobachtet der [sic] Liquidationsbedarf im Konzern sowie ist verantwortlich die Kontakte und Verhandlung mit den Kreditinstituten und den Versicherern [sic]

Erstellt Liquiditätsprognosen Konzern und AG

AR-Sitzungen vorbereiten und finanzielle Informationen präsentieren und erläutern

Mitglied des AR im Maschinenbau (bei Bedarf auch in andere [sic] Tochtergesellschaften)“

Im Rahmen der Vorbereitung eines Verkaufs der Maschinenbausparte der Beklagten wurde bei der Beklagten das Team „Sch.“ bestehend aus dem Aufsichtsratsmitglied M. R., H. P.(einem externen Berater) und dem Kläger gebildet, Mit notariellem Kaufvertrag vom 31.07.2018 verkaufte die Beklagte ihren Konzernbereich Maschinenbau mit Schwerpunkt Automotive an die deutsche Tochter der S. Group (im Folgenden als Käuferin bezeichnet). Zur Finanzierung des Kaufpreises für den Konzernbereich Maschinenbau gewährte die Beklagte der Käuferin ein durch die Mutter der Käuferin abgesichertes Verkäuferdarlehen (“vendor loan“), das im Frühjahr 2020 noch mit 660.000 € valutiert war. Zur Verbesserung der weiterhin schlechten Liquiditätslage der Beklagten und aus Sorge, dass die Darlehensrückzahlungsforderung gegen die Käuferin und auch die durch die Mutter der Käuferin gestellte Sicherheit aufgrund der coronabedingt schlechten wirtschaftlichen Entwicklung ausfallen könnten, beschloss der Aufsichtsrat der Beklagten den Verkauf der Darlehensrückzahlungsforderung der Beklagten gegen die Käuferin. Die Forderung wurde unter Beteiligung des Klägers zum Preis von 594.000 € an die Muttergesellschaft der Käuferin veräußert.

Der Aufsichtsrat befasste sich in seinen Sitzungen vom 30.08.2018 (unter TOP 8) und 12.12.2018 (unter TOP 8) mit der Frage der Vergütung für die am Team Sch. Beteiligten.

Im Nachgang zur Aufsichtsratssitzung vom 12.12.2018 übermittelte J. G. dem Kläger am 13.12.2018, 16:43 Uhr die Email laut Anl. K 7 mit folgendem Wortlaut:

„We agreed at yesterday’s ARS that commission should be paid offered [sic] to they [sic] who are instrumental in the successful sales, if we can secure that we do not do anything that can lead to legal problems.

Please find out what we need to do to avoid legal problems, as a result of this, considering that the commission would probably be paid to Vorstand [sic] (= you) and AR (= TE & SA). I do not see a problem with MR, since he is not in any of the Organen of the group“

In der Sitzung vom 28.01.2019 befasste sich der Aufsichtsrat der Beklagten unter TOP 7 „Vergütung Sonderprojekte“ erneut mit der Frage einer Provision für die am Projekt „Sch.“ Beteiligten.

Entgegen ihrer Verpflichtung nach § 114 Abs. 1 S. 2 WpHG veröffentlichte die Beklagte die Bekanntmachung, ab welchem Zeitpunkt und unter welcher Internetadresse die Rechnungsunterlagen iSd. § 114 Abs. 2 WpHG öffentlich zugänglich sind, sowohl für das Geschäftsjahr 2018 als auch für das Geschäftsjahr 2019 nicht fristgemäß, weshalb die BaFin gegen die Beklagte jeweils ein Bußgeldverfahren nach § 120 Abs. 2 Nr. 4 lit e WpHG einleitete. Bezüglich der Unterlagen für das Geschäftsjahr 2018 endete das Bußgeldverfahren durch den Bescheid der BaFin vom 16.03.2021 laut Anl. B 4, mit dem gegen die Beklagte eine Geldbuße von 12.000 € sowie Verfahrenskosten von 600,00 € festgesetzt wurden, die die Beklagte bezahlte. Das Bußgeldverfahren hinsichtlich der Unterlagen für das Geschäftsjahr 2019 wurde gemäß § 47 Abs. 1 S. 2 OWiG eingestellt.

Durch die Verteidigung in den Bußgeldverfahren entstanden der Beklagten Rechtsanwaltskosten in Höhe von 36.390,00 € netto.

Nach Auslaufen des Dienstvertrages vom 15.07.2017 (Anl. K 1) schlossen die Parteien am 30.09.2019 den bis 30.09.2020 befristeten Dienstvertrag laut Anl. K 2 (im Folgenden als AV 2019 bezeichnet).

Dieser lautete auszugsweise wie folgt:

㤠1 Aufgaben

(1) Herr J. führt die Geschäfte der AG nach Maßgabe der Gesetze, der Satzung der vom Aufsichtsrat erlassenen Geschäftsordnung für den Vorstand, die für die gesamt formulierte Strategie der Gesellschaft und dieses Anstellungsvertrages gelten [sic]. Insbesondere ist Herr J. für den Bereich Finanz- und Rechnungswesen sowie die Berichtserstattung [sic] der AG und des Konzerns verantwortlich und umfasst auch die Geschäftsführung der Tochtergesellschaften innerhalb des Konzerns (siehe Tätigkeitsbeschreibung).

(2) Herr J. ist für die interne und externe [sic] Quartals-, Halbjahres- und Jahresberichte sowie Jahresabschlüsse der AG und des Konzerns zuständig. Er wird der AG seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen (…).

(…)

§ 5 Vergütung

(1) Herr J. erhält für seine Tätigkeit gemäß § 1 eine monatliche Bruttovergütung von Euro 2.000,00 sowie eine monatliche Pauschale von Euro 50 für Telefon-, Porto- und Fahrkosten (im Raum München): (…):

(2) Die Firma S. erhält monatlich eine Vergütung in Höhe von 3.000 zuzüglich der gesetzlichen MwSt (zurzeit 19%), insgesamt Euro 3.570 (…).

(3) Seit dem 20.07.2003 stellt die AG Herrn J. einen Dienstwagen zur Verfügung (…)

(4) Ein Bonus in Höhe von Eur 2.000,- wird dann ausbezahlt, wenn die Durchführung der Hauptversammlung vor Ende Mai stattfindet könnte [sic]. Des Weiteren wird ein [sic] Bonus in Höhe von 1% des Konzernergebnisses vor Steuern lt. HGB gewährt.

(5) Tätigkeiten bzw. Leistungen die nicht in der beigefügten Tätigkeitsbeschreibung aufgelistet sind (z.B. Sonderprojekte wie eine [sic] De- bzw. Downlisting der AG-Aktien, die Veräußerung von Vermögenswerte [sic] des Konzerns), werden separat verhandelt und vergütet.“

Die Tätigkeitsliste lautete wie folgt:

„Führt die Geschäfte der AG nach Maßgabe der Gesetzte [sic], der Satzung und der Geschäftsordnung. Der Schwerpunkt liegt im Bereich FinanzRechnungswesen inkl. Berichterstattung des Konzerns und der Tochtergesellschaften.

Ist zuständig für die interne und externe [sic] Berichte Konzern und AG

Erstellt Jahresabschluss Konzern und AG sowie Teilkonzern W. I. AG inkl. Lagebericht und Anhang nach HGB und IFRS (mit Unterstützung externe [sic] Berater)

Unterstützt die Tochtergesellschaften bei der Erstellung der Jahresabschlüsse

Erstellt die Quartalsabschlüsse des Konzern [sic]

Erstellt das Budget für Konzern und AG sowie unterstützt die Tochtergesellschaften bei der Zusammenstellen [sic] der Budgetinformationen

Erstellt BWA für Konzern, AG und Tochtergesellschaften bzw. nach Bereich und/oder Profitcenter sowie Analysen, Kalkulationen und Statistiken zu erstellen und zu präsentieren [sic]

Erstellt Prognosen für Umsatz und Ergebnis Konzern und AG

Steuert und beobachtet der [sic] Liquidationsbedarf im Konzern sowie ist verantwortlich die Kontakte und Verhandlung mit den Kreditinstituten und den Versicherern [sic]

Erstellt Liquiditätsprognosen Konzern und AG

AR-Sitzungen vorbereiten und finanzielle Informationen präsentieren und erläutern

Übernimmt die Position als Vorstand/Geschäftsführer in den Tochtergesellschaften.“

Mit Rechnung Nr. …-007 vom 30.06.2020 laut Anl. K 8 stellte der Kläger der Beklagten ein „Honorar Sonderprojekte W. Gruppe Kompensation Verkauf W. Maschinenbau per 31.07.2018“ in Höhe von 46.053,00 € brutto (1,2% aus 3.232.000 €) in Rechnung.

Mit weiterer Rechnung vom 30.06.2020 (Re.-Nr. …-008) laut Anl. K 9 stellte der Kläger der Beklagten ein „Honorar Sonderprojekte W. Gruppe Provision Verkauf S. L. N. vom 28.05.2020“ in Höhe von 21.205,80 € brutto (3% aus 594.000 €) in Rechnung.

Schließlich stellte der Kläger mit weiterer Rechnung vom 30.06.2020 (Re.-Nr. …-009) laut Anl. K 10 der Beklagten ein „Honorar Sonderprojekte W. Zusatzleistungen die lt. Vertrag gesondert vergütet werden Zeitraum 01.10.2019 – 30.06.2020“ in Höhe von 9.520,00 € brutto (64 Stunden x 125,00 € zzgl. MWSt.) in Rechnung.

Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 09.02.2022 (dort S. 14, Bl. 47 d.A.) rechnete die Beklagte für den Fall, dass sie zur Zahlung von Vergütung an den Kläger verurteilt werden sollte, gegen die Vergütungsansprüche des Klägers mit einem Schadensersatzanspruch gegen den Kläger aus § 93 Abs. 2 S. 1 AktG in Höhe von insgesamt 48.990,00 € (12.600,00 € + 36.390 €) wegen der verspäteten Bekanntmachungen nach § 114 Abs. 1 S. 2 WpHG auf.

Der Kläger behauptete, dass nach der Aufsichtsratssitzung vom 30.08.2018 die Vergütung für das Team „Sch.“ weiter besprochen und eine Vergütung für das Team in Höhe von insgesamt 3% des Gesamtverkaufswertes als angemessen angesehen worden sei (vgl. Klageschriftsatz S. 8 erster Absatz, Bl. 25 d.A.). Darüber habe Einigkeit im Aufsichtsrat der Beklagten geherrscht. Von den 3% stünden ihm 1,2% zu, was bei einem Gesamterlös von 3.232.000 € zu einem Honoraranspruch von 38.700,00 € netto und damit 46.053,00 € brutto führe.

Der Kläger trug des Weiteren vor, dass ihm auf der Grundlage des Aufsichtsratsbeschlusses vom 12.12.2018 (Anl. K 4) für den Verkauf der L. N. an die S. Group eine Provision in Höhe von 3% aus dem Verkaufserlös von 594.000 € zzgl. MwSt und damit in Höhe von 21.205,80 € brutto zustehe.

Schließlich sei ihm durch seine Aktivitäten bezüglich des reverse IPO ein Arbeitszeitmehraufwand von 23,00 Stunden und bezüglich des Verkaufs von Grundstücken der Beklagten in Hagen ein weiterer Arbeitszeitmehraufwand von 64,00 Stunden entstanden, der bei einem ortsüblichen und angemessenen Stundensatz von 125,00 € einen Vergütungsanspruch in Höhe von 9.520,00 € brutto begründe.

Alle diese Tätigkeiten seien Leistungen seinerseits gewesen, die über die im AV 2017 und im AV 2019 ihm zugewiesenen Aufgaben hinausgegangen seien.

Hinsichtlich der Hilfsaufrechnung der Beklagten mit Schadensersatzforderungen gegen ihn wegen verspäteter Bekanntmachungen nach dem WpHG trug der Kläger vor, dass die Verantwortung für die Verzögerungen nicht bei ihm liege, da es beim beauftragten Wirtschaftsprüfer aufgrund zu niedriger Kapazität zu Problemen bei der Bewertung gekommen sei. Diese Kapazitätsprobleme seien von der Wirtschaftsprüferkanzlei auch erst zu spät mitgeteilt worden.

Der Kläger beantragte daher:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 76.778,80 nebst 5% Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 27.02.2021 zu bezahlen.

Die Beklagte beantragte,

Klageabweisung.

Die Beklagte erwiderte, dass die streitgegenständlichen Tätigkeiten des Klägers von ihm bereits nach den beiden Anstellungsverträgen geschuldet und deshalb nicht gesondert zu vergüten seien.

In der mündlichen Verhandlung vom 18.02.2022 wies das Landgericht den Kläger darauf hin, dass er noch genauer dazu vortragen müsse, dass er außerhalb seiner dienstvertraglichen Verpflichtungen als Vorstand tätig geworden sei. Darüber müsse er noch zur Höhe der ihm nach § 612 BGB behauptetermaßen zustehenden Vergütung vortragen (vgl. S. 2 Mitte des Protokolls der mündlichen Verhandlung, Bl. 51 d.A.).

Mit Endurteil vom 13.05.2022, Az. 43 O 10558/21, wies das Landgericht München I die Klage ab.

Hinsichtlich der vom Kläger gestellten Rechnung Nr. …-007 vom 30.06.2020 über 46.053,00 € führte das Landgericht zur Begründung seiner Entscheidung aus, dass eine auf die Gewährung einer Provision in Höhe von 1,2% aus einem Betrag von 3.232.000,00 € gerichtete Willenserklärung des Aufsichtsrats der Beklagten, aufgrund derer eine dementsprechende Vergütungsvereinbarung mit dem Kläger zustande gekommen wäre, nicht ersichtlich sei. Aus den Protokollen der telefonischen Aufsichtsratssitzungen vom 30.08.2018 laut Anl. K 8 und vom 12.12.2018 laut Anl. K 6 lasse sich, auch wenn dort die Provisionsfrage thematisiert worden sei, eine diesbezügliche Beschlussfassung des Aufsichtsrats nicht entnehmen (LGU S. 7 erster und zweiter Absatz). Die vom Kläger behaupteten mündlichen Provisionszusagen stellten keinen für eine Provisionszusage erforderlichen Aufsichtsratsbeschluss dar, da es sich dabei nur um Gespräche mit einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern bzw. um Absprachen zwischen zwei Aufsichtsratsmitgliedern gehandelt habe (LGU S. 7 letzter Absatz).

Zur Begründung seines Zahlungsanspruchs könne sich der Kläger auch nicht auf § 612 BGB berufen. Diese Vorschrift komme nämlich nicht zum Tragen, da die vom Kläger behaupteten Tätigkeiten nicht über das hinausgegangen seien, was der Kläger nach dem zwischen ihm und der Beklagten bestehenden Anstellungsvertrages vom 15.07.2017 laut Anl. K 1 an Leistung geschuldet habe. Ein Anspruch auf zusätzliche Vergütung bestehe weder aufgrund qualitativer noch aufgrund quantitativer Mehrleistung.

Nachdem der Geschäftsgegenstand der Beklagten ausweislich ihrer Satzung u.a. die Veräußerung von Beteiligungen an Firmen der Industrie und von Beteiligungen an Handelsgesellschaften sei, falle der Verkauf der Maschinenbausparte in den vertraglich vereinbarten Aufgabenbereich des Klägers, da dieser Alleinvorstand der Beklagten und nach § 1 Abs. 1 des Dienstvertrages vom 15.07.2017 insbesondere für den Bereich Finanz- und Rechnungswesen sowie die Berichterstattung der AG und des Konzerns verantwortlich gewesen sei (LGU S. 8 und 9).

Es sei auch keine quantitative Mehrleistung ersichtlich, da der Anstellungsvertrag des Klägers kein Stundenhonorar, sondern ein arbeitszeitunabhängiges pauschales Monatsgehalt vorsehe und der Kläger damit nach der vertraglichen Regelung seine gesamte Arbeitszeit und nicht nur einen Teil davon der Beklagten zur Verfügung zu stellen habe. Im Übrigen rechtfertige auch der vom Kläger vorgetragene zeitliche Mehraufwand von 592 Stunden im Zeitraum von Februar 2018 bis Juli 2019 und damit von rund 7,6 Stunden pro Woche bei einem Gesamtaufwand von 20,6 Wochenstunden für die Beklagte kein zusätzliches Honorar. Schließlich habe sich die Beklagte nach dem eigenen Vortrag des Klägers in einer akuten wirtschaftlichen Krisenlage befunden und habe u.a. wegen hoher Beraterkosten die Insolvenz gedroht, sodass allein deshalb im Hinblick auf § 87 Abs. 1 AktG eine zusätzliche Entlohnung des Klägers nicht nach § 612 BGB geschuldet sei (LGU S. 10).

Hinsichtlich der Rechnung des Klägers Nr. …-008 vom 30.06.2020 über 21.205,80 € gelte im Grunde das zur Rechnung Nr. …-007 Gesagte entsprechend mit der Maßgabe, dass für die Beurteilung, ob die vom Kläger erbrachten Tätigkeiten bereits nach dem Dienstvertrag geschuldet waren, nicht der Dienstvertrag vom 15.07.2017 laut Anl. K 1, sondern der Dienstvertrag vom 30.09.2019 laut Anl. K 2 heranzuziehen sei. Der in dem Dienstvertrag vom 30.09.2019 enthaltene Passus, dass Tätigkeiten, die nicht in der beigefügten Tätigkeitsbeschreibung aufgelistet seien, separat zu verhandeln und zu vergüten seien, ändere am fehlenden Anspruch des Klägers nichts. Denn der Verkauf der Darlehensforderungen gegen die deutsche Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft falle unter Punkt 1 der Anlage zu Vertrag vom 30.09.2019. Im Übrigen räume § 5 Abs. 5 des Dienstvertrages vom 30.09.2019 dem Kläger auch nur einen Anspruch auf Verhandlung über etwaige Zusatztätigkeiten ein, nicht aber einen Vergütungsanspruch (LGU S. 11).

Bezüglich der Rechnung Nr. …-009 vom 30.06.2020 über 9.250,00 €, deren Gegenstand die Suche von Interessenten für Immobilien in Hagen war, gelte nichts anderes als das für die Rechnung Nr. …-008 Gesagte. Auch diese Tätigkeit falle unter die nach dem Dienstvertrag vom 30.09.2019 ohnehin vom Kläger Geschuldeten und sei deshalb nicht gesondert zu vergüten (LGU S. 12).

Im Übrigen wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen.

Der Kläger verfolgt unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vortrags mit seiner Berufung sein erstinstanzliches Klageziel vollumfänglich weiter.

Er rügt u.a., dass das Landgericht den Inhalt des Protokolls der Aufsichtsratssitzung vom 28.01.2019 laut Anl. K 12 unberücksichtigt gelassen habe. Darüber hinaus habe es sowohl die Geschäftsfelder der W. Gruppe als auch deren Organisationsstruktur und die Arbeitsaufteilung innerhalb der Gruppe verkannt. Die verschiedenen Bereiche der Beklagten würden durch eine eigene Geschäftsführung und einen eigenen Aufsichtsrat unabhängig von der Beklagten als Muttergesellschaft geführt. Der vom Dienstvertrag des Klägers umfasste Aufgabenbereich sei im wesentlichen auf die Erstellung von Abschlüssen sowie die interne und externe Berichterstattung beschränkt gewesen. Auch in der Vergangenheit seien Sonderaufgaben nicht schriftlich vereinbart, sondern mit dem jeweiligen Aufsichtsratsvorsitzenden mündlich verhandelt und abgestimmt worden. Diese Tätigkeiten seien immer gesondert vergütet worden, da zwischen den Parteien Einigkeit darüber bestanden habe, dass Sondervergütungen von der Grundvergütung gemäß Dienstvertrag nicht erfasst sein sollten (Berufungsbegründung S. 5, Bl. 113 d.A.).

Das Landgericht habe auch nicht berücksichtigt, dass die vom Kläger durchgeführte Financial Due Dilligence nicht die der Beklagten, sondern die der Tochtergesellschaft W. Maschinenbau Gruppe gewesen sei. Bei dieser sei der Kläger aber nach dem Dienstvertrag nur Aufsichtsrat gewesen, zu dessen Aufgaben die Erstellung einer Financial Due Dilligence nicht gehöre (Berufungsbegründung S. 6, Bl. 114 d.A.).

In quantitativer Hinsicht liege die Mehrarbeit um 57% über den Normalstunden.

Auch die mit der Rechnung Nr. …-008 abgerechneten Tätigkeiten seien vom Dienstvertrag nicht abgedeckt gewesen. Bei der Veräußerung der Darlehensrückzahlungsforderung (“loan note“) handle es sich nämlich um die Veräußerung eines Vermögenswertes der Beklagten, die gemäß § 5 Abs. 5 AV 2019 gesondert zu vergüten sei.

Der Rechnung Nr. …/009 vom 30.06.2020 über 9.520,00 € lägen Leistungen des Klägers betreffend „reversed IPO“ und den Verkauf von Tochtergesellschaften bzw. von Grundstücken von Tochtergesellschaften zu Grunde.

Der Kläger beantragt daher:

I. Das Endurteil des Landgerichts München I vom 13.05.2022, Az. 43 O 10588/21 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 76.778,80 nebst 5% Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 27.02.2021 zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte bemängelt, dass die Berufung des Klägers bereits unzulässig sei und verteidigt im Übrigen das landgerichtliche Urteil.

Sie bestreitet, dass die Financial Due Dilligence der W. Maschinenbaugruppe vom Kläger durchgeführt worden sei. Diese sei vielmehr von der Erwerberin vorgenommen worden. Der Kläger habe lediglich unterstützt, Unterlagen für die Due Dilligence zusammenzustellen. Im Übrigen sei der Vortrag des Klägers zur Financial Due Dilligence unsubstanziiert und neu und deshalb zurückzuweisen (Berufungserwiderung S. 5, zweiter Absatz, Bl. 128 d.A.).

Der Senat hat am 21.02.2024 mündlich verhandelt. Er hat einen Hinweis erteilt. Auf den Hinweis vom 13.12.2023, Bl. 142/143 d.A., das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21.02.204, die zwischen den Prozessbevollmächtigten gewechselten Schriftsätze und den übrigen Akteninhalt wird Bezug genommen.

B.

50

Die Berufung des Klägers ist zulässig, da sie den formalen Anforderungen des § 520 Abs. 3 ZPO genügt.

51

Sie ist jedoch unbegründet, da dem Kläger kein Anspruch auf die von ihm geltend gemachte Sondervergütung zusteht und das Landgericht deshalb die Klage zu Recht abgewiesen hat.

52

I. In jeder Hinsicht zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass ein Zahlungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte wegen seiner Beteiligung am Verkauf der Maschinenbausparte der Beklagten an die deutsche Tochter der S. Group nicht besteht, da der Kläger weder einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung einer weiteren Vergütung wegen einer qualitativen oder quantitativen Mehrleistung nach § 612 BGB (1.) noch einen Anspruch aufgrund einer zwischen ihm und der Beklagten zustande gekommenen, vom Anstellungsvertrag unabhängigen Provisionsvereinbarung hat (2.).

53

1. Die Mitwirkung des Klägers am Verkauf der Maschinenbausparte der Beklagten war eine nach dem Anstellungsvertrag laut Anl. K 1 vom Kläger gegenüber der Beklagten geschuldete Tätigkeit.

54

Denn gemäß der Regelung des § 1 Abs. 1 S. 1 AV 2017, die im ersten Spiegelstrich der Anlage zum AV 2017 inhaltsgleich wiederholt wird, umfasst der zwischen den Parteien vertraglich vereinbarte Aufgabenbereich des Klägers die Führung der Geschäfte der Beklagten ohne Beschränkung auf einzelne Bereiche. Dass der Anstellungsvertrag 2017 in § 1 Abs. 1 S. 2 stipuliert, dass der Kläger „(i) nsbesondere (…) für den Bereich Finanz- und Rechnungswesen sowie die Berichtserstattung [sic] der AG und des Konzerns verantwortlich“ ist, ändert – wie sich schon aus der Verwendung des Wortes „insbesondere“ ergibt – an der umfassenden Geschäftsleitungsaufgabe des Klägers nach § 1 Abs. 1 S. 1 AV 2017 nichts.

55

Eine andere, dem klaren Wortlaut des § 1 Abs. 1 S. 1 widersprechende Auslegung des Anstellungsvertrags 2017 laut Anl. K 1 wäre auch nicht interessengerecht. Denn in diesem Fall wäre der Kläger zwar nach § 76 Abs. 1 AktG organschaftlich zur alleinigen Leitung der Gesellschaft unter eigener Verantwortung verpflichtet und berechtigt, da er (wie bereits seit 2001) Alleinvorstand der Beklagten war und es deshalb keine weiteren Vorstandsmitglieder gab, die die Leitungsaufgaben außerhalb des Bereichs Finanz- und Rechnungswesen hätten wahrnehmen können, während sein Vergütungsanspruch gegenüber der Gesellschaft nach dem Anstellungsvertrag 2017 aber auf Tätigkeiten im Bereich Finanz- und Rechnungswesen beschränkt wäre. Für die vom Kläger aufgrund seiner organschaftlichen Verpflichtung zur Geschäftsleitung nach § 76 Abs. 1 AktG zu erbringenden Vorstandstätigkeiten außerhalb des Bereichs Finanz- und Rechnungswesen bestünde ein Vergütungsanspruch gegen die Beklagte dagegen allenfalls nach § 612 BGB mit allen sich daraus ergebenden Unsicherheiten für beide Vertragsparteien sowohl hinsichtlich der Abgrenzung der Tätigkeitsbereiche als solcher als auch bezüglich der Höhe der gegebenenfalls nach § 612 Abs. 2 BGB geschuldeten üblichen Vergütung. Da aber bei der Auslegung von Verträgen davon auszugehen ist, dass die Parteien Vernünftiges wollten (vgl. Ellenberger in Grüneberg, BGB, 83. Auflage, München 2024, Rdnr. 26 zu § 133 BGB m.w.N.), und deshalb keine solche streitbefangene und mit großen Unsicherheiten verbundene Aufgaben- und Vergütungsregelung treffen wollten, ist der Anstellungsvertrag dahingehend auszulegen, dass sich der Anwendungsbereich des Anstellungsvertrags 2017 auf die gesamte Vorstandstätigkeit des Klägers erstreckt und in §§ 5 und 6 AV 2017 deshalb eine abschließende Vergütungs- und Aufwendungserstattungsregelung für die Vorstandstätigkeit des Klägers getroffen werden sollte.

56

Da nach der Satzung der Beklagten Geschäftsgegenstand der Beklagten auch die Veräußerung von Beteiligungen an Firmen der Industrie ist, gehörte die Durchführung des Verkaufs der Maschinenbausparte der Beklagten nach dem Anstellungsvertrag zum Aufgabenbereich des Klägers als deren Vorstand, sodass für die Anwendung von § 612 BGB grundsätzlich kein Raum verbleibt.

57

Dies gilt auch für die Mitwirkung des Klägers an der Durchführung der due dilligence hinsichtlich der zu veräußernden Maschinenbaugruppe der Beklagten. Mit nachgelassenem Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 25.03.2022 (dort S. 2 unten, Bl. 57 d.A.) ließ der Kläger hierzu vortragen, dass er im Rahmen der „Financial Due Dilligence“ im Zeitraum von Februar bis Juni 2018 jeweils 40 Stunden Arbeitszeit für die „Abschlüsse der Gruppe zum 31.12.2017“ und für „Budget/Vorschau der Gruppe 2018 inkl. Erläuterungen zu Bilanz und G& V sowie Auftragseingänge bzw. -bestand“ aufgewandt habe. Wie das Landgericht entgegen der Ansicht der Berufung richtig feststellte (LGU S. 9 unter Punkt B I. 2.3), fallen diese Tätigkeiten nach dem Anstellungsvertrag laut Anl. K 1 in den Aufgabenbereich des Klägers.

58

Zwar war Aufgabe des Klägers sowohl nach § 1 Abs. 2 S. 1 AV 2017 als auch nach dem dritten Spiegelstrich der Tätigkeitsliste nur die Erstellung des Jahresabschlusses der Beklagten sowie des Konzernabschlusses iSd. §§ 290 ff. HGB (“Jahresabschluss des Konzerns“), nicht aber die Erstellung der Jahresabschlüsse der einzelnen Konzernunternehmen. Dies kommt auch im vierten Spiegelstrich der Tätigkeitsliste zum Ausdruck, wonach der Kläger die Tochtergesellschaften bei der Erstellung der Jahresabschlüsse unterstützt, sodass grundsätzlich davon auszugehen ist, dass diese ihre Jahresabschlüsse selbst erstellen. Darum geht es streitgegenständlich aber auch gar nicht. Denn die Beklagte trug im Klageerwiderungsschriftsatz vom 09.02.2022, dort S. 4 erster Absatz, Bl. 37 d.A. vor, dass der Kläger „Unterlagen für die Due Dilligence der S. Group zusammenstellen“ sollte. Diesen Vortrag der Beklagten hat der Kläger im nachgelassenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 25.03.2022 nicht bestritten, sondern insoweit auf den Hinweis des Landgerichts zum bislang unsubstanziierten Vortrag des Klägers zu seinen Tätigkeiten (vgl. den Hinweis in der mündlichen Verhandlung vom 18.02.2022 ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung, Bl. 51 d.A.) ergänzend vorgetragen, welche Unterlagen er für die Due Dilligence der S. Group zusammengestellt habe und mit welchem zeitlichen Aufwand dies für ihn verbunden gewesen sei, nämlich die „Abschlüsse der Gruppe zum 31.12.2017“ und die „Budget/Vorschau der Gruppe für 2018 inkl. Erläuterungen zu Bilanz und G& V sowie Auftragseingänge bzw. -bestand“. Da die Mitwirkung an der Due Dilligence der S. Group aber dem Verkauf der Maschinenbaugruppe dienen sollte und dieser – wie oben dargelegt – Geschäftsgegenstand der Beklagten war, gehörte auch die Vorbereitung von Unterlagen für die Due Dilligence der S. Group zum vertraglichen Aufgabenbereich des Klägers, sodass insoweit ein Rückgriff auf § 612 BGB nicht möglich ist.

59

Wenn der Kläger nunmehr in der Berufung (vgl. Berufungsbegründung S. 6, Bl. 114 d.A.) vortragen lässt, dass er die Due Dilligence der Maschinenbaugruppe durchgeführt habe, dies aber, da er für die Maschinenbaugruppe nicht tätig gewesen sei, nicht von seinem Aufgabenbereich umfasst gewesen sei, so handelt es sich dabei um neuen Vortrag iSd. § 531 ZPO, der auch nicht nach § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen ist. Denn in erster Instanz war – wie oben ausgeführt – unstreitig, dass die Due Dilligence hinsichtlich der Maschinenbaugruppe von der S. Group durchgeführt wurde (“Due Dilligence der S. Group“) und der Kläger insoweit nur Unterlagen bezüglich der Maschinenbaugruppe zusammenstellte. Dieser neue Vortrag wäre daher in der Berufung nur zuzulassen, wenn er unstreitig wäre. Dies ist aber nicht der Fall, da die Beklagte in ihrer Berufungserwiderung (dort S. 5 zweiter Absatz, Bl. 128 d.A.) ausdrücklich bestritt, dass der Kläger eine Due Dilligence der Maschinenbaugruppe durchgeführt habe, und insoweit den erstinstanzlich übereinstimmenden Vortrag der Parteien wiederholte.

60

Im Übrigen und ohne, dass es darauf noch ankäme, ist die neue klägerische Behauptung auch nicht nachvollziehbar, da im Rahmen eines Unternehmenskaufs die Due Dilligence hinsichtlich der Zielgesellschaft (d.h. der Maschinenbaugruppe) regelmäßig weder vom Verkäufer (d.h. der Beklagten) noch von der Zielgesellschaft selbst vorgenommen wird, sondern vom Käufer. Der Verkäufer oder die Zielgesellschaft stellt dem Käufer regelmäßig lediglich Unterlagen zum Zwecke der Durchführung der Due Dilligence zur Verfügung. Diese im Rahmen eines Unternehmenskaufs übliche Vorgehensweise entspricht dem in erster Instanz übereinstimmenden Parteivortrag.

61

§ 612 Abs. 1 BGB ist jedoch auch anzuwenden, wenn über die vertraglich geschuldete Tätigkeit hinaus vom Dienstnehmer Sonderleistungen erbracht werden, die durch die vereinbarte Vergütung nicht abgegolten sind, und vertraglich nicht geregelt ist, wie diese Dienste zu vergüten sind. Wird vom Dienstnehmer eine quantitative oder qualitative Mehrleistung gegenüber der vertraglich vereinbarten Leistung erbracht, schuldet der Dienstberechtigte hierfür die übliche Vergütung, wenn die Arbeit den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist (vgl. Müller-Glöge in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage, München 2023, Rdnr. 19 zu § 612 BGB). Wie das Landgericht richtig erkannt hat, liegt streitgegenständlich weder eine quantitative (a.) noch eine qualitative Mehrleistung vor (b.).

62

a. Auf eine quantitative Mehrleistung im Hinblick auf die vom Kläger behauptetermaßen wegen des Verkaufs der Maschinenbaugruppe der Beklagten im Zeitraum von Februar 2018 bis Juli 2019 über seine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 13 Wochenstunden hinaus geleisteten 592 Arbeitsstunden (vgl. Schriftsatz der Klägervertreterin vom 25.03.2022, S. 2 und 3, Bl. 57 und 58 d.A.), kann sich der Kläger nicht berufen, da der Anstellungsvertrag 2017 schon keine Regelung zur wöchentlichen Arbeitszeit des Klägers enthält und es deshalb nicht möglich ist, den nach dem Anstellungsvertrag 2017 grundsätzlich zeitmäßig geschuldeten wöchentlichen Umfang seiner Tätigkeit zu bestimmen. Vielmehr ergibt sich aus dem Anstellungsvertrag 2017, dass die Parteien bewusst keine wöchentliche Arbeitszeit festlegen wollten, da in § 1 Abs. 2 S. 2 AV 2017 ohne Stipulierung eines Arbeitszeitumfangs geregelt ist, dass der Kläger der Beklagten seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen wird.

63

Unabhängig davon setzt ein Vergütungsanspruch wegen quantitativer Mehrarbeit nach § 612 BGB eine Vergütungserwartung voraus. Diese ist aber objektiv nur gegeben, wenn der Dienstnehmer keine Dienste höherer Art iSd. § 627 BGB schuldet (vgl. Müller-Glöge in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage, München 2023, Rdnr. 22 zu § 612 BGB; Maties in BeckOGK BGB, Stand: 01.09.2023, Rdnr. 67 zu § 612 BGB). Da ein Vorstand einer Aktiengesellschaft jedoch derartige Dienste schuldet, besteht bei quantitativer Mehrarbeit keine Vergütungserwartung und kann ein Vergütungsanspruch nach § 612 BGB nicht darauf gestützt werden.

64

b. Ein Fall qualitativer Mehrarbeit liegt schon deshalb nicht vor, weil die Mitwirkung am Verkauf der Maschinenbaugruppe – wie oben dargelegt – Teil des nach § 1 Abs. 1 S. 1 AV 2017 vertraglich vereinbarten Aufgabenbereichs des Klägers ist und deshalb von ihm geschuldet war.

65

2. Zu Recht hat das Landgericht auch angenommen, dass der Vortrag des Klägers zum Abschluss einer Vereinbarung zwischen den Parteien über die Zahlung einer Sondervergütung wegen des erfolgreichen Verkaufs der Maschinenbaugruppe schon nicht schlüssig ist und deshalb ein Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Sondervergütung nicht besteht.

66

a. Für den Abschluss der vom Kläger behaupteten Vergütungsvereinbarung wäre auf Seiten der Beklagten gemäß § 112 AktG der Aufsichtsrat der Beklagten zuständig, der gemäß § 108 Abs. 1 AktG durch Beschluss entscheidet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und auch nach der allgemeinen Meinung in der Literatur können Beschlüsse des Aufsichtsrats nur ausdrücklich, nicht jedoch stillschweigend oder konkludent gefasst werden. Denn es muss aus Gründen der Rechtssicherheit gewährleistet sein, dass das Zustandekommen eines Beschlusses festgestellt werden kann. Dies ist bei stillschweigend oder konkludent gefassten Beschlüssen nicht möglich, weil bei diesen nicht die für eine Abstimmung unerlässlichen Feststellungen darüber getroffen werden können, inwieweit Beschlussfähigkeit, Zustimmung, Ablehnung und Stimmenthaltungen gegeben sind (vgl. BGH, Urteil vom 21.06.2010 – II ZR 24/09, Rdnr. 14 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung und Literatur).

67

Ein demnach erforderlicher ausdrücklicher Beschluss des AufsichtsratsBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Beschluss
Beschluss des Aufsichtsrats
über die Gewährung einer Sondervergütung aufgrund der Beteiligung des Klägers am Verkauf der Maschinenbaugruppe im Team „Sch.“ liegt jedoch nicht vor. Ausweislich der vom Kläger vorgelegten Protokolle von Aufsichtsratssitzungen hat sich der Aufsichtsrat der Beklagten am 30.08.2018, 12.12.2018 sowie am 28.01.2019 mit der Frage der Gewährung einer Sondervergütung für die Mitglieder des Teams „Sch.“ befasst, ohne einen ausdrücklichen Beschluss hierüber gefasst zu haben.

68

aa. Wenn die Berufung (vgl. Berufungsbegründung S. 2 unten, Bl. 110 d.A. und Schriftsatz des Klägervertreters vom 05.02.2024, S. 1 zweiter Absatz, Bl. 152 d.A.) meint, dass sich alle Aufsichtsratsmitglieder in der Aufsichtsratssitzung vom 30.08.2018 darüber einig gewesen seien, dass es sich bei der Tätigkeit im Team „Sch.“ um eine zu vergütende Sonderleistung handle, so mag dies ausweislich des Protokolls der Sitzung laut Anl. K 5 zutreffen. Diese (unterstellte) Einigkeit der Aufsichtsratsmitglieder im Grundsatz wurde aber explizit von der den Aufsichtsratsmitgliedern problematisch erscheinenden und deshalb erst noch zu klärenden rechtlichen Zulässigkeit einer solchen Sondervergütung abhängig gemacht (vgl. S. 2 letzter Absatz des Protokolls der Aufsichtsratssitzung vom 30.08.2018 laut Anl. K 5), sodass – zumal das Protokoll eine Beschlussfassung nicht erwähnt – daraus nicht geschlossen werden kann, der Aufsichtsrat hätte in seiner Sitzung vom 30.08.2018 einen Beschluss über die Gewährung einer Sondervergütung für den Kläger gefasst. Dies wurde vom Kläger erstinstanzlich auch gar nicht behauptet (vgl. Schriftsatz der vormaligen Klägervertreterin vom 17.01.2022, S. 7 letzter Absatz, Bl. 24 d.A.).

69

Wenn nunmehr im Schriftsatz des Klägervertreters vom 05.02.2024, S. 2 dritter Absatz, Bl. 153 d.A. erwogen wird, dass es sich dabei um einen konkludenten Beschluss des AufsichtsratsBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Beschluss
Beschluss des Aufsichtsrats
gehandelt haben könnte, ersetzt dies jedoch nicht den stets notwendigen ausdrücklichen Aufsichtsratsbeschluss.

70

bb. Ebenso wenig kommt es auf das vom Kläger behauptete off-the-record-Gespräch im Anschluss an die Aufsichtsratssitzung vom 30.08.2018 an, in dem eine Einigung dahingehend erfolgt sei, dass das Team Sch. in Höhe von 3% des Gesamtverkaufswertes vergütet werden solle (vgl. Berufungsbegründung S. 3 erster und zweiter Absatz, Bl. 111 d.A.), an.

71

(1) Zum einen ist dies nämlich neuer Vortrag iSd. § 531 ZPO, da der Kläger in erster Instanz nur behauptete, dass in dem off-the-record-Gespräch vom 30.08.2018 „(e) ine Vergütung an das Team von 3% des Gesamtverkaufswertes (…) als angemessen angesehen“ worden sei (vgl. Schriftsatz der damaligen Klägervertreterin vom 17.01.2022, S. 8 erster Absatz, Bl. 25 d.A.), was unterstellt werden kann, nicht aber, dass in dem off-the-record-Gespräch vom 30.08.2018 auch ein ausdrücklicher Beschluss über eine Sondervergütungsgewährung gefasst worden sei. Nachdem die Beklagte im Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 09.02.2022, dort S. 5 Rdnr. 24, Bl. 38 d.A., eine Beschlussfassung in dem off-the-record-Gespräch vom 30.08.2018 ausdrücklich bestritten hatte, ist der neue Vortrag der Klägerseite zu einer Beschlussfassung in dem off-the-record-Gespräch vom 30.08.2018 gemäß § 531 Abs. 1 ZPO nicht zuzulassen.

72

(2) Zum anderen wäre ein solcher (unterstellter) ausdrücklicher Beschluss auch unwirksam, da er nach dem eigenen Vortrag des Klägers außerhalb einer Aufsichtsratssitzung (“off-the-record“) gefasst worden wäre. Dies verstößt aber gegen § 15 Abs. 2 S. 1 der Satzung der Beklagten, wonach Beschlüsse des Aufsichtsrats in Sitzungen gefasst werden, da es sich dabei auch nicht um eine nach § 15 Abs. 2 S. 2 der Satzung (das Einverständnis aller Aufsichtsratsmitglieder unterstellt) grundsätzlich zulässige „schriftliche, telegrafische oder fernmündliche“ Beschlussfassung gehandelt hätte.

73

Aus diesem Grund war das Landgericht auch entgegen der Ansicht der Berufung nicht gehalten, zu dem off-the-record-Gespräch vom 30.08.2018 Beweis zu erheben.

74

cc. In der Aufsichtsratssitzung vom 12.12.2018 wurde unter TOP 8 zwar ein Beschluss hinsichtlich der „Vergütung Sonderprojekte“ gefasst. Entsprechend dem Vorschlag des Aufsichtsratsvorsitzenden J. G. wurde aber nur beschlossen, dass eine Vereinbarung erarbeitet werden solle, die die Provisionsvergütung (3% des Verkaufswertes oder der Wertschöpfung) im Falle eines Verkaufs von Vermögenswerten des Konzerns regelt (vgl. S. 3 des Protokolls der Aufsichtsratssitzung vom 12.12.2018 laut Anl. K 6). Damit wurde jedoch nur die Vorbereitung einer Sondervergütungsvereinbarung beschlossen, nicht jedoch bereits eine Sondervergütungsvereinbarung selbst.

75

Wenn der Kläger nunmehr mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 05.02.2024, dort S. 1 und 2, Bl. 152/153 d.A., vortragen lässt, dass der Aufsichtsrat in seiner Sitzung vom 12.12.2018 einen ausdrücklichen Beschluss über die Gewährung einer Sondervergütung an das Team Sch. gefasst habe, der nur nicht in der gebotenen und notwendigen Klarheit verschriftlicht worden sei, so handelt es sich dabei um neuen Vortrag iSd. § 531 ZPO. Denn erstinstanzlich hat der Kläger eine derartige Behauptung nicht erhoben. Vielmehr hat er in erster Instanz mit Schriftsatz seiner damaligen Prozessbevollmächtigten vom 17.01.2022, dort S. 8 zweiter Absatz, Bl. 25 d.A., nur darlegen lassen, dass der Aufsichtsrat einem Vorschlag des J. G. gefolgt sei, eine Vereinbarung zu erarbeiten, die eine Provisionsvergütung regeln solle (was dem Protokoll der Aufsichtsratssitzung vom 12.12.2018 laut Anl. K 6 entspricht). Im Schriftsatz der seinerzeitigen Klägervertreterin vom 25.03.2022, dort S. 4 vierter Absatz, Bl. 59 d.A., wurde sogar ausdrücklich ausgeführt, dass „im Aufsichtsrat ein Beschluss über die Sondervergütung nicht gefasst wurde“ und bezüglich der Aufsichtsratssitzung vom 12.12.2018 nur auf die diesbezüglichen Ausführungen im Schriftsatz vom 17.01.2022, dort S.8, Bezug genommen (vgl. Schriftsatz der Klägervertreterin vom 25.03.2022, S. 11, zweiter Absatz, Bl. 66 d.A.). Dieser neue Klägervortrag ist – wie in der mündlichen Verhandlung vom 21.02.2024 ausführlich mit dem Klägervertreter erörtert wurde – nach § 531 ZPO nicht zuzulassen. Er ist insbesondere nicht unstreitig, da die Beklagte bereits in erster Instanz vorgetragen hatte, dass der Aufsichtsrat in seiner Sitzung vom 12.12.2018 keinen Beschluss über eine Sondervergütung gefasst habe (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 09.02.2022, S. 7, vorletzter Absatz, Rdnr. 37, Bl. 40 d.A.). Im Übrigen hat die Beklagte diesen neuen Vortrag des Klägers auch mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 19.02.2024, S. 2 oben, Bl. 161 d.A. (nochmals) ausdrücklich bestritten.

76

Dass auch die Aufsichtsratsmitglieder davon ausgingen, dass in der Aufsichtsratssitzung vom 12.12.2018 nur Beschluss über die Vorbereitung einer Vergütungsvereinbarung, nicht aber über die Gewährung einer Sondervergütung gefasst wurde, und es deshalb auch keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte für den neuen Vortrag des Klägers gibt, folgt im Übrigen aus der Email des Aufsichtsratsvorsitzenden an den Kläger vom 13.12.2018, 16:43 Uhr laut Anl. K 7, mit der der Kläger in Umsetzung des Aufsichtsratsbeschlusses vom 12.12.2018 beauftragt wurde, einen juristischen gangbaren Weg zu finden, um die vom Aufsichtsrat beabsichtigte Sondervergütung für das Team „Sch.“ zu ermöglichen. Aus diesem Grund kann entgegen der Ansicht des Klägers (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 05.02.2024, S. 2 dritter Absatz, Bl. 153 d.A.) aus dem Aufsichtsratsbeschluss vom 12.12.2018 auch nicht die Bestätigung eines in der Aufsichtsratssitzung vom 30.08.2018 behauptetermaßen gefassten „konkludenten“ Beschlusses abgeleitet werden.

77

dd. Soweit die Berufung rügt, das Landgericht habe den Sachvortrag des Klägers zur Aufsichtsratssitzung vom 28.01.2019 und das diesbezügliche Protokoll laut Anl. K 12 übergangen (vgl. Berufungsbegründung S. 4 zweiter Absatz, Bl. 112 d.A.), dringt sie auch insoweit nicht durch. Denn auch in der Sitzung 28.01.2019 fasste der Aufsichtsrat keinen Beschluss über die Gewährung einer Sondervergütung für die Mitglieder des Teams Sch. Vielmehr wurde dort vom Aufsichtsratsvorsitzenden unter TOP 7 nur das Ergebnis der zwischenzeitlich veranlassten Prüfung der rechtlichen Zulässigkeit einer Sondervergütung bekanntgegeben, wonach eine „Provisionszahlung“ „nur an Personen außerhalb der Gesellschaften der WHAG“, nicht aber an Aufsichtsratsmitglieder möglich sei (vgl. S. 2 letzter Absatz des Protokolls der Aufsichtsratssitzung vom 30.08.2018 laut Anl. K 12).

78

ee. Ob – wie der Kläger behauptet (vgl. Schriftsatz der damaligen Klägervertreterin vom 25.03.2022, S. 11 erster Absatz, Bl. 66 d.A.) – in den off-the-record-Gesprächen im Zeitraum von Februar 2018 bis Juli 2018 „mehrfach festgelegt (worden sei), dass das Team Sch. insgesamt eine Sonderzahlung in Höhe von 3% des Verkaufswertes erhalten“ solle, ist unerheblich. Denn selbst wenn dem so wäre, würde sich daraus kein wirksamer Aufsichtsratsbeschluss ableiten lassen. Denn zum einen haben an diesen off-the-record-Gesprächen nach dem eigenen Vortrag des Klägers die beiden damals von der Arbeitnehmerseite entsandten Aufsichtsratsmitglieder nicht teilgenommen, da der Verkauf der Maschinenbausparte der Beklagten soweit wie möglich geheim gehalten werden sollte, um die Belegschaft der Maschinenbausparte nicht zu beunruhigen. Zum anderen sind – wie bereits oben unter bb (2)) dargelegt – Beschlüsse im Rahmen von off-the-record-Gesprächen nach der Satzung der Beklagten nicht zulässig.

79

Nach alledem kann der Kläger in Ermangelung eines ausdrücklichen Aufsichtsratsbeschlusses über die Gewährung einer Sondervergütung für die Mitglieder des Teams „Sch.“ zur Begründung keine solche Sondervergütung beanspruchen.

80

b. Dass einer der beiden zeitlich in Betracht kommenden Aufsichtsratsvorsitzende R. oder G. – ohne einen dementsprechenden Aufsichtsratsbeschluss und dementsprechend als Vertreter ohne Vertretungsmacht – dem Kläger mündlich die beanspruchte Sondervergütung zugesagt hätte, hat der Kläger erstinstanzlich nicht behauptet. Eine solche Behauptung liegt auch nicht in dem Vortrag „Damit wurde die Provision auf Basis der mündlichen Vereinbarung fällig“ im Schriftsatz der damaligen Klägervertreterin vom 17.01.2022, S. 7 Mitte, Bl. 24 d.A., da sich daraus schon nicht entnehmen lässt, von wem die behauptete Zusage abgegeben worden sein soll. Auch in der Berufungsbegründung wird nicht behauptet, einer der beiden zeitlich in Betracht kommenden Aufsichtsratsvorsitzenden hätten eine solche Zusage erteilt. Wenn nunmehr im Schriftsatz des Klägervertreters vom 05.02.2024, dort S. 2 und 3, Bl. 153/154 d.A. ausgeführt wird, dass das Fehlen eines Aufsichtsratsbeschlusses über die Gewährung einer Sondervergütung die Rechtsgültigkeit einer vom Aufsichtsratsvorsitzenden dem Kläger erteilten mündlichen Zusage über die Gewährung einer Sondervergütung im Verhältnis des Klägers zur Beklagten nicht berühren würde, so handelt es sich dabei um abstrakte Rechtsausführungen, die jedoch keine Behauptung einer solchen Zusage durch einen der beiden zeitlich in Betracht kommenden Aufsichtsratsvorsitzenden (R. oder G.) enthalten.

81

Da die Beklagte bereits in erster Instanz (vorsorglich) bestritten hatte, dass eine mündliche Vereinbarung zwischen den Parteien über die beanspruchte Sondervergütung erfolgt sei, wäre nunmehriger Vortrag zu einer Zusage durch die Aufsichtsratsvorsitzenden R. oder G. auch nach § 531 ZPO nicht zuzulassen.

82

Letztendlich kommt es darauf aber entscheidungserheblich gar nicht an, da selbst wenn man – wie nicht – von einer mündlichen Zusage durch einen der beiden zeitlich in Betracht kommenden Aufsichtsratsvorsitzenden ausgehen sollte, eine solche Zusage nach § 177 Abs. 1 BGB zunächst schwebend unwirksam gewesen wäre, da der Aufsichtsratsvorsitzenden in Ermangelung eines Aufsichtsratsbeschlusses über die Sondervergütungsgewährung (dazu siehe oben unter a) als Vertreter ohne Vertretungsmacht gehandelt hätte (vgl. Spindler in BeckOGK AktG, Stand 01.10.2023, Rdnr 57 zu § 112 AktG). Spätestens durch den Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 09.02.2022 im streitgegenständlichen Verfahren, in dem die durch ihren Aufsichtsrat vertretene Beklagte den (später in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht auch gestellten) Klageabweisungsantrag ankündigte, wurde die Genehmigung des (unterstellten) vom Aufsichtsratsvorsitzenden geschlossenen Vertrages über die Gewährung einer Sondervergütung verweigert und der (unterstellte) Vertrag damit endgültig unwirksam.

83

Einer Beweiserhebung zum Vorliegen einer mündlichen Zusage einer Sondervergütung bedurfte es daher ebenfalls nicht.

84

3. Wenn der Kläger meint (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 05.02.2024, S. 6 und 7, Bl. 157/158 d.A.), die beanspruchte Sondervergütung ließe sich aus § 87 Abs. 1 AktG ableiten, so kann er damit schon deshalb nicht durchdringen, da § 87 AktG ausschließlich dem Schutz der Gesellschaft sowie ihrer Gläubiger, Aktionäre und Arbeitnehmer vor übermäßigen Bezügen von Vorstandsmitgliedern dient, damit keine Schutznorm zugunsten von Vorstandsmitgliedern ist und letztere deshalb aus ihr keinen Anspruch auf ein angemessenes Gehalt ableiten können (vgl. Koch, in ders., AktG, 17. Auflage, München 2023, Rdnr. 1 zu § 87 AktG).

85

4. Ob der am Team Sch. beteiligte externe Berater P. für seine Tätigkeit eine Vergütung erhalten hat, spielt für die Frage eines Vergütungsanspruchs des Klägers keine Rolle. Denn ausschlaggebend sind insoweit ausschließlich die von der Beklagten mit den Teammitgliedern getroffenen oder gerade nicht getroffenen Abmachungen. Einen Anspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auf Gleichbehandlung aller Teammitglieder gibt es nicht.

86

II. Im Ergebnis nicht zu beanstanden ist die Klageabweisung durch das Landgericht auch hinsichtlich der Rechnung Nr. …-008 wegen der Mitwirkung des Klägers am Verkauf der L. N. vom 28.05.2020.

87

1. Der in den AV 2019 gegenüber dem AV 2017 neu aufgenommene § 5 Abs. 5 sieht vor, dass Tätigkeiten, die nicht in der Anlage zum AV 2019 aufgeführt sind, separat zu verhandeln und zu vergüten sind. Aus der richtigen Feststellung des Landgerichts, dass der Verkauf der L. N. an die Muttergesellschaft der S. Group nach § 1 Abs. 1 S. 1 AV 2019 zum vertraglichen Aufgabenbereich des Klägers als Vorstand der Beklagten gehörte, allein weil es ein von der Beklagten durchgeführtes Geschäft ist, folgt zunächst nur, dass auch der Verkauf der L. N. eine vom Kläger der Beklagten gegenüber vertragliche geschuldete Tätigkeit ist. Auf einen Anspruch aus § 612 BGB wegen des Verkaufs der L. N. kann sich der Kläger – wie beim AV 2017 bezüglich des Verkaufs der Maschinenbaugruppe – auch unter der Geltung des AV 2019 nicht berufen. Eine vergütungspflichtige Mehrarbeit in quantitativer Hinsicht liegt aus den zum AV 2017 genannten Gründen nicht vor, da auch der AV 2019 keine Regelung zur wöchentlichen Arbeitszeit enthält, der Kläger nach wie vor Dienste höherer Art iSd. § 627 BGB schuldet und er laut § 1 Abs. 2 S. 2 AV 2019 verpflichtet ist, der Beklagten seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. In qualitativer Hinsicht besteht ebenfalls kein Anspruch nach § 612 Abs. 1 BGB, da – wie oben ausgeführt – der Verkauf der L. N. zur Führung der Geschäfte der Beklagten gehört und der Kläger deshalb zu dieser Tätigkeit verpflichtet war.

88

2. Entgegen der Ansicht des Landgerichts kann daraus jedoch nicht gefolgert werden, dass insoweit eine gesonderte Vergütung in jedem Fall ausscheidet. Denn da der Kläger Alleinvorstand der Beklagten war und – wie beim AV 2017 – auch der AV 2019 sich auf die gesamte Vorstandstätigkeit des Klägers erstreckt und damit eine umfassende Aufgabenzuweisung enthält, wäre nach Ansicht des Landgerichts eine Zusatzvergütung stets ausgeschlossen. Damit würde der Regelung des § 5 Abs. 5 AV 2019 jedoch jeglicher Anwendungsbereich genommen, was gegen die allgemeine Auslegungsregel, wonach davon auszugehen ist, dass jede Regelungen eine rechtserhebliche Bedeutung haben soll (vgl. Ellenberger in Grüneberg, 83. Auflage, München 2024, Rdnr. 26 zu § 133 BGB), verstoßen würde. Offensichtlich sollte mit § 5 Abs. 5 AV 2019 dem Vorstand jedoch anders als nach den Regelungen des AV 2017 bei „Sonderprojekten“ eine Zusatzvergütung gewährt werden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der Passus „Tätigkeiten bzw. Leistungen die nicht in der beigefügten Tätigkeitsbeschreibung aufgelistet sind“ nicht die allgemeine Tätigkeitsbeschreibung im ersten Spiegelstrich der Anlage zum AV 2019 laut Anl. K 2, sondern die in den weiteren Spiegelstrichen konkret bezeichneten Tätigkeiten meint.

89

3. Da der „Verkauf der L. N.“ nicht unter die in den weiteren Spiegelstrichen der Anlage zum, AV 2019 laut Anl. K 2 aufgelisteten Tätigkeiten fällt, kann dieser Verkauf grundsätzlich eine Zusatzvergütung rechtfertigen, wenn es sich dabei um ein „Sonderprojekt wie (…) die Veräußerung von Vermögenswerte(n) des Konzerns“ handelt. Dies ist jedoch nach Ansicht des Senats nicht der Fall.

90

Mit dem Verkäuferdarlehen (“vendor l.“) wurde der Käuferin, der deutschen Tochter der S. Gruppe, von der Beklagten die letzte Rate der Kaufpreisforderung aus dem Verkauf der Maschinenbaugruppe der Beklagten gestundet. Nachdem laut des insoweit unstreitigen Vortrags der Beklagten im Frühjahr 2020 vor dem Hintergrund der beginnenden Coronapandemie aufgrund der wirtschaftlichen Situation der Käuferin zu befürchten war, dass die Käuferin mit der Rückzahlung des Verkäuferdarlehens ausfallen würde, und gleichzeitig zu besorgen war, dass aufgrund der ebenfalls schwierigen wirtschaftlichen Situation der Mutter der Käuferin die von der Mutter gestellte Sicherheit für die Darlehensrückzahlung entwertet sein würde, vereinbarte die Beklagte mit der Mutter der Käuferin, dass die Mutter die Darlehensrückzahlungsforderung gegen ihre Tochter gegen Zahlung eines Betrages von 594.000 €, d.h. mit einem Abschlag von 10% ablösen könne. Bei dem Verkauf der L. N. ging es also bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise ausschließlich um die möglichst vollständige Beitreibung der letzten Kaufpreisrate aus dem Verkauf der Maschinenbaugruppe der Beklagten an die deutsche Tochter der S. Gruppe, für den dem Kläger – wie oben dargelegt – keine gesonderte Vergütung zustand, unter Einbeziehung der Mutter der Käuferin als Sicherungsgeberin (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 09.02.2022, S. 7, Bl. 40 d.A.: „Dadurch wurde die Absicherung des Darlehens durch die Muttergesellschaft relevant“). Die Realisierung einer im Kaufvertrag vereinbarten, von der Muttergesellschaft der Käuferin gestellten Sicherheit ist aber kein „Sonderprojekt“ iSd. § 5 Abs. 5 AV 2019 und auch keine Veräußerung eines „Vermögenswertes des Konzerns“.

91

Nachdem entgegen der Ansicht des Klägers (vgl. S. 12 Mitte des Schriftsatzes der Klägervertreterin vom 25.03.2022, Bl. 67 d.A.) – wie bereits oben unter I 2 dargelegt – ein Aufsichtsratsbeschluss über die Gewährung einer Sondervergütung an den Kläger für welches Projekt auch immer nicht gefasst wurde, ergibt sich ein Vergütungsanspruch des Klägers wegen des Verkaufs der L. N. auch nicht aus einem Aufsichtsratsbeschluss.

92

III. Schließlich hat das Landgericht die Klage auch hinsichtlich der Rechnung Nr. …-009 (Anl. K 10) zu Recht abgewiesen.

93

Auch hier gilt – wie bei der Vergütung bezüglich des Verkaufs der L. N. ausgeführt –, dass in Ermangelung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 612 Abs. 1 BGB oder eines Aufsichtsratsbeschlusses ein Vergütungsanspruch ausschließlich aus § 5 Abs. 5 AV 2019 abgeleitet werden kann.

94

1. a. Hinsichtlich der „Aktivitäten Reversed [sic] IPO 10-2019 bis 06-2020“, d.h. einer Manteltransaktion, scheidet ein Vergütungsanspruch nach § 5 Abs. 5 AV 2019 allerdings schon deshalb aus, weil eine derartige Manteltransaktion unstreitig nicht durchgeführt wurde, mag der Kläger – was die Beklagte bestreitet – auch Aktivitäten an den Tag gelegt haben, die auf die Durchführung einer solchen Maßnahme abzielten (Erstellung von Unterlagen für potentielle Interessenten sowie Präsentationen und Verhandlungen mit Interessenten, vgl. Berufungsbegründung S. 9, Bl. 117 d.A.). Denn wie sich den in § 5 Abs. 5 AV 2019 beispielhaft aufgeführten „Sonderprojekten“ entnehmen lässt, soll ein Vergütungsanspruch nach § 5 Abs. 5 AV 2019 den erfolgreichen Abschluss des jeweiligen Sonderprojekts voraussetzen, was dadurch deutlich wird, dass die Sonderprojekte in der Erfolgsform aufgeführt sind: „De- bzw. Downlisting der AG-Aktien“ und „Veräußerung von Vermögenswerten“. Dies ist auch allein interessengerecht, da damit aus Sicht der Gesellschaft die Erfolgsorientierung des Vorstands gefördert werden soll. Der Gesellschaft erwächst nämlich ein wirtschaftlicher Vorteil, auf den es für sie allein ankommt und den sie durch die Vergütungsgewährung fördern will, nur aus dem erfolgreichen Abschluss eines Projekts, nicht aber bereits aus dem bloßen diesbezüglichen Bemühen des Vorstands.

95

b. Selbst wenn aber – wie nicht – eine Manteltransaktion erfolgreich durchgeführt worden sein sollte, so wäre in Ermangelung einer Regelung in § 5 Abs. 5 AV 2019 zur Höhe der Vergütung oder eines diesbezüglichen Aufsichtsratsbeschlusses (wie bereits oben unter I 2 dargelegt hat der Aufsichtsrat keine Sondervergütung für den Kläger beschlossen) gemäß § 612 Abs. 2 BGB auf die übliche Vergütung abzustellen.

96

aa. Obwohl das Landgericht den Kläger in der mündlichen Verhandlung ausweislich des Protokolls darauf (vgl. S. 2 Mitte des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 18.02.2022, Bl. 51 d.A.) hingewiesen hatte, dass sein bisheriger Vortrag in der Anspruchsbegründung (dort S. 10, Bl. 27 d.A.) (auch) zur Höhe der nach § 612 BGB gegebenenfalls geschuldeten ortsüblichen Vergütung für seine behaupteten Tätigkeiten nicht hinreichend sei, erfolgte mit nachgelassenem Schriftsatz der Klägervertreterin vom 25.03.2022 (vgl. dort bspw. S. 12, Bl. 67 d.A.) zur Vergütung der Tätigkeiten bezüglich des reverse IPO überhaupt kein weiterer Vortrag.

97

Auch in der Berufung wurde ergänzend nur vorgetragen, dass der Kläger Unterlagen für potentielle Interessenten erstellt und Verhandlungen mit Interessenten geführt habe (vgl. Berufungsbegründungsbegründung S. 9, Bl. 117 d.A.). Auch auf den Hinweis des Senats vom 13.12.2023 (Bl. 142/143 d.A.) auf die immer noch anzunehmende Unsubstanziiertheit des klägerischen Vortrags zu der behaupteten Mehrarbeit erfolgte klägerseits mit dem Schriftsatz des Klägervertreters vom 05.02.2024 (Bl. 152/159 d.A.) keine Präzisierung.

98

bb. Demnach ist der Vortrag des Klägers zu einer Vergütung für seine Tätigkeiten bezüglich eines reverse IPO auch nach den Hinweisen des Landgerichts und des Senats vom 13.12.2023 (bl. 142/143 d.A.) weiterhin unsubstanziiert und scheitert ein diesbezüglicher Vergütungsanspruch des Klägers auch deshalb.

99

(1) Da der Kläger sich zur Begründung der Höhe der von ihm nach § 5 Abs. 5 AV 2019 geltend gemachten Sondervergütung auf die von ihm behauptetermaßen geleistete Mehrarbeit im Umfang von insgesamt 23,00 Stunden im Zeitraum von Dezember 2019 bis Juni 2020 beruft (vgl. Anspruchsbegründung S. 10 unten, Bl. 27 d.A.), muss er entsprechend der Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Darlegung von Mehrarbeit von Arbeitnehmern zumindest vortragen, an welchen Tagen und zu welcher Zeit er tätig geworden sein soll (vgl. Preis in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 24. Auflage, München 2024, Rdnr. 467 zu § 611a BGB). Nicht ausreichend ist daher, die in der Anspruchsbegründung gemachte pauschale Angabe eines mehrwöchigen (01.01. – 24.01.2020) Zeitraums. An der Angabe der Tageszeit fehlt es bei jeder der in der Anspruchsbegründung behaupteten Tätigkeiten.

100

(2) Darüber hinaus können an die substanziierte Darlegung der geltend gemachten Stunden beim Vorstand einer AG keine geringeren Anforderungen gestellt werden als bei der Geltendmachung von Ansprüchen aus der Honorarvereinbarung eines Rechtsanwalts mit seinem Mandanten. Denn beim ausschließlichen Abstellen auf den Zeitaufwand muss die nahe liegende Gefahr ins Auge gefasst werden, dass dem Aufsichtsrat der tatsächliche Aufwand des Vorstands verborgen bleibt und ein unredlicher Vorstand deshalb ihm nicht zustehende Zahlungen beansprucht. Insoweit ist die Gefahr, der begegnet werden muss, keine andere als im Verhältnis des Anwalts zu seinem Mandanten (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 04.02.2010 – IX ZR 18/09, Rdnr. 77). Aus diesem Grund erfordert eine schlüssige Darlegung der geltend gemachten Stunden, dass über pauschale Angaben hinaus die während des abgerechneten Zeitintervalls getroffenen Maßnahmen konkret und in nachprüfbarer Weise dargelegt werden. Insoweit ist deshalb anzugeben, in welchen Handlungen die Vorbereitung von Gesprächen mit Interessenten bestand, zu welche Themen sodann mit welchem Gesprächspartner wann eine Besprechung oder eine fernmündliche Unterredung geführt wurde und welche Unterlagen zusammengestellt und/oder präsentiert wurden. Pauschale Angaben wie „Zusammenstellung Unterlagen und eine Präsentation“, „Vorbereitung Gespräch“, „Besprechung bzw. Telko“ reichen nicht aus (vgl. zu den diesbezüglichen Anforderungen BGH, Urteil vom 04.02.2010 – IX ZR 18/09, Rdnr 79). Bei den Besprechungen und Gesprächen ist beispielsweise nicht nachvollziehbar, was darin konkret erörtert wurde. Die Angabe „Aktivitäten Reversed IPO“ ist nicht hinreichend.

101

(3) Ohne dass es deshalb entscheidungserheblich noch darauf ankäme, ist ohnehin zweifelhaft, ob es für die Ortsüblichkeit einer Vorstandsvergütung für ein „Sonderprojekt“ überhaupt auf den dafür geleisteten Arbeitsaufwand ankommt. Denn nach der Kenntnis des Senats aus den von ihm geführten Verfahren über Vorstandsvergütungsansprüche werden Erfolgsprämien wie die streitgegenständliche in § 5 Abs. 5 AV 2019 nicht vom Arbeitsaufwand, sondern von einer Ergebniszahl abhängig gemacht.

102

2. Wie bereits oben unter 1 a dargelegt setzt auch eine Sondervergütung im Hinblick auf den Verkauf von Grundstücken in Hagen nicht nur auf den Verkauf gerichtete Tätigkeiten des Klägers, sondern darüber hinaus einen tatsächlich erfolgten Verkauf voraus. Dazu schweigt sich der Kläger auch nach dem diesbezüglichen Hinweis des Senats vom 13.12.2023 (Bl. 142/143 d.A.) jedoch aus (der Schriftsatz des Klägervertreters vom 05.02.2024, Bl. 152/159 d.A. enthält hierzu keine Ausführungen, auch in der mündlichen Verhandlung vom 21.02.2024 gelang es dem Kläger trotz mehrfacher Nachfragen des Gerichts nicht, hierzu vorzutragen), sodass mangels diesbezüglichen Vortrags des Klägers ein solcher Verkauf nicht anzunehmen ist.

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Letztendlich kommt es darauf aber entscheidungserheblich auch gar nicht an. Denn selbst wenn die Grundstücke in Hagen veräußert worden sein sollten, so wäre die diesbezügliche Klage aufgrund ihrer Unsubstanziiertheit abzuweisen gewesen. Denn wie hinsichtlich des reverse IPO hat der Kläger trotz des Hinweises des Landgerichts auf die Unsubstanziiertheit seines Vortrags zu § 612 Abs. 2 BGB in der mündlichen Verhandlung vom 18.02.2022 (vgl. S. 2 Mitte des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 18.02.2022, Bl. 51 d.A.) auch bezüglich der Grundstücksgeschäfte in Hagen in erster Instanz mit dem nachgelassenen Schriftsatz vom 25.03.2022 nichts weiter vorgetragen. Der in der Berufungsbegründung erfolgte weitere Vortrag zu den Grundstücksgeschäften (vgl. Berufungsbegründung S. 9, Bl. 117 d.A.) ist aus den oben unter 1 b genannten Gründen nicht zuzulassen und würde den erstinstanzlichen Vortrag im Übrigen auch nicht substanziiert machen.

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Zum notwendigen Grad der Substanziierung des klägerischen Vortrags zur im Hinblick auf den Grundstücksverkauf geleisteten Mehrarbeit gilt das oben unter 1 b bb Gesagte entsprechend. Auch bezüglich des Verkaufs der Immobilien der Beklagten werden in der Tätigkeitszusammenstellung in der Anspruchsbegründung unzulässigerweise Zeiträume anstatt konkreter Zeitpunkte angegeben (09.10.-11.10.2019 und 01.-06.2020), werden keine Tageszeiten angeführt und erfolgen zu den behaupteten Gesprächen, Besprechungen, Präsentationen nicht die erforderlichen Präzisierungen zu den Inhalten. Auch nach dem Hinweis des Senats vom 13.12.2023 (Bl. 142/143 d.A.) auf die Unsubstanziiertheit seiner Darlegungen erbrachte der Kläger keinen weiteren Vortrag hierzu.

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IV. Da nach alledem dem Kläger der streitgegenständliche Vergütungsanspruch nicht zusteht, war über die von der Beklagten erklärte Hilfsaufrechnung nicht mehr zu entscheiden.

C.

106

I. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO, da die Berufung des Klägers keinen Erfolg hatte.

107

II. Die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

108

III. Die Revision war nicht zuzulassen, da ein Revisionsgrund nicht vorliegt.

D.

109

Da über die Hilfsaufrechnung der Beklagten nicht zu entscheiden war, wirkte sich diese nicht streitwerterhöhend aus und war der Streitwert für das Berufungsverfahren entsprechend dem Zahlungsantrag des Klägers auf 76.778,80 € festzusetzen.

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Schlagworte: AktG § 108, AktG § 112, AktG § 113, AktG § 114, AktG §114, Angemessenheit Vorstandsvergütung, Anstellungsvertrag, Aufsichtsratsbeschluss, Aufsichtsratssitzung, Feststellung des Beschlussergebnisses, Feststellung des Beschlussergebnisses und Verkündung, Provisionsvereinbarung, Sondervergütung, Vergütung, Vorstandsbezüge, Vorstandsvergütung

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OLG München, Beschluss vom 24.01.2024 – 23 U 9287/21             

Mittwoch, 24. Januar 2024

Legitimationswirkung

§ 16 Abs 1 S 1 GmbHG, § 34 GmbHG, § 61 GmbHG, § 242 BGB

Die formelle Legitimationswirkung des § 16 Abs.1 Satz 1 GmbHG steht nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung (vgl. etwa BGH, Urteil vom 20. November 2018 – II ZR 12/17, NZG 2019, 269 Rn. 42 ff, 73; BGH, Urteil vom 2. Juli 2019 – II ZR 406/17, NZG 2019, 979 Rn. 42; BGH, Urteil vom 26. Januar 2021 – II ZR 391/18, NZG 2021, 831 Rn. 45) unter dem Vorbehalt von Treu und Glauben. Rechtsmissbräuchlich kann die Berufung auf die Legitimationswirkung im Rahmen der Verteidigung gegen eine Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage eines zum Zeitpunkt der Beschlussfassung nicht mehr als Inhaber eines Geschäftsanteils eingetragenen Gesellschafters einer GmbH sein, wenn der Gesellschafter-Geschäftsführer einen evidentermaßen noch nicht wirksamen Beschluss über die Ausschließung des Klägers herbeigeführt hatte und sodann die Eintragung der fehlerhaften Liste in das Handelsregister aus eigennützigen Motiven und in Kenntnis von deren Fehlerhaftigkeit selbst veranlasst hat und/oder wenn vor der Beschlussfassung die Rechtswidrigkeit der Ausschließung durch ein rechtskräftiges (Anerkenntnis-)Urteil im Verhältnis zwischen den Parteien festgestellt worden ist.

Tenor

1. Die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 16.12.2021, Az. 12 HK O 3519/20, wird zurückgewiesen.

2. Die beklagte Partei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts München I ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die beklagte Partei kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 25.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger wendet sich mit der Nichtigkeitsklage gegen einen Gesellschafterbeschluss zur Liquidation der Beklagten. Hinsichtlich der Darstellung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils vom 16.12.2021, mit dem das Landgericht der Klage vollumfänglich stattgegeben hat, Bezug genommen.Randnummer2

Nach dem unstreitigen zweitinstanzlichen Vortrag fanden am 30.12.2016 nicht eine, sondern zwei Gesellschafterversammlungen statt.Randnummer3

In der ersten Versammlung (offenbar ab 10 Uhr) wurde unter TOP 5 ein Ausschließungsbeschluss getroffen, der als Grundlage einer Ausschließungsklage dienen sollte (Anlage CK 7, S. 21/22). Gegen diesen Beschluss hat der Kläger Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage erhoben, die insoweit mit Endurteil des LG München I vom 20.08.2020 – 8 HK O 1538/17 (Anlage N4) abgewiesen wurde. Die Ausschließungsklage wird beim LG München I unter dem Az. 15 HK O 214/17 geführt; eine Entscheidung wurde bislang nicht mitgeteilt.Randnummer4

In der zweiten Versammlung wurde unter TOP 6 Nr. 1 einstimmig – der Kläger gab keine Stimme ab – beschlossen: „M. [der Kläger] wird als Gesellschafter aus der Gesellschaft aus wichtigem Grund ausgeschlossen. Der Geschäftsanteil von M. wird auf die Erbengemeinschaft D. übertragen. Die Geschäftsführung wird beauftragt, alle geeigneten Maßnahmen einzureichen, insbesondere die Höhe des Abfindungsanspruches zu berechnen.“ (Anlage BK4, S. 18). Aufgrund dieser Beschlussfassung wurde die Geschäftsführung der Berufungsklägerin angewiesen, am selben Tag gem. § 40 Abs. 1 GmbHG beim zuständigen Handelsregister eine neue Gesellschafterliste zu hinterlegen. Dies geschah (Anlage BK 8). Diesen Beschluss hat das Landgericht München I mit Anerkenntnisurteil vom 23.04.2018 – 8 HK O 1539/17 (Anlage CK6) für nichtig erklärt.Randnummer5

Die Beklagte beantragt im Berufungsverfahren:

Das am 16. Dezember 2021 verkündete Urteil des Landgericht München I, Az. 12 HKO 3519/20 wird abgeändert und die Klage abgewiesen.Randnummer6

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.Randnummer7

Der Senat hat mit Beschluss vom 06.11.2023 (Bl. 245/253 d. A.) darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Hierzu haben die Beklagte mit Schriftsatz vom 16.01.2024 (im Folgenden: „GE Bekl“, Bl. 285/300 d. A.) und ihr Streithelfer mit Schriftsatz vom 10.01.2024 (im Folgenden „GE NI“, Bl. 258/284 d. A.) Gegenerklärungen abgegeben.

II.

Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 16.12.2021 (Az. 12 HK O 3519/20) ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.Randnummer9

1. Das Landgericht hat der Klage zu Recht im Hauptantrag stattgegeben. Die dagegen vorgebrachten Rügen der Berufung greifen auch unter Berücksichtigung des Vorbringens in den Gegenerklärungen nicht durch.Randnummer10

1.1. Die erhobene Nichtigkeitsklage ist analog § 249 AktG statthaft und auch sonst zulässig.Randnummer11

1.1.1. Der Entscheidung ist zugrunde zu legen, dass der Kläger weiterhin Gesellschafter ist.Randnummer12

1.1.1.1. Der Ausschließungsbeschluss aus der ersten Versammlung vom 30.12.2016 führte nicht selbst die Ausschließung herbei. Der weitere Beschluss aus der zweiten Versammlung vom 30.12.2016 unter TOP 6 Nr. 1 wurde mit Anerkenntnisurteil vom 23.04.2018 für nichtig erklärt. Jedenfalls vor Rechtskraft eines Ausschließungsurteils im Verfahren des LG München I Az. 15 HK O 214/17 ist der Kläger materiell Gesellschafter der Beklagten (vgl. BGH NJW 2023, 3164). Es steht damit fest, dass der Kläger Gesellschafter bei Beschlussfassung über die Liquidation am 23.12.2019 sowie bei Klageerhebung war. Die Begründetheit der Ausschließungsklage ist nicht entscheidungserheblich; der Aussetzungsantrag des Nebenintervenienten (Schriftsatz vom 30.06.2020, S. 5, Bl. 27 d. A.) geht damit fehl.Randnummer13

1.1.1.2. Die negative Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG zulasten des nicht mehr in die Gesellschafterliste eingetragenen Klägers steht dem nicht entgegen.Randnummer14

1.1.1.2.1. Zwar kann der Gesellschafter ab dem Zeitpunkt der Aufnahme einer ihn nicht mehr aufführenden Gesellschafterliste zum Handelsregister seine mitgliedschaftlichen Rechte grundsätzlich nicht länger ausüben. Die Anfechtungsbefugnis ist ein aus der Mitgliedschaft unmittelbar folgendes Verwaltungsrecht. Die negative Legitimationswirkung erfasst daher auch die Anfechtungsbefugnis (vgl. BGH NZG 2019, 979 Rn. 41 m. w. N.; NZG 2021, 831 Rn. 42 ff.).Randnummer15

Die formelle Legitimationswirkung des § 16 Abs.1 Satz 1 GmbHG steht allerdings nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung (vgl. etwa BGH NZG 2019, 269 Rn. 42 ff, 73; NZG 2019, 979 Rn. 42; NZG 2021, 831 Rn. 45) unter dem Vorbehalt von Treu und Glauben. Welche Anforderungen sich im konkreten Fall aus Treu und Glauben ergeben, lässt sich nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls entscheiden. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist insbesondere anerkannt, dass eine unzulässige Rechtsausübung dann vorliegen kann, wenn sich ein Berechtigter auf eine formale Rechtsposition beruft, die er durch ein gesetz-, sitten- oder vertragswidriges Verhalten erlangt hat.Randnummer16

Danach kann sich die Gesellschaft auf die Legitimationswirkung einer Gesellschafterliste unter anderem dann nicht berufen, wenn sie selbst durch unredliches Verhalten die Aufnahme der Gesellschafterliste im Handelsregister herbeigeführt hat. Nicht gehört werden kann die Beklagte mit der Argumentation, die vorgenannte Rechtsprechung zur Einschränkung der negativen Legitimationswirkung gelte allenfalls zur Beurteilung der Anfechtungsbefugnis. Denn § 242 BGB hat einen umfassenden Geltungsanspruch. Für eine Differenzierung zwischen Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage, die dasselbe Rechtsschutzziel und den nämlichen Streitgegenstand haben, gibt es insofern keine Grundlage.Randnummer17

Der BGH hat entschieden, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Gesellschaft hinsichtlich einer Gesellschafterliste vorliegt, wenn es ihr durch eine gerichtliche Verfügung untersagt war, nach einem Einziehungsbeschluss eine neue Gesellschafterliste einzureichen, in der der betroffene Gesellschafter nicht mehr als Gesellschafter eingetragen ist, und sie dennoch eine geänderte Liste einreichen lässt oder eine dem gerichtlichen Verbot zuwider aufgenommene Liste nicht korrigiert (BGH NZG 2019, 979 Rn. 42).Randnummer18

Auch hat der BGH das Verhalten eines Mitgesellschafters als Sittenwidrig eingestuft, der einen Beschluss zu einem Zeitpunkt fasste, zu dem der nur vermeintlich ausgeschiedene Gesellschafter bereits zu seinen Gunsten die Zuordnung eines Widerspruchs gegen die Gesellschafterliste erwirkt hatte, nachdem der Mitgesellschafter im Rahmen von Vergleichsverhandlungen das Vertrauen erweckt hatte, er werde sich über die unmittelbaren Rechtswirkungen des Widerspruchs nach § 16 Abs. 3 Satz 3 GmbHG hinaus an die im Verfügungsverfahren zur Eintragung des Widerspruchs zugrunde gelegte Rechtsauffassung halten (BGH NJW 2023, 1220 Rn. 24; insoweit in Abweichung zu früheren OLG-Entscheidungen, wonach die Wirkung eines Widerspruchs gem. § 16 Abs. 3 Satz 3 GmbHG grundsätzlich auf das Verhältnis zu außenstehenden Dritten beschränkt sei).Randnummer19

Schließlich hat der BGH am 08.11.2022 entschieden, dass ein Gesellschafter einer GmbH, der seine Stellung als Geschäftsführer dadurch missbraucht, dass er eine materiell unrichtige Gesellschafterliste zum Handelsregister einreicht, um damit eigennützige Interessen durchzusetzen, seine gesellschafterliche Treuepflicht gegenüber dem von der Unrichtigkeit nachteilig betroffenen Gesellschafter verletzt (BGH NZG 2023, 784).Randnummer20

1.1.1.2.2. Bei Anwendung dieser Maßstäbe sieht der Senat im vorliegenden Einzelfall die Voraussetzungen für rechtsmissbräuchliches Verhalten der Beklagten unter zwei Gesichtspunkten für gegeben an, sodass die Berufung der Beklagten auf die formale Rechtsposition des § 16 Abs. 1 GmbH treuwidrig und damit gem. § 242 BGB unbeachtlich ist. Dabei tragen die nachfolgenden Gesichtspunkte (unter Nr. 1.1.1.2.2.1 und Nr. 1.1.1.2.2.2) jeder für sich und auch in Gesamtschau den Treuwidrigkeitsvorwurf.Randnummer21

1.1.1.2.2.1. Der Vorwurf gründet zum einen darauf, dass der Nebenintervenient am 30.12.2016 die klar ersichtlich noch nicht wirksame Beschlusslage zur Ausschließung des Klägers selbst herbeigeführt und in Ausführung sodann als Geschäftsführer die Eintragung der fehlerhaften Liste in das Handelsregister veranlasst hat.Randnummer22

1.1.1.2.2.1.1. Dabei hat sich die Beklagte das Handeln ihres Geschäftsführers, der zugleich als Testamentsvollstrecker die einzige Mitgesellschafterin vertritt, zurechnen zu lassen. Das sittenwidrige Handeln des Nebenintervenienten schlägt auf die Gesellschaft durch. Der Nebenintervenient handelte, auch wenn er nicht in persona, sondern als Teil einer Gesamthand Gesellschafter war, wie ein Gesellschaftergeschäftsführer, nachdem er Testamentsvollstrecker und Miterbe der Erbengemeinschaft nach D. ist. Wenn die Beklagte darauf hinweist, dass neben dem Nebenintervenienten ein Fremdgeschäftsführer bestellt war (GE Bekl S. 8, Bl. 292 d. A.), ändert das nichts, zumal die Gesellschafterliste durch den Nebenintervenienten selbst gezeichnet wurde (Anlage BK 8).Randnummer23

1.1.1.2.2.1.2. Der Beschluss unter TOP 5 in der ersten Gesellschafterversammlung hatte lediglich die Funktion, eine Ausschließungsklage vorzubereiten, beinhaltete aber nicht selbst eine Ausschließung.Randnummer24

Dem Beschluss unter TOP 6 Nr. 1 in der zweiten Gesellschafterversammlung fehlte in Ermangelung jeglicher Satzungsbestimmung evident jede Rechtsgrundlage. Es ist zwar anerkannt, dass in der Satzung auch vorgesehen werden kann, dass das übliche zweistufige Ausschließungsverfahren durch einen sofort wirksamen Ausschließungsbeschluss ersetzt wird (MüKoGmbHG/Strohn, 4. Aufl. 2022, § 34 Rn. 180). Wenn eine solche Satzungsregelung wie vorliegend fehlt, kann eine Ausschließung jedoch nur durch ein gestaltendes Urteil aufgrund der Erhebung einer Ausschließungsklage, nicht durch Gesellschafterbeschluss geschehen (BGH NJW 1999, 3779 m. w. N.); in diesem Fall tritt anerkanntermaßen die Ausschließungswirkung frühestens mit Rechtskraft des Ausschließungsurteils ein (siehe oben Nr. 1.1.1.1; siehe auch Henssler/Strohn/Th. Fleischer, GesR, 5. Aufl. 2021, § 34 GmbHG Rn. 29). Daher kann der Gedanke der Umdeutung (GE NI S. 5, Bl. 262 d. A.) keinesfalls zu einer sofortigen Wirksamkeit der Ausschließung führen.Randnummer25

Darauf, ob Pflichtwidrigkeiten des Klägers vorlagen, die einen wichtigen Grund für die Ausschließung bildeten (GE Bekl S. 4/5 u. 8/13, Bl. 288/289, 292/297 d. A.; GE NI S. 7 ff., Bl. 264 ff. d. A.), kommt es folglich im vorliegenden Verfahren nicht an. Diese Fragen sind im Ausschließungsverfahren zu prüfen. Aus den behaupteten vorangegangenen Pflichtverletzungen lassen sich vor diesem Hintergrund auch keine Einwendungen gegen die Berufung des Klägers auf Treuwidrigkeit gewinnen.Randnummer26

Nicht durchdringen kann die Beklagte, soweit sie dafürhält, dass der Beschluss in der Gesellschafterversammlung vom 30.12.2016 unter TOP 6 Nr. 1 zur sofortigen Ausschließung des Klägers in dem Anerkenntnisurteil vom 24.04.2018 entsprechend dem Antrag des Beklagten nur ex nunc und nicht ex tunc für nichtig erklärt worden sei und daher die am 30.12.2016 eingereichte Gesellschafterliste die Beschlusslage bei Einreichung und bis zum 24.04.2018 richtig abgebildet habe (GE Bekl S. 2, Bl. 286 d. A.). Es trifft bereits nicht zu, dass das Anerkenntnisurteil Wirkung erst ab dem 24.04.2018 entfaltet hätte. Vielmehr wirkt die Nichtigerklärung durch ein rechtskräftiges Urteil analog § 248 AktG nach allgemeiner Meinung zurück, sodass der angefochtene Beschluss von Anfang an nichtig ist (BeckOGK/Vatter, Stand 01.10.2023, § 248 AktG Rn. 8; MüKoAktG/Schäfer, 5. Aufl. 2021, § 248 Rn. 14, je m. w. N.). Dies ergibt sich aus dem Gesetz und muss daher nicht weiter in der Antragsformulierung und in der Urteilsformel zum Ausdruck kommen. Sollte der Kläger abweichend beabsichtigt haben, dass das Urteil nur ex nunc wirkt, so ist dies also im Urteil, das schon aufgrund seiner inter-omnes-Wirkung aus sich heraus auszulegen ist, nicht zum Ausdruck gekommen.Randnummer27

1.1.1.2.2.1.3. Der Senat ist auf Grundlage des bisherigen Tatsachenvortrags davon überzeugt im Sinne des § 286 ZPO, dass der NebenintervenientGeschäftsführer einer GmbH – bei Einreichung der falschen Gesellschafterliste in dem Bewusstsein handelte, dass eine sofortige Ausschließung des Klägers nicht erfolgt ist und die Liste damit fehlerhaft war. Die Einreichung der neuen Gesellschafterliste zum Handelsregister erfolgte in dem Bewusstsein, dass sie keine Rechtfertigung hatte. Dabei handelte der Nebenintervenient erkennbar eigennützig, indem er eine evident unrichtige formale Rechtsposition zu seinen eigenen Gunsten (als Mitglied der Erbengemeinschaft) schuf. Gleichzeitig war die fehlerhafte Gesellschafterliste mit erheblichen formalen rechtlichen Nachteilen für den Kläger verbunden. Für den Senat ist keine Motivationslage erkennbar, die nicht zur Beurteilung des Handelns des Nebenintervenienten als in besonderem Maße verwerflich und damit Sittenwidrig führen würde. Selbst wenn sich der Nebenintervenient – wovon der Senat ausdrücklich nicht ausgeht – dieser offenkundigen und unzweideutigen Erkenntnis verschlossen hätte, wäre gleichwohl der Vorwurf der Treuwidrigkeit gerechtfertigt.Randnummer28

1.1.1.2.2.1.4. Wenn die Beklagte und der Nebenintervenient nunmehr geltend machen, dass die Erstreckung der Rechtsfolgen eines Widerspruchs nach § 16 Abs. 3 Satz 3 GmbHG auf das Verhältnis unter den Gesellschaftern und zwischen Gesellschaftern und Gesellschaft erst nachfolgend (2022) durch den BGH entschieden wurde und dass diese Rechtsfrage zuvor durch Oberlandesgerichte anders gesehen wurde, so ergibt sich hieraus kein Gegenargument gegen die Bewertung seines Handelns als rechtsmissbräuchlich. Im Zeitpunkt der Einreichung der Gesellschafterliste mag der Nebenintervenient womöglich aufgrund der früheren OLG-Rechtsprechung gemeint haben, mit seinem treuwidrigen Verhalten „durchzukommen“, weil die negative Legitimationswirkung des § 16 Abs. 3 Satz 3 GmbHG u. U. gleichwohl greifen könnte. Falls der Nebenintervenient das geglaubt haben sollte, betrifft eine solche Fehlvorstellung allerdings nur die Rechtsfolgen seines Verhaltens und stellt gerade nicht in Frage, dass die Einreichung der Gesellschafterliste in dem Bewusstsein geschah, dass sie keine Rechtfertigung hatte. Ohnehin genügt es, wenn der Handelnde die Tatsachen kennt, aus denen sich die Sittenwidrigkeit ergibt; ein Bewusstsein der Sittenwidrigkeit selbst ist nicht erforderlich (BeckOK BGB/Wendtland, 68. Ed. 01.11.2023, § 138 Rn. 23 m. w. N.).Randnummer29

1.1.1.2.2.1.5. Unbehelflich ist in diesem Zusammenhang auch der Vortrag des Streithelfers, wonach er in den beiden Gesellschafterversammlungen am 30.12.2016 nicht selbst an der Abstimmung teilgenommen habe, auf die Versammlung keinen Einfluss genommen habe und die Erbengemeinschaft durch K. vertreten worden sei (GE NI S. 2 u. 4, Bl. 259 u. 261 d. A.). Dieser erstmals in der Gegenerklärung geführte Vortrag ist bereits wegen Verspätung nicht zuzulassen; es werden keine Gründe für seine ausnahmsweise Zulassung benannt. Überdies wäre der Vortrag auch nicht schlüssig, denn ausweislich der Versammlungsprotokolle war der Streithelfer als Testamentsvollstrecker des Nachlasses nach D. in beiden Versammlungen anwesend (Anlagen CK7, S. 1, 3; BK4 S. 1, 3) und stellte jeweils den Beschlussantrag selbst (Anlagen CK7, S. 21; BK4 S. 18). Dass die Gesellschafterin just bei den namentlichen Abstimmungen durch jemand anderen vertreten worden wäre, was eine Vollmachterteilung durch den Streithelfer als Testamentsvollstrecker erfordern würde, geht auch nicht im Ansatz aus den Protokollen hervor. Selbst wenn der Vortrag, dass die Mitgliedschaftsrechte bei den beiden Abstimmungen tatsächlich nicht durch den Nebenintervenienten, sondern durch K. wahrgenommen worden sein sollten, verbleibt es dabei, dass der Streithelfer ausweislich der Protokolle jeweils unmittelbar vor der Beschlussfassung selbst den Beschlussantrag stellte. Der Senat hat keine Veranlassung, an dem durch die Protokolle, deren Echtheit von keiner Seite in Zweifel gezogen wird, belegten Ablauf zu zweifeln. Es ist damit eben nicht so, dass der Streithelfer bei der Beschlussfassung unbeteiligt war. Sein Handeln bei Einreichung der fehlerhaften Liste erscheint damit selbst bei Zugrundelegung dieses neuen Vortrags nicht in einem günstigeren Licht. Ohnehin würde arbeitsteiliges Handeln auf Seiten der Erbengemeinschaft nicht zu einer Entlastung der Beklagten führen.Randnummer30

1.1.1.2.2.1.6. Es war auch nicht so, dass der Streithelfer bei der Einreichung der fehlerhaften Gesellschafterliste lediglich Beschlüsse der Gesellschafter ausgeführt hätte und deshalb nicht Sittenwidrig hätte handeln können (GE NI S. 4, Bl. 261 d. A). Denn den Beschlussantrag stellte er als Testamentsvollstrecker für die Erbengemeinschaft, also für die Gesellschafterin (so ausdrücklich BK4 S. 18). Ohnehin geht es im Verfahren um die Zurechnung des Handelns des Streithelfers an die Beklagte; selbst wenn der Streithelfer sich durch Berufung auf einen Beschluss des Gesellschafters entlasten könnte, wäre dies der Beklagten nicht möglich.Randnummer31

1.1.1.2.2.1.7. Schließlich führt die späte und unsubstantiierte Behauptung, „so vorzugehen“ entspringe einem von der Erbengemeinschaft gefassten „internen Beschluss“, auf den sich K. habe stützen können und auf dessen Entstehung der Nebenintervenient keinen Einfluss genommen habe (GE NI S. 4, Bl. 261 d. A), zu keiner abweichenden Bewertung. Als Testamentsvollstrecker verwaltete der Nebenintervenient den Nachlass (§ 2205 Satz 1 BGB) und war gerade nicht an Weisungen der Erben gebunden. Im Übrigen kann sich die Beklagte nicht entlastend auf ein arbeitsteiliges Handeln auf Seiten ihrer verbleibenden Gesellschafterin bei der Herbeiführung einer eklatant rechtswidrigen formalen Rechtsposition berufen.Randnummer32

1.1.1.2.2.2. Der Vorwurf gründet zum zweiten darauf, dass durch das Anerkenntnisurteil vom 23.04.2018 die Rechtswidrigkeit des Beschlusses in der zweiten Versammlung im Verhältnis zwischen den Parteien rechtskräftig festgestellt wurde. Jedenfalls seitdem handelt die Beklagte rechtsmissbräuchlich, wenn sie sich im Verhältnis zum Kläger auf die negative Legitimationswirkung der von ihrem Gesellschaftergeschäftsführer eingereichten fehlerhaften Gesellschafterliste beruft.Randnummer33

Auch insoweit kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg darauf berufen, dass maßgebliche BGH-Entscheidungen erst nachher getroffen wurden. Es ist schon nicht ersichtlich, wieso die Beklagtenseite meinte, sie könne sich auf der Basis der früheren Rechtsprechung über eine rechtskräftige Feststellung ohne Weiteres hinwegsetzen. Überdies belegen die BGH-Entscheidungen ebenso wenig wie eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Senats einen Wandel der sittlichen Anschauung, sondern deuten darauf hin, dass das streitgegenständliche Handeln bereits (2016 und) 2019 rechtsmissbräuchlich war. Folgerichtig hat auch der BGH in den von ihm entschiedenen Fällen nicht davon abgesehen, die jeweils zu beurteilenden Handlungen als rechtsmissbräuchlich zu betrachten. Es genügt, wenn der Handelnde die Tatsachen kennt, aus denen sich die Sittenwidrigkeit ergibt; ein Bewusstsein der Sittenwidrigkeit selbst ist nicht erforderlich (BeckOK BGB/Wendtland, 68. Ed. 01.11.2023, § 138 Rn. 23 m. w. N.).Randnummer34

Es ist nicht ersichtlich, inwiefern der Hinweis des Nebenintervenienten darauf, dass das LG München I im Verfahren 12 HK O 214/17 am 23.12.2019 noch keine Entscheidung über den Widerklageantrag zur Verurteilung der hiesigen Beklagten zur Korrektur der eingereichten Gesellschafterliste gefasst hatte (GE NI S. 4, Bl. 261 d. A.), zu einer günstigeren Bewertung des Handelns der Beklagten führen sollte, wenn diese die mit Rechtskraft festgestellte Fehlerhaftigkeit der durch ihren Geschäftsführer herbeigeführten formalen Rechtsposition ausnutzt.Randnummer35

1.1.1.2.3. Auch die weiteren Einwendungen aus den Gegenerklärungen führen nicht zu einer abweichenden Bewertung. Das gilt namentlich für folgende Rügen:Randnummer36

1.1.1.2.3.1. Dem Senat ist bewusst, dass anders als im Fall BGH NZG 2019, 979 (siehe aber BGH NJW 2023, 1220), eine gerichtliche Verfügung, in der es untersagt wurde, nach einem Einziehungsbeschluss eine neue Gesellschafterliste einzureichen, in der der betroffene Gesellschafter nicht mehr als Gesellschafter eingetragen ist, vorliegend nicht ergangen ist. Gleichwohl ergibt sich gemäß der vorstehenden Erwägungen (Nr. 1.1.1.2.2) der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs.Randnummer37

1.1.1.2.3.2. Die Beklagte und der Streithelfer dringen nicht damit durch, dass der Kläger seinerseits Pflichtverletzungen begangen habe. Ob sich hieraus ein Ausschließungsgrund ergibt, ist in Ermangelung einer abweichenden Satzungsbestimmung in einem gerichtlichen Ausschließungsverfahren zu prüfen (oben Nr. 1.1.1.2.2.1.2). Dies durch Einreichung einer fehlerhaften Gesellschafterliste zu vereiteln, ist unabhängig von etwaigen vorangegangenen Pflichtverletzungen des Klägers rechtsmissbräuchlich.Randnummer38

1.1.1.2.3.3. Es kommt nicht darauf an, ob die Erbengemeinschaftjeder Zahlung, Auskunft und Erledigung“ an den Kläger zugestimmt hat, ohne bis heute selbst Zahlungen erhalten zu haben (GE Bekl S. 5, Bl. 289 d. A.).Randnummer39

1.1.1.3. Die Frage, ob ein formal ausgeschiedener Kläger im Rahmen einer Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage gegen einen Liquidationsbeschluss ebenso wie bei einer Klage gegen eine Einziehung seines Geschäftsanteils oder seinen Ausschluss zur effektiven Verwirklichung seines Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes generell als aktivlegitimiert zu behandeln ist (hiergegen wendet sich die Beklagte nochmals in der Gegenerklärung vom 16.01.2024), kann offen bleiben.Randnummer40

1.1.2. Angesichts seiner fortbestehenden Gesellschafterstellung fehlt dem Kläger nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Der Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses bedarf es bei der Nichtigkeitsklage im Gegensatz zur allgemeinen Feststellungsklage durch Dritte nicht.Randnummer41

1.2. Der Liquidationsbeschluss vom 23.12.2019 ist in entsprechender Anwendung von § 241 Nr. 1 AktG in Verbindung mit § 121 Abs. 4 AktG nichtig, weil der Kläger nach dem Vorstehenden Gesellschafter war und gleichwohl zu der beschlussfassenden Gesellschafterversammlung nicht geladen war (BGH NJW-RR 2006, 831 [832] m. w. N.; siehe auch MüKoGmbHG, GmbHG Anh. § 47 Rn. 42 f.).Randnummer42

Soweit die Beklagte und der Streithelfer in den Gegenerklärungen vortragen, der Kläger sei „fortlaufend zu sämtlichen Gesellschafterversammlungen der Beklagten geladen worden“ (GE Bekl S. 7, Bl. 291 d. A.) bzw. werde „bereits seit dem Urteil des LG München I vom Urteil v. 23.04.2018, 8 HK O 1539/17 bis zur Entscheidung über die Ausschlussklage als Gesellschafter behandelt und erhält solange alle Teilnahme- und Informationsrechte“ (GE NI S. 2, Bl. 259 d. A), führt dies nicht zu einer prozessual wirksamen Behauptung, dass der Kläger auch zur Gesellschafterversammlung am 23.12.2019 geladen worden sei. Ein solche konkrete Behauptung ist diesem pauschalen Vortrag nicht zu entnehmen. Bezeichnenderweise wird die Gesellschafterversammlung vom 23.12.2019 in der Gegenerklärung der Beklagten, die eine Vielzahl von Versammlungen konkret auflistet (GE Bekl S. 7, Bl. 291 d. A.), gerade nicht erwähnt. Eine solche Behauptung stünde auch im Widerspruch zum Tatbestand des Ersturteils (LGU, S. 2), der die fehlende Ladung mit der Beweiskraft des § 314 ZPO als unstreitig feststellt. Ein erstmaliges Bestreiten in der Berufungsinstanz wäre verspätet und nicht der Entscheidung des Berufungsgerichts zugrunde zu legen, zumal keine Gründe für die ausnahmsweise Zulassung vorgetragen werden (§ 529 Abs. 1 Nr. 2, § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO).Randnummer43

Frühere eventuelle Meinungsäußerungen des Klägers über eine mögliche Liquidation machten eine Ladung nicht entbehrlich. Die Beschlussfassung wurde auch nicht durch eine gleichwohl erfolgte Anwesenheit des Klägers geheilt.Randnummer44

1.3. Auf Anfechtungsgründe kommt es mithin nicht an.Randnummer45

1.4. Die Nichtigkeitsklage erweist sich nicht deswegen als rechtsmissbräuchlich, weil der Kläger zur Zustimmung zu einer Auflösung verpflichtet wäre (dolo agit qui petit quod statim redditurus est). Bei der Stimmrechtsausübung unterliegen die Gesellschafter zwar grundsätzlich der Treuepflicht, die Möglichkeit positiver, d. h. auf Auflösung zielender Stimmpflichten ist in der Literatur jedoch umstritten (ablehnend Hofmann, GmbHR 1975, 217/219). Wegen der in § 61 GmbHG vorgesehenen Auflösungsklage kommt nach der herrschenden Meinung, der auch der Senat folgt (OLG München Endurteil v. 15.01.2015 – 23 U 2469/14, BeckRS 2016, 5420 Rn. 10), eine Pflicht, dem Auflösungsbeschluss aus Gründen der Treuepflicht zuzustimmen, allenfalls in Ausnahmefällen in Betracht. Voraussetzung ist, dass das Erreichen des Gesellschaftszwecks objektiv unmöglich und eine Ablehnung der Auflösung evident rechtsmissbräuchlich ist (Scheller in: Scholz, GmbHG, 12./13. Aufl. 2021/2022, § 60 GmbHG, Rn. 24; Haas in: Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. 2022, § 60 Rn. 20). Denkbar ist dies beispielsweise, wenn sich durch weiteres Zuwarten die Zerschlagungswerte zu verschlechtern drohen (Haas a. a. O.). Aus der in der Gegenerklärung des Nebenintervenienten (GE NI S. 17, Bl. 274 d. A.) zitierten Entscheidung des OLG Köln NZG 2021, 1217, folgt nichts anderes; im Gegenteil schließt sich das OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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in Rn. 44 ausdrücklich der auch hier vertretenen Auffassung an. Der Vortrag zur Einrede der Auflösungsreife greift vor diesem Maßstab auch unter Berücksichtigung der Gegenerklärungen nicht durch.Randnummer46

1.4.1. Schon die objektive Unmöglichkeit zur Erreichung des Gesellschaftszwecks steht nicht zur Überzeugung des Senats fest. Die durch nichts belegte Behauptung, erforderliche gewerbe- und emissionsrechtliche Zulassungen könnten nicht wiedererlangt werden, ist insofern zu unsubstantiiert, zumal die Beklagte selbst einen Aktivprozess zur Wiedererlangung eines umfangreichen Geschäftsbetriebs führt. Zu dem Aktivprozess, auf den der Senat im Hinweisbeschluss vom 06.11.2023 hingewiesen hat, nehmen die Gegenerklärungen nicht weiter Stellung. Soweit der Nebenintervenient abermals die erfolgte Veräußerung der erforderlichen Betriebsmittel (insbesondere Grundstück) betont, ist auch insoweit nicht ersichtlich, dass die Betriebsgrundlagen bei einem Willen der Gesellschaft zur Fortführung nicht wieder erworben werden könnten.Randnummer47

1.4.2. Soweit eine nicht zu behebende Zerrüttung der Gesellschafter und gröbliche Pflichtverletzungen des Klägers geltend gemacht werden, ist die Beklagte auf den Weg über die Auflösungsklage gem. § 61 GmbHG zu verweisen. Das gilt auch, soweit der Nebenintervenient in seiner Gegenerklärung weiter – und insofern neu – insistiert, der Kläger sei u. a. wegen seiner Beteiligung an Wettbewerbern der Beklagten weder willens noch in der Lage, weiterhin im geschuldeten Maß für die Beklagte tätig zu werden (GE NI S. 21ff., Bl. 278 ff. d. A.). Dass der Weg über die Auflösungsklage für die Beklagte z. B. wegen eines zu besorgenden Wertverfalls unzumutbar wäre, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der Hinweis des Nebenintervenienten auf ein Abschmelzen „etwaig verbliebener Barmittel“ genügt insoweit ersichtlich nicht (GE NI S. 17, Bl. 274 d. A.); insoweit unterscheidet sich der Parteivortrag auch offensichtlich von dem Fall des OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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(NZG 2021, 1217 Rn. 48 ff.).Randnummer48

Der Senat vermag auch der Argumentation des Nebenintervenienten nicht zu folgen, dass in der Beklagten wegen ihrer familiären Prägung eine Zustimmungspflicht eingeräumt werden sollte, auch wenn der Weg über die Auflösungsklage zumutbar ist (GE NI S. 18 ff., Bl. 275 ff. d. A.). Damit würde in der Familien-GmbH für den Tatbestand der Zerrüttung letztlich entgegen der Wertung von § 61 GmbHG und § 140 HGB analog und entgegen der soweit ersichtlich einhelligen Ansicht in Rechtsprechung und Literatur doch die Ausschließung/Auflösung durch einfachen Beschluss des verbleibenden Gesellschafters auch ohne entsprechende statuarische Regelung ermöglicht. Das wäre angesichts der weitreichenden Folgen nicht sachgerecht (siehe oben Nr. 1.1.2.2.1.2). Wenn überhaupt, würde der unterstellte besondere generationenübergreifende Gesellschaftszweck (GE NI S. 18, Bl. 275 d. A.) vorliegend wohl auch ein Argument gegen eine Zustimmungspflicht zur Liquidation bilden.Randnummer49

1.4.3. Dem erstmals in den Gegenerklärungen gehaltenen Vortrag, dass der Kläger sich bereits „vollständig“ habe auszahlen lassen bzw. umfangreich Forderungen gegen die Beklagte geltend gemacht und daher kein Interesse am Fortbestand der Beklagten habe (GE Bekl S. 7, Bl. 291 d. A., GE NI S. 23, Bl. 280 d. A.), lässt sich weder entnehmen, wieso die Fortsetzung der Gesellschaft deswegen unmöglich wäre (dass damit „[s]ämtliche Grundlagen für die Fortführung der Beklagten im Sinne einer planmäßigen Familiengesellschaft […] zwischenzeitlich weggefallen“ seien, erfüllt die Ansprüche an konkrete Tatsachenbehauptungen, auf deren Grundlage ein Rechtsstreit entschieden werden kann, erkennbar nicht), noch, wieso dem Kläger das Interesse an der Fortsetzung der Gesellschaft von vornherein fehlen sollte, sodass die fehlende Zustimmung zur Liquidation evident rechtsmissbräuchlich wäre. Soweit die Beklagte und der Nebenintervenient in den genannten Behauptungen Pflichtverletzungen des Klägers erkennen sollten, wird auf die Ausführungen unter Nr. 1.4.2 verwiesen. Auf die Verspätung des Vortrags kommt es somit nicht mehr an.Randnummer50

1.4.4. Wenn der Kläger im Rahmen des Liquidationsverfahrens vorsorglich selbst Ansprüche geltend macht (GE Bekl S. 6/7, Bl. 290/291 d. A.), vermag der Senat nicht zu erkennen, dass er sich dadurch zu seinem Rechtsschutzziel im hiesigen Verfahren in Widerspruch setzt.Randnummer51

2. Die Zulassung der Revision ist nicht geboten. Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung. Die rechtlichen Grundlagen sind geklärt. Eine divergierende Rechtsprechung liegt auch nicht in Bezug auf die Frage der Zustimmungspflicht vor (siehe oben Nr. 1.4).Randnummer52

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.Randnummer53

4. Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.Randnummer54

5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47, 48 GKG bestimmt.

Schlagworte: Einreichung unrichtige Gesellschafterliste, Formelle Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 GmbHG, Gesellschafterliste, Legitimationswirkung, Legitimationswirkung der Gesellschafterliste, negative Legitimationswirkung des § 16 Abs. 1 Satz 1 GmbHG

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OLG München, Urteil vom 24.01.2024 – 7 U 3096/22

Mittwoch, 24. Januar 2024

Verschulden bei VertragsverhandlungenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Verschulden
Verschulden bei Vertragsverhandlungen

§§ 311 Abs. 3, 280 Abs. 1 BGB

Ein Schuldverhältnis im Sinne des § 311 Abs. 3 BGB zu einer dritten Person, die nicht selbst Vertragspartei werden soll, entsteht insbesondere dann, wenn dieser Dritte in besonderem Maß Vertrauen für sich in Anspruch nimmt und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst (§ 311 Abs. 3 S. 2 BGB). Wie das Wort „insbesondere“ zeigt, ist diese Regelung nicht abschließend. Gleichgestellt ist der Fall, dass der Dritte eigene wirtschaftliche interessen verfolgt; bei der Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens durch den Dritten bzw. Eigeninteressen des Dritten handelt es sich um zwei selbständig nebeneinander stehende Fallgruppen des vorvertraglichen Schuldverhältnisses zu einem Dritten (vgl. nur Grüneberg / Grüneberg, BGB, 83. Aufl., § 311 Rz. 61, 63), die zwar in der Lebenswirklichkeit häufig ineinander übergehen werden, aber doch je für sich ein vorvertragliches Schuldverhältnis begründen können.

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 25.4.2022 (Az.: 10 HK O 17905/20) wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Dieses Urteil und das angegriffene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

A.

1

Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen geltend.

2

Die Klägerin war alleinige Gesellschafterin der … GmbH [im folgenden: Zielgesellschaft]. Zwischen der Klägerin und der Zielgesellschaft bestand ein Ergebnisabführungsvertrag. Die Zielgesellschaft erwirtschaftete in den Jahren bis 2017 erhebliche Verluste. Ferner war die Zielgesellschaft mit erheblichen Pensionsverpflichtungen beschwert. Bei der Klägerin bestand die Absicht, ihre Anteile an der Zielgesellschaft zu veräußern.

3

Zu Beginn des Jahres 2018 trat hierwegen die Beklagte, die zur …Gruppe gehört (deren Konzernstruktur nicht vorgetragen ist), an die Klägerin heran. Insoweit existiert ein Letter of Intent der Beklagten vom 8.1.2018 (Anlage K 1, die dortige Datumsangabe 8.1.2017 beruht offenbar auf einem Versehen), mit welchem der Erwerb der Zielgesellschaft durch eine zur …Gruppe gehörende andere Gesellschaft („acquisition vehicle“) in Aussicht gestellt wurde. Des Weiteren gab die Beklagte unter dem 29.3.2018 eine (mit dem Letter of Intent in weiteren Passagen wortgleiche) Binding offer (Anlage K 2) ab. Ferner existiert ein „exclusivity agreement“ zwischen der Muttergesellschaft der Klägerin und der Beklagten vom 18.4.2018 (Anlage K 3). Hinsichtlich des Wortlauts der genannten Schriftstücke wird auf die Anlagen K 1 bis K 3 Bezug genommen.

4

Im Winter / Frühling 2018 kam es dabei zu diversen telefonischen und Email-Kontakten sowie Besprechungen zwischen den Parteien. Am 9.5.2018 erschien im Badischen Tagblatt (einer Tageszeitung in der Region am Sitz der Zielgesellschaft) ein Artikel, in welchem Befürchtungen für das weitere Schicksal der Zielgesellschaft bei einer Veräußerung an die … Gruppe in den Raum gestellt wurden. Hinsichtlich des Wortlauts des Artikels wird auf Anlage K 13 Bezug genommen. Dieser Artikel war Gegenstand der Verhandlungen zwischen den Parteien, wobei die Vertreter der Beklagten nach dem Vortrag der Klägerin deren diesbezügliche Bedenken zerstreuen konnten; der genaue Inhalt der entsprechenden Gespräche ist zwischen den Parteien streitig.

5

Mit Anteilsübertragungsvertrag vom 31.5.2018 (Anlage K 7) verkaufte und übertrug die Klägerin schließlich ihre Anteile an der Zielgesellschaft an die zur … Gruppe gehörende … AG. Der notarielle Vertrag enthält unter anderem folgende Bestimmungen.

6

13.6 Continuation in the Ordinary Course of Business. For a time period of six (6) months after Closing Date Purchaser shall, and shall procure that the T. Company will continue conducting the Business.

7

13.7 Use of T. Cash. Purchaser shall, and shall procure that the T. Company will use the T. Cash exclusively for the development of the T. Company.

8

Hinsichtlich des weiteren Inhalts des Vertrages wird auf Anlage K 7 Bezug genommen.

9

Im Vorfeld des Vertragsschlusses war vereinbart worden, dass die Zielgesellschaft zum Übertragungsstichtag über bestimmte Bestände an Barvermögen („cash“) und Nettoumlaufvermögen („net working capital“) verfügen sollte („t. cash“); insoweit sagte die Klägerin zu, 10 Mio. € als „equity contribution“ in die Zielgesellschaft einzubringen. Die Klägerin legte daraufhin 14 Mio. € in die Zielgesellschaft ein.

10

Im Juli 2018 beschloss die … AG als nunmehrige Alleingesellschafterin der Zielgesellschaft die Auszahlung einer Vorabdividende in Höhe von 7,5 Mio. €. Der Beschluss wurde in der Folgezeit auch vollzogen.

11

Im Juni 2019 veräußerte die … AG ihre Anteile an der Zielgesellschaft an die ebenfalls zur …-Gruppe gehörende … AG. Diese veräußerte die Zielgesellschaft im August 2019 an einen konzernfremden Dritten. Im Herbst 2019 stellte die Zielgesellschaft unter Verweis auf die erheblichen Pensionslasten Eigeninsolvenzantrag. Das Verfahren wurde in Eigenverwaltung durchgeführt („Schutzschirmverfahren“). Nach dem Verfahren bestand die Zielgesellschaft zunächst fort und war weiter werbend tätig.

12

Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte habe bei den Vertragsverhandlungen im Eigeninteresse und unter Inanspruchnahme persönlichen Vertrauens gehandelt und dabei die Klägerin, der es primär um den Erhalt der Zielgesellschaft zum Wohle der Arbeitnehmer (insbesondere auch im Hinblick auf deren Pensionsansprüche) gegangen sei, unter Missbrauch ihres Vertrauens hierauf zur Einlage von Geldmitteln in die Zielgesellschaft gebracht. Mit ihrer Klage begehrt sie die Zahlung von 9.093.529,18 € nebst Zinsen ab Rechtshängigkeit als Schadensersatz.

13

Bei der Berechnung ihres Anspruchs geht die Klägerin von einem Teilbetrag von 10 Mio. € ihrer erbrachten Einlage aus, die für Investitionen und die Sicherung der Pensionsverpflichtungen hätten dienen sollen. Der ursprünglich mit der … AG vereinbarte Kaufpreis von 100.000,- € erhöhte sich aber gemäß Ziff. 4.1. (b), (c) des Anteilsübertragungsvertrages (Anlage K 7), weil die vertraglich vereinbarten Zielgrößen an „cash“ und „net working capital“ um 906.470,82 € bzw. 1.582.231,833 € (zusammen der Erhöhungsbetrag) überschritten wurden. Den Erhöhungsbetrag für den Kaufpreis wegen Überschreitung der Zielgröße „cash“ (906.470,82 €) lässt sich die Klägerin auf ihre Rückforderung von 10 Mio. € anrechnen.

14

Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 9.093.529,18 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Zustellung der Klage zu bezahlen.

15

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

16

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils wird Bezug genommen. Mit ihrer zulässigen, insbesondere form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Begehren weiter.

17

Die Klägerin beantragt,

18

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts München I vom 25.04.2022, Az. 10 HK O 17905/20, aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9.093.529,18 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

19

II. Hilfsweise wird beantragt, die Entscheidung des Landgerichts München I vom 25.04.2022, Az. 10 HK O 17905/20, aufzuheben und den Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht München I zurückzuverweisen.

20

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

B.

21

Die Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht sowohl einen Anspruch der Klägerin dem Grunde nach verneint als auch die schlüssige Darlegung eines klägerischen Schadens vermisst.

22

I. Der Klägerin steht dem Grunde nach kein Schadensersatzanspruch aus Verschulden bei VertragsverhandlungenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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Verschulden bei Vertragsverhandlungen
aus §§ 311 Abs. 3, 280 Abs. 1 BGB zu. Ein solcher würde ein Schuldverhältnis im Sinne der §§ 311 Abs. 2, 3 BGB zwischen den Parteien, die Verletzung einer Pflicht aus diesem Schuldverhältnis durch die Beklagte sowie einen durch die Pflichtverletzung verursachten Schaden der Klägerin voraussetzen. Es fehlt jedoch bereits an einem Schuldverhältnis zwischen den Parteien.

23

1. Ein Schuldverhältnis im Sinne des § 311 Abs. 3 BGB zu einer dritten Person, die nicht selbst Vertragspartei werden soll, entsteht insbesondere dann, wenn dieser Dritte in besonderem Maß Vertrauen für sich in Anspruch nimmt und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst (§ 311 Abs. 3 S. 2 BGB). Wie das Wort „insbesondere“ zeigt, ist diese Regelung nicht abschließend. Gleichgestellt ist der Fall, dass der Dritte eigene wirtschaftliche interessen verfolgt; bei der Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens durch den Dritten bzw. Eigeninteressen des Dritten handelt es sich um zwei selbständig nebeneinander stehende Fallgruppen des vorvertraglichen Schuldverhältnisses zu einem Dritten (vgl. nur Grüneberg / Grüneberg, BGB, 83. Aufl., § 311 Rz. 61, 63), die zwar in der Lebenswirklichkeit häufig ineinander übergehen werden, aber doch – wie die Berufung zu Recht hervorhebt – je für sich ein vorvertragliches Schuldverhältnis begründen können.

24

Der Berufung ist auch darin zu folgen, dass – entgegen der Ansicht der Berufungserwiderung – die Beklagte (und nicht nur die agierenden natürlichen Personen) bei den Vertragsverhandlungen für die spätere Erwerberin (… AG) gehandelt hat, so dass die Beklagte grundsätzlich Partei eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses zur Klägerin hätte werden können. Maßgeblich für ein Handeln im Namen des Vertretenen ist insoweit der Empfängerhorizont, also die (legitime) Sichtweise der Klägerin, wie sich aus § 164 Abs. 1 S. 2 BGB ergibt. Sowohl der Letter of Intent (Anlage K 1) als auch die Binding Offer (Anlage K 2) stammten von der Beklagten; in der Binding Offer ist die Beklagte als Ansprechpartner für „all further communication and questions regarding this offer“ genannt; die Beklagte ist auch Partei der Exklusivitätsvereinbarung (Anlage K 3). Aus der maßgeblichen Sicht der Klägerin handelten damit die Beklagte für die spätere Erwerberin (bis zu deren Namhaftmachung im Wege des offenen Geschäfts für den, den es angeht, wie sich schon daraus ergibt, dass bereits im Letter of Intent der Erwerb durch ein Erwerbsvehikel vorgesehen war) und die agierenden natürlichen Personen für die Beklagte. Damit trat die Beklagte bei den Vertragsverhandlungen als Vertreterin der … AG auf.

25

Nach der grundlegenden Wertung des Gesetzes treffen die rechtsgeschäftlichen Verpflichtungen beim Vertreterhandeln grundsätzlich den Vertretenen und nicht den Vertreter. Deshalb kommen ein vorvertragliches Schuldverhältnis zwischen dem Vertreter und dem Vertragspartner und eine haftung des Vertreters hieraus nach §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 3 BGB nur ausnahmsweise unter besonderen Umständen in Betracht (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 3.4.1990 – XI ZR 206/88, Rz. 18; Urteil vom 29.1.1992 – VIII ZR 80/91, Rz. 13; Urteil vom 13.6.2002 – VII ZR 30/01, Rz. 11). Nach der hiernach gebotenen zurückhaltenden Betrachtungsweise kommt vorliegend ein Schuldverhältnis zwischen den Parteien weder unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Eigeninteressen der Beklagten (unten 2.) noch unter dem Aspekt der Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens (unten 3.) in Betracht.

26

2. Eine Haftungserstreckung auf den Vertreter wegen besonderen wirtschaftlichen Eigeninteresses setzt voraus, dass der Vertreter eine so enge Beziehung zum Vertragsgegenstand hat, dass er wirtschaftlich gleichsam in eigener Sache tätig wird, also bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise der eigentliche Herr des Geschäfts ist (BGH, Urteil vom 29.1.1992 a.a.O. Rz. 10; Urteil vom 13.6.2002 a.a.O. Rz. 11; Grüneberg / Grüneberg a.a.O. Rz. 61). Ein nur mittelbares Interesse, etwa auf Gewinnbeteiligung oder Provision, genügt nicht (BGH a.a.O.; vgl. auch Urteil vom 13.1.2022 – III ZR 210/20, Rz. 21). Nach diesen Grundsätzen kann ein hinreichendes wirtschaftliches Eigeninteresse der Beklagten an dem Vertragsschluss vorliegend nicht bejaht werden.

27

a) Sogar die mitgliedschaftliche Beteiligung der Beklagten an der Vertretenen (… AG) würde nicht für ein wirtschaftliches Eigeninteresse in diesem Sinn genügen (BGH, Urteil vom 6.6.1994 – II ZR 295/91, Rz. 15; Urteil vom 27.3.1995 – II ZR 136/94, Rz. 7; damit ist das von der Klagepartei herangezogene Urteil vom 27.10.1982 – VIII ZR 187/81 überholt). Soweit dieses Ergebnis mit dem aus § 13 Abs. 2 GmbHG herleitbaren Haftungsregime der GmbH begründet wird, ist dieser Gedanke entgegen der Auffassung der Klagepartei auf vorliegenden Fall übertragbar; zwar ist die vertretene Gesellschaft vorliegend eine Aktiengesellschaft; im Aktiengesetz findet sich die entsprechende Regelung aber in § 1 Abs. 2.

28

Im Streitfall kann noch nicht einmal festgestellt werden, dass die Beklagte an der … AG beteiligt war. Die Beklagte hat vorgetragen, sie sei nicht Gesellschafterin der Erwerberin gewesen. Dies konnte die für die Voraussetzungen einer Haftung darlegungs- und beweispflichtige Klägerin nicht widerlegen. Damit kann allenfalls von einer konzernrechtlichen Verbundenheit der Beklagten und der … AG ausgegangen werden, die für ein wirtschaftliches Eigeninteresse nicht genügen kann, wenn schon die unmittelbare Beteiligung der Beklagten an der … AG nicht genügen würde.

29

b) Ein wirtschaftliches Eigeninteresse der Beklagten an dem Vertragsschluss ließe sich auch dann nicht begründen, wenn schon im Zeitpunkt der Vertragsverhandlungen der Beklagten bekannt gewesen sein sollte, dass die Erwerberin beabsichtigte, sich kurz nach Vertragsschluss eine Vorabdividende zu genehmigen. Denn diese Dividende floss an die … AG und weder unmittelbar noch mittelbar an die Beklagte.

30

Auch die Einbeziehung der Zielgesellschaft und / oder der (die Dividende erhaltenden) … AG in das Cash-Pooling-System der … Gruppe vermag ein hinreichendes wirtschaftliches Eigeninteresse der Beklagten nicht zu begründen. Der Vorteil, den die Beklagte hieraus ziehen konnte, bestand, da der Inanspruchnahme von Leistungen aus dem Cash Pooling ein gegenläufiger Darlehensanspruch gegenüber gestanden hätte, allenfalls in der potentiellen Steigerung ihrer Liquidität. Dies ist nach Auffassung des Senats nur ein mittelbar aus dem Vertragsschluss folgender Vorteil, der eine Eigenhaftung des Vertreters nicht zu begründen vermag.

31

3. Ein vorvertragliches Schuldverhältnis zwischen Vertreter und potentiellem / zukünftigem Vertragspartner wegen Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens setzt voraus, dass vom Vertreter über das normale Verhandlungsvertrauen hinaus gerade von ihm persönlich ausgehendes Vertrauen für sich und die Richtigkeit seiner Erklärungen in Anspruch genommen wird; erforderlich werden dabei Erklärungen im Vorfeld einer Garantiezusage sein (BGH, Urteil vom 6.6.1994 – II ZR 292/91, Rz. 19; Urteil vom 13.6.2002 (VI ZR 30/01, Rz. 9; Urteil vom 13.1.2022 – III ZR 210/20, Rz. 21). Das bedeutet, dass gerade vom Vertreter persönlich die Gewähr für die Seriosität und Erfüllung des Geschäfts oder die Vollständigkeit und Richtigkeit der im Hinblick auf den Vertragsschluss abgegebenen Erklärungen übernommen wird (BGH, Urteil vom 29.1.1992 – VIII ZR 80/91, Rz. 13, 16) bzw. dass der Vertreter dem anderen Teil in zurechenbarer Weise den Eindruck vermittelt, er werde persönlich mit seiner Sachkunde die ordnungsgemäße Abwicklung des Geschäfts gewährleisten (BGH, Urteil vom 3.4.1990 – XI ZR 206/88, Rz. 18).

32

Vorliegend kann jedoch weder aus den schriftlichen Dokumenten zu den Vertragsverhandlungen noch aus dem klägerischen Vortrag zu den mündlichen Äußerungen der Mitarbeiter der Beklagten bei den Vertragsverhandlungen hergeleitet werden, dass die Beklagte besonderes Vertrauen in sie persönlich, also gerade in die Rechtspersönlichkeit … GmbH im Sinne eines garantieähnlichen Einstehen-Wollens erweckt hat. Schließlich zwingen auch die sonstigen Umstände nicht zu einer anderen Bewertung.

33

a) Den vorgelegten schriftlichen Dokumenten ist nicht zu entnehmen, dass die Beklagte besonderes, über das normale Vertragsvertrauen hinausgehendes Verhandlungsvertrauen für sich in Anspruch nahm.

34

Bereits im Letter of Intent (Anlage K 1), mit welchem die Vertragsverhandlung begannen, aber auch in der nachfolgenden (nahezu wortgleichen) Binding Offer (Anlage K 2) macht die Beklagte jeweils auf Seite 1 deutlich, dass sie (nicht nur für sich, sondern) „on the behalf of …Group (…)“ handelt. Aus der Setzung des Begriffes „…“ in Klammern nach „… Group“ ergibt sich, dass damit „…“ für die folgenden Ausführungen definiert wird als Synonym für „… Group“. Damit beziehen sich die nachfolgenden Anpreisungen und Zusagen (etwa „investment experience“, „proving track record of performance“, „strong and independant financial power“, „management team well experienced“, „direct support of the business executive team“, „use of its industrial network“), die „…“ zugeschrieben werden, auf die gesamte Gruppe und nicht speziell auf die Beklagte. Der Senat verkennt dabei nicht, dass die „Gruppe“ als eigene Rechtspersönlichkeit nicht existiert, sondern allenfalls über eine Holdinggesellschaft zusammengefasst ist. Das ändert aber nichts daran, dass die dargestellten Anpreisungen nicht die speziellen Kompetenzen gerade der Beklagten in den Vordergrund rücken; sie taugen daher nicht als Anknüpfungspunkt eines besonderen Vertrauens gerade in die Beklagte selbst.

35

Diese Sichtweise wird entgegen der Auffassung der Klagepartei nicht widerlegt, sondern gerade bestätigt durch die schriftliche Äußerung der Beklagten, sie handle „on own account“. Die Aussage findet sich jeweils auf S. 6 des Letter of Intent (Anlage K 1) und der „Binding offer“ (Anlage K 2) und lautet im Zusammenhang: „The aquisition vehicle will be a 100% subsidiary of …Group. Thus [Hervorhebung durch den Senat] we are acting on own account and not for third parties“. Durch den mittels des Wortes „thus“ hergestellten Bezug auf den Erwerb der Zielgesellschaft durch eine Gruppengesellschaft wird hinreichend deutlich, dass der „own account“ derjenige der …Gruppe und nicht speziell derjenige der Beklagten ist. Aus der Formulierung lässt sich daher weder die Inanspruchnahme besonderen Vertrauens durch die Beklagte persönlich noch ein wirtschaftliches Eigeninteresse gerade der Beklagten herleiten.

36

Nichts anderes ergibt sich aus Anlage K 4. Es handelt sich um die Antwort des Syndikus der Beklagten auf eine Anfrage seitens der Klägerin per Email im Zuge der Vertragsverhandlungen, wobei der Antwortende seine Antworten in der Ausgangsmail in roter Schrift eingefügt hat. Dabei wird die Mutmaßung der Klägerin, die Beklagte sei die Konzernobergesellschaft des Erwerbsvehikels, von Beklagtenseite unkommentiert gelassen. Zwar mag diskutabel sein (obwohl zweifelhaft erscheint, ob man dem bloßen Schweigen insoweit einen Erklärungsgehalt beimessen kann), dass die Beklagte hierdurch den Eindruck erweckt hat, Konzernobergesellschaft der … Gruppe zu sein. Dies genügt jedoch nicht für die Annahme der Inanspruchnahme besonderen, über das übliche Verhandlungsvertrauen hinausgehenden Vertrauens gerade in die Beklagte. Denn die Eigenschaft des Vertreters als Konzernobergesellschaft des Vertretenen genügt gerade nicht für ein vorvertragliches Schuldverhältnis zwischen Vertreter und Vertragspartner; die obigen Wertungen betreffend die Frage eines wirtschaftlichen Eigeninteresses müssen auch insoweit Geltung beanspruchen. Anders läge es allenfalls, wenn die Beklagte ihre sogleich unter b) zu erörternden Zusicherungen unter ausdrücklicher Berufung darauf gemacht hätte, dass sie als Konzernobergesellschaft rechtlich und tatsächlich in der Lage sei, hierfür auch Sorge zu tragen. Dergleichen wird aber nicht vorgetragen.

37

b) Den von der Klagepartei vorgetragenen mündlichen Äußerungen der auf Seiten der Beklagten agierenden natürlichen Personen lässt sich keine einer Garantiezusage gleichkommende Inanspruchnahme besonderen, über das normale Verhandlungsvertrauen hinausgehenden Vertrauens gerade in die Beklagte persönlich entnehmen. Eine Beweisaufnahme zu diesen teilweise bestrittenen Äußerungen war daher nicht erforderlich.

38

Dabei ist zunächst hervorzuheben, dass – nachdem es um die Begründung eines Schuldverhältnisses geht – solche Erklärungen der Beklagten nach dem Empfängerhorizont auszulegen sind, also danach zu fragen ist, wie die Klägerin diese Erklärungen nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen durfte (nicht: wie sie diese tatsächlich verstanden hat). Von daher liegt es nahe, eventuelle Zusicherungen der Beklagten im Lichte der vorstehend erörterten schriftlichen Verhandlungsunterlagen dahin zu verstehen, dass sie nicht speziell für die Beklagte, sondern letztlich für die „…Gruppe“ als Ganzes, d.h. für die einzelnen Konzerngesellschaften abgegeben wurden und dass nicht gerade die Beklagte persönlich in garantieähnlicher Weise dafür einstehen wollte.

39

Soweit vorgetragen wird, die für die Beklagte Handelnden hätten bei den Vertragsverhandlungen stets hervorgehoben, es sei an eine langfristige Investition gedacht und die Beklagte werde sich, insbesondere auch durch ihren Mitarbeiter H., persönlich in die langfristige Fortführung des Unternehmens einbringen, vermochte dies keinen schützenswerten Vertrauenstatbestand auf Klägerseite zu begründen. Denn der Vertreter hat keinesfalls für mehr einzustehen als der Vertretene selbst, hier also die … AG. Nach der Regelung gemäß Ziff. 13.6 des Anteilsübertragungsvertrages gemäß Anlage K 7 war die Erwerberin aber nur verpflichtet, das Unternehmen für die Dauer von sechs Monaten fortzuführen. Damit konnte auf Klägerseite schon generell kein schützenswertes Vertrauen in eine längerfristige Fortführung bestehen, so dass sich die Frage erübrigt, ob sie ein entsprechendes Vertrauen (nicht nur in ihren Vertragspartner, sondern auch) speziell in die Beklagte setzen durfte.

40

Dies gilt letztlich auch, soweit vorgetragen wird, die Beklagte habe auf konkrete Nachfragen der Klägerin im Hinblick auf Mutmaßungen in der Presse am Sitz der Zielgesellschaft, wonach ein heute hinter der Beklagten stehender Investor bei einem früheren Investment in der Region eine erworbene Gesellschaft zeitnah zerschlagen und liquidiert habe, was nunmehr auch der Zielgesellschaft drohen könne, stets betont, dass ein ähnliches Vorgehen nicht angedacht sei, sondern die Zielgesellschaft langfristig erhalten werden solle. Zum einen konnte hierdurch gewecktes Vertrauen wiederum nur Vertrauen in die Fortführung des Unternehmens sein, welches wie dargestellt allenfalls für die Dauer von sechs Monaten nach Vertragsschluss entstehen konnte. Und zum anderen weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass ein entsprechendes Vertrauen nicht enttäuscht worden wäre. Das in dem Presseartikel geschilderte Szenario ist nicht eingetreten. Weder wurde die Zielgesellschaft in Tochterunternehmen aufgeteilt und „dicht gemacht“ noch wurde eine „Trennung von Grund und Personal“ vollzogen Soweit Aussagen über die beabsichtigte Verwendung der von der Klägerin eingebrachten Einlage getroffen wurden (was anders als die langfristige Fortführung der Zielgesellschaft auch Niederschlag im schließlich abgeschlossenen Vertrag gefunden hat, vgl. Anl. K 7 Ziff. 13.7), lässt der Vortrag der Klägerin nicht erkennen, dass die Beklagte, die nicht Vertragspartnerin werden sollte, persönlich hierfür Zusagen gemacht hat, die sie zum Einstehen hierfür in garantieähnlicher Weise verpflichten würde. Die Mittelverwendung war im Vertrag geregelt; die schlichte Betonung des Inhalts dieser Vertragsklausel durch den Vertreter des Vertragspartners bei den Vertragsverhandlungen lässt nicht den Schluss darauf zu, der Vertreter wolle gegebenenfalls selbst hierfür einstehen.

41

c) Auch die Gesamtschau der vorstehend erörterten und der sonstigen Umstände rechtfertigt nicht die Annahme, dass die Beklagte bei den Vertragsverhandlungen über das normale Verhandlungsvertrauen hinaus besonderes Vertrauen gerade für sich persönlich in Anspruch genommen hat. Es trifft entgegen der Auffassung der Klagepartei nicht zu, dass die Beklagte als eigentliche Erwerberin aufgetreten sei; schon im Letter of Intent, mit dem die Vertragsverhandlungen begannen, ist klargestellt, dass die Beklagte nicht selbst erwerben wollte. Dass alle Kontakte über die Beklagte (als Vertreterin) liefen, ist beim Vertretergeschäft nicht ungewöhnlich und begründet daher kein über das normale Verhandlungsvertrauen hinausgehendes Vertrauen in den Vertreter. Dass die … AG (bzw. deren Rechtsnachfolgerin) mangels Vermögens nicht mehr in Anspruch genommen werden kann, lässt keine Rückschlüsse auf die Inanspruchnahme besonderen Vertrauens seitens der Klägerin bei den seinerzeitigen Vertragsverhandlungen zu. Nach allem lässt sich hieraus ein Schuldverhältnis zwischen den Parteien nicht begründen.

42

II. Selbst wenn man ein Schuldverhältnis zwischen den Parteien und die Verletzung einer Pflicht hieraus durch die Beklagte unterstellen würde, ist dem Landgericht im Ergebnis auch darin zuzustimmen, dass es der Klägerin nicht gelungen ist, einen kausal hieraus folgenden Schaden darzulegen.

43

Der Anspruch aus Verschulden bei Vertragsschluss richtet sich auf den Ersatz des negativen Interesses; der Geschädigte ist also so zu stellen, wie er ohne vorvertragliche Pflichtverletzung des Schädigers stünde. Der Geschädigte kann dann Rückgängigmachung des Vertrages (bzw. Berechnung des Schadens auf dieser Basis) verlangen oder aber am Vertrag festhalten und zusätzlichen Schadensersatz beanspruchen (vgl. BGH, Urteil vom 28.3.1990 – VIII ZR 169/89, Rz. 20). Beide Ansätze führen vorliegend nicht zu einem Anspruch der Klägerin auf der Basis der von ihr geleisteten Einlage.

44

1. Im ersten Fall (Berechnung auf der Basis der Rückgängigmachung des Vertrages) wäre die Klägerin so zu stellen, wie sie stünde, wenn sie nicht auf die Erklärungen der Beklagten vertraut hätte, also zwar dann die Einlage in die Zielgesellschaft nicht geleistet hätte, aber auch der Vertrag über die Anteilsveräußerung nicht zustande gekommen wäre; die Klägerin hat selbst vorgetragen, dass die Erwerberseite die Leistung der Einlage zur Bedingung für den Vertragsschluss gemacht hatte. Die Betrachtung der Vermögensposition der Klägerin ohne das Vertrauen auf die Beklagte darf daher nicht bei der Leistung der Einlage stehen bleiben, sondern muss den dann anzunehmenden Nichtabschluss des Vertrages mit einbeziehen, insbesondere die dann bis zum Schluss der mündlichen Berufungsverhandlung auflaufenden Ansprüche der Zielgesellschaft gegen die Klägerin auf Verlustausgleich. Die Klägerin hält aber auch in der Berufungsinstanz – nach vom Landgericht vorwiegend hierauf gestützter Abweisung der Klage – keinen Vortrag hierzu.

45

Bei diesem Ansatz wäre der Schaden der Klägerin nur dann identisch mit der geleisteten Einlage, wenn feststünde, dass der Vertrag auch ohne Leistung der Einlage zustande gekommen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24.6.1998 – XII ZR 126/96, Rz. 15 ff.). Dies kann nach dem Vortrag beider Parteien ausgeschlossen werden.

46

2. Aber auch bei einer Schadensberechnung auf der Basis des Festhaltens der Klägerin am Vertrag kommt man nicht zu der geleisteten Einlage als Schaden. Die Klägerin referiert zwar zutreffend, dass der Geschädigte dann so zu stellen ist, als wäre es ihm ohne die vorvertragliche Pflichtverletzung gelungen, einen günstigeren Vertrag zu schließen, ohne dass es darauf ankäme, ob sich der Vertragspartner darauf eingelassen hätte (BGH, Urteil vom 6.4.2001 – V ZR 94/99, Rz. 17). Dabei handelt es sich nicht um eine Vertragsanpassung im technischen Sinn, sondern um eine Methode zur Berechnung des Vertrauensschadens (BGH, Urteil vom 19.5.2006 – V ZR 264/04, Rz. 21).

47

Die bisher vom Bundesgerichtshof diesbezüglich entschiedenen Fälle betrafen durch die vorvertragliche Pflichtverletzung hervorgerufene Äquivalenzstörungen im weitesten Sinne (V ZR 294/99: der Geschädigte hatte einen zu hohen Kaufpreis für eine Immobilie gezahlt, weil die Dauer der bestehenden Vermietung unzutreffend angegeben wurde; VIII ZR 189/89: der Geschädigte hatte sich auf einen zu hohen Kaufpreis für ein zu importierendes Gut eingelassen, weil ihm vorgegaukelt worden war, dass die Einfuhrzölle bezahlt seien). Dem lässt sich der allgemeine Grundsatz entnehmen, dass der Vertrauensschaden im Falle des Festhaltens am Vertrag auf der Basis einer hypothetischen Vertragsanpassung, also durch Vergleich des vereinbarten mit dem angemessenen Preis berechnet werden kann.

48

Auch diese Berechnungsmethode würde allerdings nicht auf den Betrag der geleisteten Einlage als Basis der Schadensberechnung führen. Gegenüberzustellen wären vielmehr der tatsächlich von der Klägerin bezogene und der „hypothetische“, für den Fall, dass die Klägerin gewusst hätte, dass die Erwerberin das Zielunternehmen nicht auf Dauer fortführen würde, „angemessene“ Kaufpreis. Zu fragen ist also nach dem hypothetischen Mehrwert, den die Klägerin durch die Fortführung des Unternehmens seitens der Erwerberin erlangt hätte bzw. was sie billigerweise an Kaufpreis hätte fordern können, wenn sie gewusst hätte, dass die Zielgesellschaft nicht auf Dauer fortgeführt worden wäre. Maßgeblich ist damit letztlich das Interesse der Klägerin an der Fortführung des Unternehmens durch die Erwerberin. Ihr diesbezügliches Interesse begründet die Klägerin vor allem mit der Sorge für die Arbeitnehmer und Betriebsrentenberechtigten der Zielgesellschaft. Insoweit handelt es sich um ein immaterielles (da für das Vermögen der Klägerin selbst neutrales) Interesse, das nach der Wertung des § 253 Abs. 1 BGB einen Schadensersatzanspruch nicht zu begründen vermag. Eine Berechnung des (unterstellten) Schadensersatzanspruchs auf der Basis des Festhaltens am Vertrag würde daher zu einem Schaden von 0,- € führen.

49

3. Nicht zielführend ist – nach der einen wie nach der anderen Berechnungsmethode – das Argument der Klägerin, die Beklagte sei so zu stellen, als ob sie sich redlich verhalten hätte. Nach allgemeinen Grundsätzen des Schadensrechts bestimmt sich der Schaden nach der Vermögenslage der Klägerin. Ein Schaden ergibt sich durch den Vergleich von Vermögenspositionen des Geschädigten; wie der Schädiger ohne das schädigende Ereignis stünde, ist irrelevant.

50

III. Soweit sich die Klägerin in der Berufungsinstanz erstmals darauf beruft, dass die Zweckabrede über die Verwendung der Einlage wegen Sittenwidrigkeit nichtig, die Veräußerung der Zielgesellschaft im übrigen aber wirksam sei, betrifft dieser Gesichtspunkt das Verhältnis zwischen der Klägerin und der Erwerberin … AG. Gegebenenfalls wären Bereicherungsansprüche denkbar; diese würden sich aber gegen die … AG und schon deshalb nicht gegen die Beklagte richten, weil die Beklagte selbst nicht bereichert ist.

C.

51

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

52

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

53

Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Zu würdigen waren vielmehr die Umstände des Einzelfalles.

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Schlagworte: Antragsteller hat wegen schwerwiegender Beeinträchtigung seiner Interessen ein besonderes Schutzbedürfnis und, Eigeninteresse, Inanspruchnahme besonderen Vertrauens, Verschulden bei Vertragsverhandlungen, Vertrauensbruch, Vertrauensentzug, Vertrauenshaftung, Vertrauensschutz, Vertrauensverletzung, vorvertragliche Aufklärungspflichten beim Unternehmenskauf

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OLG München, Beschluss vom 22.12.2023 – 15 W 1340/23

Freitag, 22. Dezember 2023

Gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde der Schuldnerin (Klägerin und Widerbeklagte) vom 21.07.2023 gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 04.07.2023, Az. 10 O 10843/18, mit dem gegen die Schuldnerin ein Zwangsgeld von 5.000,00 € verhängt wurde (wegen der Nichtgewährung der Einsichtnahme in die Geschäftsbücher und Papiere der Schuldnerin) wird als unbegründet zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragt die Schuldnerin.

3. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I

1

Die Schuldnerin (Klägerin und Widerbeklagte …) wendet sich mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 21.07.2023 gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 04.07.2023, Az. 10 O 10843/18, mit dem gegen die Schuldnerin auf Antrag der Gläubigerin zu 2 (Beklagte und Widerklägerin zu 2 … im Folgenden auch kurz … ein Zwangsgeld von 5.000,00 € verhängt wurde wegen der Nichtgewährung der Einsichtnahme in die Geschäftsbücher und Papiere der Schuldnerin.

2

Im Erkenntnisverfahren vor dem Landgericht München I, Az. 10 O 10843/18, haben die Parteien wechselseitige Ansprüche im Rahmen einer Gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzung geltend gemacht, wobei es einerseits um die Veräußerung einer Fondsimmobilie ging, andererseits – und hier gegenständlich – um den Anspruch der Gläubigerin zu 2 auf Einsicht in die Geschäftsbücher und die Papiere der Schuldnerin gemäß § 716 Abs. 1 BGB. Die Gläubigerin zu 2 ist Gesellschafterin der Schuldnerin, einer Gesellschaft bürgerlichen RechtsBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Gesellschaft
Gesellschaft bürgerlichen Rechts
. Die Frage der Vollbeendigung der Gesellschaft ist im Rahmen der hier beschwerdegegenständlichen Vollstreckungsmaßnahme zwischen den Parteien streitig. Im Erkenntnisverfahren erging das Endurteil des Landgerichts München I vom 16.05.2019, Az. 10 O 10843/18, in dem gemäß Ziffer 6 des Tenors die Klägerin und Widerbeklagte (hier Schuldnerin) verurteilt wurde, der Beklagten zu 2 (hier Gläubigerin zu 2) in Person deren Geschäftsführers Steuerberater … Einsichtnahme in die Geschäftsbücher und die Papiere der Klägerin zu gewahren. Der Anspruch wurde darauf gestutzt, dass die Beklagte zu 2 gemäß § 716 BGB als Gesellschafterin der Klägerin berechtigt ist, in die Geschäftsbücher und in die Papiere der Klägerin Einsicht zu nehmen (EU-LG S 12 u.). Das vorgenannte Endurteil wurde rechtskräftig. Mit Beschluss vom 09.11.2020, Az. 10 O 10843/18, verhängte das Landgericht München I unter Ziffer II. des Beschlusses gegen die Schuldnerin ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000 € ersatzweise Zwangshaft für den Fall, dass die Schuldnerin nicht spätestens innerhalb eines Monats ab Zustellung des Beschlusses der Gläubigerin zu 2 Einsichtnahme in ihre sämtlichen Geschäftsbücher gewahrt aufgrund Ziffer 6. des Urteilstenors des vollstreckbaren Urteils des Landgerichts München I vom 16.05.2019, Az. 10 O 10843/18 Der vorgenannte Beschluss wurde aufgrund der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts München vom 17.03.2021, Az. 15 W 139/21, mit der Maßgabe rechtskräftig, dass die Anordnung des Zwangsgelds und ersatzweise der Zwangshaft für den Fall angeordnet ist, dass die Schuldnerin der Gläubigerin zu 2 die Einsichtnahme in die Geschäftsunterlagen nicht binnen einen Monats ab Rechtskraft des Beschlusses des Landgerichts München I vom 16.05.2019 gewahrt. Die Gläubigerin veranlasste die Beitreibung des Zwangsgelds durch die zuständige Gerichtsvollziehern unter dem 24.10.2022.

3

Die Schuldnerin und die Gläubigerin zu 2 streiten erneut über die Zwangsvollstreckung hinsichtlich des unter Ziffer 6. im Tenor des Endurteils des Landgerichts München I vom 16.10.2019 der Gläubigerin zu 2 gegen die Schuldnerin zuerkannten Anspruchs auf Gewährung der Einsichtnahme in die Geschäftsbücher und die Papiere der Klägerin. Die Gläubigerin zu 2 hat mit Schriftsatz vom 14.02.2023 beantragt, gegen die Klägerin/Schuldnerin zur Erzwingung der ihr in dem rechtskräftigen Endurteil des Landgerichts München I vom 16.05.2019 auferlegten Verpflichtung auf Gewährung der Einsichtnahme in die Geschäftsbücher und die Papiere der Klägerin ein Zwangsgeld nicht unter 10.000 € zu verhängen. Die Gläubigerin zu 2 hat zur Begründung geltend gemacht, dass auch nach Beitreibung des (ersten) Zwangsgelds gegen die Schuldnerin die vollständige Einsicht in die Geschäftsbücher und die Papiere der Klägerin nicht gewahrt worden sei. Die Schuldnerin hat mit Schriftsatz vom 08.05.2023 eingewandt, dass das neuerliche Zwangsgeldverfahren weder zulässig noch begründet sei. Sie hat sich auf die Vollbeendigung der Liquidation berufen und zudem darauf, dass der Anspruch auf Bucheinsicht erfüllt worden sei.

4

Mit Beschluss vom 04.07.2023 hat das Landgericht München I gegen die Schuldnerin zur Erzwingung der ihr in dem rechtskräftigen Endurteil des Landgerichts München I vom 16.05.2019 auferlegten Handlung, nämlich der Gläubigerin zu 2 die Einsichtnahme in die Geschäftsbücher und die Papiere der Schuldnerin zu gewähren, ein Zwangsgeld von 5.000 € verhängt, ersatzweise für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, für je 500 € ein Tag Zwangshaft, zu vollziehen an einem Geschäftsführer der Liquidatorin der Schuldnerin. Die Abwendungsbefugnis durch Erfüllung der vorzunehmenden Handlung wurde in den Beschluss aufgenommen ebenso, dass das Zwangsmittel nicht vor Ablauf von 4 Wochen ab Rechtskraft des Beschlusses vollstreckt werden darf.

5

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Schuldnerin vom 21.07.2023, mit der sie die Aufhebung des Zwangsgeldbeschlusses des Landgerichts München I vom 04.07.2023 in Höhe von 5.000 € (betreffend die Einsichtnahme in die Geschäftsbücher und die Papiere der Schuldnerin) begehrt. Zur Begründung fuhrt sie aus, dass die Vollbeendigung der Gesellschaft wegen der restlosen Verteilung des gesamten verwertbaren Aktivvermögens der Gesellschaft eingetreten sei, sodass die Schuldnerin nicht mehr passivlegitimiert und nicht mehr Parteifähig sei. Im Übrigen habe die Schuldnerin den Einsichtsanspruch der Gläubigerin zu 2 in dem Zweit- und Dritttermin zur Einsichtnahme erfüllt. Die Schuldnerin hat ihre sofortige Beschwerde mit Schriftsätzen vom 22.09.2023 und vom 09.11.2023 ergänzend begründet. Die Gläubigerin zu 2 ist dem Beschwerdevorbringen mit Schriftsätzen vom 22.08.2023 und vom 24.10.2023 entgegengetreten und hat die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde beantragt. Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 06.11.2023 nicht abgeholfen. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Parteien und die genannten gerichtlichen Entscheidungen Bezug genommen.

II.

6

Die sofortige Beschwerde der Schuldnerin ist zulässig, aber unbegründet. Das nach § 793 ZPO i.V.m. § 567 ff. ZPO statthafte Rechtsmittel wurde form- und fristgerecht eingelegt. Die sofortige Beschwerde war jedoch als unbegründet zurückzuweisen. Die angegriffene Zwangsgeldverhängung von 5.000,00 € gegen die Vollstreckungsschuldnerin ist in der Sache zutreffend. Die Voraussetzungen für die Verhängung des Zwangsgelds von 5.000,00 €, ersatzweise von Ordnungshaft, gemäß § 888 ZPO liegen vor.

7

1. Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen – Titel, Klausel, Zustellung, Gläubigerantrag (vgl. Thomas/Putzo ZPO vor § 704 Rn. 13-26, MuKoZPO/Grüber ZPO § 888 Rn. 17-19, Musielak/Voit ZPO vor § 704 Rn. 24) – liegen vor. Der vollstreckbare Titel gemäß Ziffer 6 des rechtskräftigen Endurteils des Landgerichts München I vom 16.05.2019, Az 10 O 10843/18, lautet darauf der Beklagten zu 2 (…) in Person deren Geschäftsführer Steuerberater … Einsichtnahme in die Geschäftsbücher und die Papiere der Klägerin (= …) zu gewahren Er ist hinreichend bestimmt und umfasst die im Wege der Zwangsvollstreckung durch Zwangsgeldfestsetzung verhängte Maßnahme. Klausel und Zustellung sind gegeben. Der (erneute) Antrag auf Zwangsgeldfestsetzung wegen verweigerter Bucheinsicht (2 Zwangsgeldantrag) erfolgte mit Schriftsatz der Gläubigerin zu 2 vom 14.02.2023. Die Androhung des Zwangsmittels ist vor Verhängung nicht notwendig gemäß § 888 Abs. 2 ZPO. Das erste Zwangsgeld wurde beigetrieben.

8

2. Die Einwendungen der Schuldnerin gegen die Verhängung des Ordnungsgeldes greifen nicht durch. Der Zwangsvollstreckungsantrag der Gläubigerin zu 2 ist zulässig und begründet. Die Schuldnerin ist zur Klärung der strittigen Frage der Vollbeendigung, die insbesondere von der Frage der vollständigen Erfüllung des gegenständlichen Vollstreckungsanspruch abhängt, weiterhin parteifähig. Sie ist zudem mangels Vollbeendigung passivlegitimiert. Die vorzunehmende unvertretbare Handlung der Gewährung der Einsichtnahme in die Geschäftsbücher und die Papiere der Klägerin (= …) wurde nicht (vollständig) erfüllt.

9

3. Der Vollstreckungsantrag der Gläubigerin zu 2 gemäß § 888 ZPO ist zulässig. Die Schuldnerin ist entgegen der Meinung der Beschwerde als GbR in Liquidation betreffend das hier geführte Beschwerdeverfahren weiterhin parteifähig gemäß § 50 ZPO, sie ist insoweit – jedenfalls prozessual für das vorliegende Beschwerdeverfahren – existent. Die Sachlegitimation (Aktiv- und PassivlegitimationBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Aktiv- und Passivlegitimation
Passivlegitimation
) ist eine Frage der materiellen Berechtigung des Vollstreckungsanspruchs, betrifft mithin die Begründetheit (s.u.) und ist von der Zulässigkeitsfrage zu trennen.

10

a) Die Auflösung der OHG/KG/GbR bedeutet zunächst nur, dass sich die Gesellschaft zur Abwicklungsgesellschaft wandelt Die Gesellschaft besteht als OHG/KG/GbR i.L. fort und behält als solche auch ihre Parteifähigkeit. Inexistent wird die OHG/KG/GbR erst mit ihrer Vollbeendigung. Anders verhält es sich aber, wenn sich nach Löschung (§ 157 Abs. 1 HGB bzw. §§ 161 Abs. 2, 157 Abs. 1 HGB) bzw Erloschen der GbR herausstellt, dass die Gesellschaft doch noch Vermögen hat oder doch noch Liquidationsbedarf nichtvermögensrechtlicher Art besteht. Die OHG/KG/GbR i. L. hat dann in Wahrheit eben gerade nicht aufgehört zu existieren und ist als solche nach wie vor parteifähig. Wird nachträglich Abwicklungsbedarf ersichtlich, ist die Wiederaufnahme der Liquidation geboten. In den vom Liquidationszweck gedeckten Prozessen ist die Gesellschaft existent und parteifähig (zum Ganzen. MuKoZPO/Lindacher/Hau ZPO § 50 Rn. 33, 34 m.w.N.). Für den Passivprozess vermögensrechtlicher Natur ist die substantiierte Behauptung, die gelöschte Gesellschaft habe doch noch Vermögen, ausreichend, aber auch erforderlich (MuKoZPO/Lindacher/Hau ZPO a.a.O.). Entsprechend ist für den Passivprozess nichtvermögensrechtlicher Art die substantiierte Behauptung der Klagepartei ausreichend, dass gegen die Gesellschaft nichtvermögensrechtliche Ansprüche noch offen, d h. nicht erledigt bzw nicht erfüllt sind.

11

b) Gemessen hieran ist die Schuldnerin für das hier geführte Beschwerdeverfahren weiterhin parteifähig gemäß § 50 ZPO, da das gegenständliche Vollstreckungs- und Beschwerdeverfahren gerade der Klärung dient, ob die Schuldnerin eine rechtskräftig titulierte Verpflichtung (hier die Gewährung der Einsichtnahme in ihre Geschäftsbücher und ihre Papiere) gegenüber der Titelinhaberin erfüllt hat und die Liquidation beendet werden könnte oder vielmehr fortgesetzt werden muss. Der titulierte Anspruch auf Einsicht in die Geschäftsbücher und die Papiere der Schuldnerin (GbR i.L.) nach § 716 Abs. 1 BGB, dessen Titulierung durch rechtskräftiges Urteil jedenfalls vor der Schlussabrechnung der Liquidatorin erfolgte, hindert die Vollbeendigung der Gesellschaft bis zur Erfüllung (s.i.e.u). Dessen Erfüllung ist vom Liquidationszweck erfasst, da der Anspruch die Grundlagen der Schlussabrechnung betrifft und das titulierte Kontrollrecht deren Überprüfung für den Gesellschafter ermöglichen soll Die Schlussrechnung wurde von der Liquidatorin unter dem 27.03.2023 gelegt (Anlage AG 1 zum Schriftsatz der Schuldnerin vom 08.05.2023). Die Titulierung des Einsichtsanspruchs nach § 716 BGB erfolgte mit Urteil des Landgerichts München I vom 16.05.2019. Selbst die Rechtskraft des Endurteils mit dem beschwerdegegenständlichen Titel trat erhebliche Zeit vor der Schlussabrechnungslegung der Liquidatorin gemäß § 730 BGB ein, nämlich mit Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde durch die Klägerin/Schuldnerin am 24.01.2020 (s. Bl. 26 + 30 des Bandes II des BGH, Az.. II ZB 10/20, Extraband zu den Verfahrensakten).

12

c) Daher geht es fehl, wenn die Beschwerdebegründung ausführt, dass das Einsichtsrecht nach § 716 BGB ein Anspruch während der Dauer der Gesellschaft sei und die Gläubigerin für die Einsicht auf einen Anspruch nach § 810 BGB verweisen möchte. Der Einwand greift vorliegend schon deshalb nicht durch, weil der Anspruch aus § 716 BGB unstreitig während des Bestehens der Schuldnerin, also definitiv vor deren (beschwerdeseits behaupteten) Vollbeendigung zum 27.03.2023 rechtskräftig festgestellt wurde. Dem erhobenen Einwand steht daher schon der Rechtskrafteinwand entgegen.

13

d) Die Vollbeendigung der GbR kann weiterhin auch nur eintreten, wenn der gegenständliche Vollstreckungsanspruch vollständig erfüllt worden ist. Prozessual ist ausreichend, dass der Zwangsvollstreckungsgläubiger substantiiert darlegt, dass der nichtvermögensrechtliche (hier titulierte) Anspruch gemäß § 716 Abs. 1 BGB im Rahmen der Liquidation der Gesellschaft nicht (vollständig) erfüllt wurde. Dies ist erfolgt. Die Gläubigerin zu 2 hat substantiiert dargelegt, dass der Einsichtsanspruch noch nicht vollständig erfüllt wurde und dass ferner (noch nicht verteiltes) Aktivvermögen der Schuldnerin vorhanden ist, wodurch die Vollbeendigung der GbR verhindert wird. Mit Schriftsatz vom 19.04.2023 hat die Gläubigerin zu 2 substantiiert dargelegt, dass Unterlagen zur Entwicklung des Gesellschafterbestandes der Fondsgesellschafter (Vorlage von Zeichnungs- und Vertragsunterlagen), Nachweise über die Vereinnahmung der Lebensversicherungsguthaben von Gesellschaftern sowie über Darlehensruckzahlungen von Gesellschaftern (insbesondere Weiterfinanzierern und Restanten) nicht zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden. Die Gläubigerin zu 2 hat weiterhin ausreichend substantiiert dargelegt, dass die in Excellisten enthaltene Debitorenbuchhaltung, insbesondere bezogen auf 152 Gesellschafter (Anleger), die seitens der diese Anleger finanzierenden …-Bank (…) als Weiterfinanzierer und Resttanten (Anleger die dem mit der …-Bank im Jahr 2008 geschlossenen Vergleich nicht beitraten) geführt wurden, bisher nicht zur Verfügung gestellt worden sei, dass weiterhin die gesamte Buchhaltung der Schuldnerin in D… und die Gesellschafterlisten zum Gesellschafterbestand der Fondsgesellschaft für den Zeitraum 1998-2010 nicht ausgehändigt worden seien, auch nicht beispielhaft 2 alte Gesellschafterlisten aus dem genannten Zeitraum, und dass die Schuldnerin keine Belege zur Verwendung des Betrags von ca. 250.000 € betreffend das verbliebene Ausschuttungsvermögen für nicht erreichbare Gesellschafter/Anleger (Kontoauszug zur Überweisung auf ein Rechtsanwaltsanderkonto, Hinterlegungsschein des Amtsgerichts) in den stattgefundenen Terminen zur Einsichtnahme in die Geschäftsunterlagen und Papiere der Schuldnerin vorgelegt habe. Die von der Gläubigerin substantiiert dargelegte Unvollständigkeit der gelegten Schlussabrechnung führt somit dazu, dass die Schuldnerin für das Vollstreckungsverfahren betreffend den beschwerdegegenständlichen Vollstreckungsanspruch parteifähig bleibt.

14

4. Die Anordnung der beschwerdegegenständlichen Vollstreckungsmaßnahme ist in der Sache rechtmäßig erfolgt. Der Vollstreckungsanspruch besteht, der gestellte Antrag gemäß § 888 ZPO ist begründet.

15

a) Die Schuldnerin (Klägerin) ist für den geltend gemachten Vollstreckungsanspruch – entgegen der Meinung der Schuldnerin – passivlegitimiert. Die behauptete Vollbeendigung kann nicht festgestellt werden, da gerade wegen des hier gegenständlichen Vollstreckungsanspruchs aus einem Titel auf Einsicht in die Geschäftsbücher und Papiere der Schuldnerin (Klägerin) weiterhin Liquidationsbedarf besteht. Da sich die Schuldnerin auf den Wegfall ihrer Passivlegitimation wegen Vollbeendigung (als Einwendung gegen die materielle Verpflichtung, hier aus rechtskräftig tituliertem Anspruch) beruft, ist sie nach allgemeinen Grundsätzen hierfür darlegungs- und beweisbelastet. Die Gläubigerin zu 2 ist als Titelinhaberin bezüglich des geltend gemachten Vollstreckungsanspruchs (weiterhin) aktivlegitimiert.

16

aa) Der rechtskräftig festgestellte Vollstreckungsanspruch auf Einsicht in die Geschäftsbücher und die Papiere der Schuldnerin (GbR i.L.) nach § 716 Abs. 1 BGB, dessen Titulierung durch rechtskräftiges Urteil jedenfalls vor der Schlussabrechnung der Liquidatorin erfolgte (s.o.), dient der Kontrolle der Gesellschafterin (Gläubigerin zu 2) betreffend aller Geschäftsvorfälle der GbR (Schuldnerin) und hindert die Vollbeendigung der Gesellschaft bis zur vollständigen Erfüllung des Einsichtsanspruchs. Das Einsichtsrecht ist insofern der Schlussabrechnung vorgelagert. Die Schlussabrechnung kann nur erfolgen, wenn der titulierte, nichtvermögensrechtliche Einsichtsanspruch der Gesellschafterin vollständig erfüllt ist.

17

bb) Für den Zeitpunkt der Beendigung ist nach ganz h.M nicht die Schuldentilgung gegenüber Gesellschaftsgläubigern oder der Kontenausgleich zwischen den Gesellschaftern maßgeblich, sondern allein die vollständige Abwicklung des Gesamthandsvermögens Erst mit der vollständigen Abwicklung des Gesamthandsvermögens tritt die Beendigung der Gesellschaft ein (MüKoBGB/Schäfer BGB § 730 Rn. 38, BeckOGK/R. Koch BGB § 730 Rn. 7). Dies erfordert nicht nur die Erledigung aller vermögensrechtlicher Ansprüche und Verbindlichkeiten, sondern grundsätzlich auch derjenigen nichtvermögensrechtlicher Art. Erforderlich ist die Erfüllung aller Verbindlichkeiten der Gesellschaft, wozu insbesondere die Begleichung gegen die Gesellschaft bestehender, rechtskräftig titulierter Ansprüche rechnet. Können nichtvermögensrechtliche Ansprüche, insbesondere Einsichts- und Auskunftsansprüche, Einfluss auf die Auseinandersetzung des Gesellschaftsvermögens haben, indem sie Aufschluss über bestehende, nicht erledigte Ansprüche und Verbindlichkeiten der abzuwickelnden Gesellschaft geben, kann die Vollbeendigung auch nur mit Erledigung dieser Einsichts- und Auskunftsansprüche eintreten. Denn hierdurch wird die Feststellung von Art und Umfang des für die Auseinandersetzung verbleibenden Gesellschaftsvermögens vorbereitet und ermöglicht. Die Ansicht der Schuldnerin, dass für die Vollbeendigung der Gesellschaft Ansprüche nichtvermögensrechtliche Art nicht maßgeblich seien, ist daher unzutreffend.

18

cc) Dies muss insbesondere auch dann gelten, wenn – wie hier – ein rechtskräftig titulierter Anspruch eines Gesellschafters auf Einsicht nach § 716 Abs. 1 BGB besteht, da dieser Einfluss auf die von der Liquidatorin erstellte Schlussabrechnung haben kann Der Titel auf Einsicht nach § 716 Abs. 1 BGB, den der Gesellschafter schon vor der Vollbeendigung erwirkt hat, dient dem Gesellschafter zur Ermöglichung seiner Kontrollrechte in der Abwicklungsphase in Bezug auf Umfang und Bestehen von Ansprüchen der Gesellschaft gegen Dritte und gegen Gesellschafter. Insbesondere bei einer Gesellschaft wie der vorliegenden mit einer Vielzahl von Geschäftsvorfallen und Gesellschafterwechseln besteht ein berechtigtes Interesse an der Einsicht. Die sog. Durchsetzungssperre während der Abwicklungsphase steht nicht entgegen. Nach ihrem Sinn und Zweck ist die Durchsetzungssperre bei allen nicht auf Geldleistung gerichteten Ansprüchen unanwendbar (MüKoBGB/Schafer BGB § 730 Rn. 52 m.w.N.), insofern ist jedenfalls ein Ausnahmefall von der Durchsetzungssperre gegeben. Zudem ist der materielle Einwand der Durchsetzungssperre vorliegend der Schuldnerin ohnehin aufgrund der rechtskräftigen Titulierung des Einsichtsanspruchs abgeschnitten (entgegenstehende Rechtskraft).

19

dd) Die Vollbeendigung der Gesellschaft (Schuldnerin) setzt daher vorliegend insbesondere auch voraus, dass die Schuldnerin den titulierten Einsichtsanspruch der Gläubigerin zu 2 vollständig erfüllt hat. Dies ist indessen nicht der Fall (s.u.).

20

ee) Überdies ist nach unbestrittenem Vorbringen der Gläubigerin zu 2 bei der Schuldnerin noch Aktivvermögen in Höhe von ca. 250.000,00 € vorhanden, das als Ausschüttung an diejenigen Gesellschafter/Anleger auszuzahlen ist, die nach der Behauptung der Schuldnerin bisher nicht auffindbar oder erreichbar waren. Solange die Auszahlungen nicht erfolgt sind, ist keine Vollbeendigung eingetreten, da noch Aktivvermögen zu verteilen ist. Die Schuldnerin hat sich darauf beschränkt, mit Schriftsatz vom 22.09.2023 auszuführen, dass dieser Betrag vollständig auf ein Anderkonto der … Rechtsanwalts … überwiesen worden sei. Damit ist jedoch nicht die erforderliche Auszahlung an die Gesellschafter erfolgt. Es ist schon nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage und mit welchem Auftragsinhalt diese Auszahlung auf ein Rechtsanwaltsanderkonto erfolgt ist. Auffällig ist dabei auch, dass es sich offenbar um die Rechtsanwaltsgesellschaft des Prozessbevollmächtigten der Schuldnerin handelt. Inwieweit er Treuhandaufgaben für auszahlungsberechtigte Gesellschafter wahrnehmen können soll, erschließt sich nicht. Vielmehr liegt hier die Gefahr der Interessenkollision nahe. Allenfalls durch die Hinterlegung des der Verteilung unter den Gesellschaftern unterliegenden Restvermögens beim Amtsgericht (Hinterlegungsstelle) unter Verzicht auf die Rücknahme kann die Beendigung der Gesellschaft herbeiführen (MüKoBGB/Schafer BGB § 734 Rn. 11). Die Hinterlegung ist von der Schuldnerin weder behauptet noch belegt.

21

ff) Weiterhin richtet sich die Durchführung der Liquidation und die Auseinandersetzung der Gesellschaft, die zur Vollbeendigung fuhrt, nach den §§ 730 ff. BGB Dies erfordert bei einer GbR vom Zuschnitt der Schuldnerin mit einer Vielzahl vom Gesellschaftern/Anlegern und externen wie internen rechtlichen sowie wirtschaftlichen Angelegenheiten (Geschäftsvorfällen) zunächst die Aufstellung einer Auseinandersetzungsbilanz als Schlussabrechnung. Ferner ist die Feststellung der Schlussabrechnung erforderlich Die Feststellung erfolgt entsprechend dem gesetzlichen Regelfall (§ 730 Abs. 2 S. 2 BGB) durch alle Gesellschafter Danach ist der festgestellte Überschuss zu verteilen. Erst mit der Verteilung des Überschusses kann die Beendigung der Gesellschaft eintreten, wenn nicht Ansprüche sowie Verbindlichkeiten der Gesellschaft – trotz Schlussabrechnung – unerledigt geblieben sind, dann ist zumindest eine Nachtragsliquidation geboten (vgl. BeckOGK/R. Koch BGB § 734 Rn. 13; BeckOGK/R. Koch BGB § 730 Rn. 1, 6, 7, 46, MüKoBGB/Schäfer BGB § 730 Rn. 7-9; 38, 39; MüKoBGB/Schafer BGB § 734 Rn. 1, 2).

22

gg) Die Schuldnerin hat schon nicht dargelegt und auch nicht belegt, dass die mit Schriftsatz vom 08.05.2023 vorgelegte Schlussabrechnung (A. AG 1) durch Beschluss der Gesellschafterversammlung festgestellt wurde. Überdies kann die erstellte Schlussabrechnung insoweit nicht nachvollzogen werden, als der unstreitig der Ausschuttung unterliegende Betrag in Höhe von ca 250.000 €, der den bisher nicht erreichten Gesellschaftern zusteht, in der Schlussabrechnung keinen Niederschlag findet Der Betrag ist in der Schlussabrechnung nicht erfasst. Eine Erläuterung zu dem Betrag findet sich in der Schlussabrechnung ebenso wenig. Im Übrigen ist die vollständige Verteilung und Auszahlung des Auseinandersetzungsguthabens bislang nicht erfolgt. Nach dem unbestrittenen Vortrag der Gläubigerin zu 2 ist vielmehr ein Ausschuttungsbetrag in Höhe von ca. 250.000,00 € offen zur Auskehrung an bisher nach der Behauptung der Schuldnerin nicht mehr ausfindig zu machende Gesellschafter/Anleger (s.o.). Allein hierdurch ist die Liquidation nicht abgeschlossen.

23

b) Im Vollstreckungsverfahren nach § 888 ZPO ist der Erfüllungseinwand zu prüfen. Der Vollstreckungsanspruch besteht nur fort, wenn nicht zuvor Erfüllung erfolgt ist. Die vollständige Erfüllung des titulierten Anspruchs hindert die Festsetzung eines Zwangsgelds hilfsweise der Ersatzhaft Die Darlegungs- und Beweislast für die Erfüllung liegt in Verfahren nach §§ 887, 888 ZPO beim Vollstreckungsschuldner (MüKoZPO/Gruber ZPO § 887 Rn. 18, § 888 Rn. 17). Die Schuldnerin hat die vollständige Erfüllung des titulierten Einsichtsanspruchs aus § 716 Abs. 1 BGB weder substantiiert dargelegt noch nachgewiesen.

24

aa) Das Einsichtsrecht des GbR-Gesellschafters in die Bücher und Papiere der GbR ist ein umfassendes Einsichtsrecht Das Einsichtsrecht erstreckt sich grundsätzlich auf alle Bücher und Papiere der Gesellschaft, soweit sie über deren Angelegenheiten und insbesondere die Geschäftsvorgänge Aufschluss geben Hierzu zahlen auch in Datenverarbeitungsanlagen gespeicherte Informationen Insoweit kann ein Ausdruck oder die Darstellung auf einem Bildschirm verlangt werden. In seiner Reichweite entspricht das Einsichtsrecht voll dem Informationsrecht der Gesellschafter einer OHG nach § 118 Abs. 1 HGB. Eine Beschränkung auf die Kontrolle des Rechnungsabschlusses, wie sie § 166 Abs. 1 HGB für Kommanditisten vorsieht, ist in § 716 BGB nicht vorgesehen (MüKoBGB/Schäfer BGB § 716 Rn. 8; BeckOGK/Geibel BGB § 716 Rn. 40, 41). Unter den Begriff der Angelegenheiten der Gesellschaft können nicht nur sämtliche Geschäftsführungsangelegenheiten, sondern auch alle Angelegenheiten der laufenden Verwaltung sowie Grundlagengeschäfte der Gesellschaft selbst gefasst werden. Es werden alle Angelegenheiten im Innenverhältnis der Gesellschaft oder der Gesellschafter und im Außenverhältnis zu Dritten erfasst, die in irgendeinem Bezug zu der Gesellschaft stehen und von denen sich ein Gesellschafter persönlich unterrichten kann. Dabei ist im Hinblick auf den Normzweck des § 716 Abs. 1 BGB ein weites Verständnis des Begriffs der Angelegenheiten der Gesellschaft zugrunde zu legen. Insbesondere vor dem Hintergrund seiner persönlichen Haftung mit seinem Eigenvermögen für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft soll sich ein Gesellschafter einer rechtsfähigen A2. GbR umfänglich informieren dürfen (BeckOGK/Geibel BGB § 716 Rn. 34). Angelegenheiten der Gesellschaft können im Innenverhältnis der Gesellschaft insbesondere Maßnahmen, Beschlüsse oder andere Entscheidungen sein, die von den Gesellschaftern oder den Organen der Gesellschaft für die Gesellschaft oder für deren Organ getroffen oder gefasst worden sind, unabhängig davon, ob sie ein Tun, Unterlassen oder Dulden betreffen (BeckOGK/Geibel BGB § 716 Rn. 35) Zu den Angelegenheiten „der Gesellschaft“ zählt die Rspr. des BGH zu Recht die Namen und Kontaktdaten sämtlicher Mitgesellschafter (BGH NZG 2010, 61 Rn. 8, BGH, NJW 2013, 2195, BGH, NJW 2011, 921, BeckOGK/Geibel BGB § 716 Rn. 36). Im Außenverhältnis sind Angelegenheiten der Gesellschaft sämtliche tatsächliche oder rechtliche Beziehungen zu Dritten (BeckOGK/Geibel BGB § 716 Rn. 37).

25

bb) Gemessen hieran hat die Schuldnerin die vollständige Erfüllung des titulierten Einsichtsanspruchs der Gläubigerin zu 2 weder substantiiert dargelegt noch nachgewiesen Schon nach dem eigenen Vorbringen der Schuldnerin fehlt weiterhin die Gewährung der Einsicht in einen Teil der Einsicht unterliegenden Bucher (auch in elektronischer Form/Daten) und Papiere.

26

cc) Die Einsichtsgewährung ist schon insoweit unvollständig, als die Schuldnerin dem Vertreter Sträub der Gläubigerin zu 2 in den Einsichtsterminen keine Einsicht in Unterlagen gewahrt hat, die Aufschluss über den Verbleib und die Verwendung des unstreitig zur Ausschüttung vorhandenen Restbetrags von ca. 250.000 € geben. Ein Kontoauszug zur behaupteten Überweisung des Betrags auf das Anderkonto der … Rechtsanwalts … wurde nach dem Vorbringen der Gläubigerin zu 2 im Einsichtstermin vom 04.04.2023 nicht vorgelegt. Die Schuldnerin hat hierzu lediglich ausgeführt, dass dem Vertreter … der Ordner über das Hauptkonto vorgelegt worden sei. Im Termin der Einsichtnahme am 04.04.2023 sei der Betrag von 250.000 € vollständig auf ein Anderkonto der … Rechtsanwalts … eingezahlt worden. Dieses Vorbringen führt die Vorlage eines Einzahlungsbelegs bzw. eines die Überweisung belegenden Kontoauszugs im Einsichtstermin vom 04.04.2023 schon nicht schlüssig aus. Wenn die Überweisung erst am Tag der Einsichtnahme, dem 04.04.2023, erfolgt ist, wie die Schuldnerin behauptet, erschließt sich nicht, inwiefern entsprechende Belege bereits vorhanden und dem Vertreter Sträub der Gläubigerin zu 2 im Einsichtstermin am 04.04.2023 vorgelegt werden könnten.

27

dd) Weiterhin hat die Schuldnerin unstreitig die Gesellschafterlisten der Jahre 1998-2010 nicht zur Einsicht zur Verfägung gestellt. Entgegen der Meinung der Schuldnerin unterliegen auch diese Listen der Einsicht, da sie Aufschluss über den Gesellschafterbestand wahrend der Dauer der Gesellschaft geben, der zahlreichen Wechseln unterlag, und insofern Angelegenheiten im Innenverhältnis der Gesellschaft betreffen.

28

(1) Soweit die Beschwerdebegründung pauschal ausführt, dass die Einsicht insoweit noch Jahre andauern wurde, kann dies nicht nachvollzogen werden. Voraussetzung für die effektive Ausübung des Einsichtsrechts ist eine entsprechende Buchführung durch die Geschäftsführer. Die Pflicht hierzu ergibt sich zwar nicht aus § 716 BGB, wohl aber im Regelfall aus §§ 713, 666 BGB Fehlt es gleichwohl an entsprechenden Unterlagen, so kommt ausnahmsweise ein Auskunftsanspruch aus § 716 BGB in Betracht (MüKoBGB/Schafer BGB § 716 Rn. 9) Zur ordnungsgemäßen Buchführung einer Gesellschaft mit wechselndem Gesellschafterbestand und einer Vielzahl von Gesellschaftern, insbesondere bei einer Publikumsgesellschaft, gehört die lückenlose Erfassung des Gesellschafterbestandes im zeitlichen Verlauf während der Dauer der GbR Die Gesellschafterlisten sind insbesondere insoweit relevant als sie eine erste Information über Einlageverpflichtungen der Gesellschafter, damit Ansprüche der Gesellschaft gegen die Gesellschafter, und entsprechend über Einlagerückgewähr- sowie Ausschüttungsansprüche der Gesellschafter geben.

29

(2) Die Beschwerdebegründung führt dazu aus, dass seit Übernahme der Geschäftsführung durch die Liquidatorin im Jahr 1998 Anteile zigfach übertragen bzw. Anleger ausgeschieden seien und Anteile von ausgeschlossenen Zeichnern nicht umgelegt worden seien, sondern dass Fondsvolumen reduziert worden sei, was jedoch die quotale Beteiligung erhöht habe Dieser Einwand greift hinsichtlich der bisher versagten Einsicht nicht durch. Es kann insoweit nur anhand zeitlich lückenlos geführter Gesellschafterlisten nachvollzogen werden, ob das Fondsvolumen zutreffend und vollständig im zeitlichen Ablauf erfasst wurde und dementsprechend die quotale Beteiligung der jeweiligen Gesellschafter zutreffend festgestellt ist. Aus dem eigenen Vortrag der Schuldnerin ergibt sich somit, dass die vollständige Einsicht in alle das Innenverhältnis der Gesellschaft betreffenden Angelegenheiten bislang ohne rechtfertigenden Grund nicht gewahrt wurde.

30

(3) Die Schuldnerin kann sich auch nicht damit entlasten, wie in ihrem Schriftsatz vom 22.09.2023 ausgeführt, dass die Gesellschafterlisten aus dem Zeitraum der Jahre 1998-2010 nicht mehr vorhanden seien, da sie fortgeschrieben worden seien. Allein diese pauschale Behauptung genügt für die substantiierte Darlegung, dass eine Herausgabe objektiv unmöglich ist, nicht. Auch insoweit liegt die Darlegungs- und Beweislast bei der Schuldnerin. Im Übrigen wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Gesellschafterlisten zur ordnungsgemäßen und vollständigen Führung der Geschäftsunterlagen und Bücher der Schuldnerin rechnen. Weiterhin rechnen hierzu auch die Zeichnungs- und Vertragsunterlagen zu dem jeweiligen Gesellschafterbestand in der zeitlichen Abfolge, die Aufschluss über die Entwicklung des Gesellschafterbestandes geben. Soweit keine Gesellschafterlisten zum jeweiligen Gesellschafterbestand in dem Zeitraum der Jahre 1998-2010 vorliegen, ist über den Gesellschafterbestand und dessen Entwicklung von der Schuldnerin Auskunft zu erteilen.

31

(4) Im Übrigen ist in die Zeichnungs- und Vertragsunterlagen zu den Beitritten (Zeichnungen) und Austritten (Kündigungen etc.) aller Gesellschafter – ehemaliger sowie verbleibender – für den genannten Zeitraum Einsicht zu gewähren. Diese Unterlagen betreffen die Grundlagengeschäfte der Gesellschaft im Innenverhältnis und unterliegen der Einsicht nach § 716 Abs. 1 BGB. Es ist insoweit unzutreffend, wenn die Beschwerdebegründung ausführt, dass die Gläubigerin zu 2 aus § 716 Abs. 1 BGB kein Einsichtsrecht in die Geschäftsunterlagen der Schuldnerin betreffend den Gesellschafterbestand und die Gesellschafterentwicklung in dem genannten Zeitraum habe. Die Schuldnerin kann sich aus den bereits angeführten Gründen auch nicht damit entlasten, dass unklar sei, wozu Alt-Zeichnungsunterlagen begehrt wurden. Mit diesen Ausführungen räumt die Schuldnerin zugleich ein, dass sie entsprechende Zeichnungs- und Vertragsunterlagen bisher nicht zur Einsicht zur Verfügung gestellt hat Aus den in der Beschwerdebegründung angeführten Listen über Unterlagen, in die Einsicht gewährt wurde, geht auch nicht hervor, dass die Zeichnungs- und Vertragsunterlagen der Gesellschafter aus dem genannten Zeitraum zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden.

32

ee) Weiterhin ergibt sich aus dem Vorbringen der Parteien, dass die Schuldnerin der Gläubigerin zu 2 bisher jedenfalls keine vollständige Einsicht in die Debitorenbuchhaltung in Excel betreffend die 152 Gesellschafter/Anleger gewahrt hat, die von der …-Bank im Zuge der Abwicklung der dort bestehenden Darlehensverhältnisse mit einer Vielzahl von Gesellschaftern als sogenannte Weiterfinanzierer (Gesellschafter die ihre Verpflichtungen aus dem Gesellschaftsbeitritt über Kredite weiterfinanzierten) und sogenannte Restanten (Gesellschafter, die dem mit der …-Bank geschlossenen Vergleich im Jahr 2008 zur Ablösung der dort bestehenden Kredite nicht beitraten) geführt wurden.

33

(1) Aus dem Vorbringen der Parteien ergibt sich, dass etwa 400 Gesellschafter ihre Beteiligung über die …-Bank finanziert hatten und die …-Bank Zahlungsansprüche gegen diese ca. 400 Gesellschafter in Höhe von insgesamt ca. 2,2 Mio. € hatte. Dieser Betrag wurde gegenüber der … Bank im Juli 2008 über Globaldarlehen bei der … ausgeglichen Dem Vorbringen der Parteien lässt sich entnehmen, dass die Darlehensverpflichtungen der 400 Gesellschafter in Höhe von ca. 2,041 Mio. € zunächst offenbar von der Schuldnerin übernommen wurden und die entsprechenden Rückzahlungsansprüche auf die Schuldnerin übergingen. Eine Anzahl von 152 Gesellschaftern/Anlegern wurde dabei nach dem Vorbringen der Parteien von der …-Bank als Weiterfinanzierer und Restanten geführt.

34

(2) Die Gläubigerin zu 2 begehrt die Einsicht in die vollständige Debitorenbuchhaltung bzw. die vollständigen Kapitalkonten aller dieser 152 Gesellschafter/Anleger. Dies ist vom titulierten Einsichtsrecht gemäß § 716 Abs. 1 BGB erfasst. Die Debitorenbuchhaltung und die Gesellschafter-Kapitalkonten betreffen das Innenverhältnis der Gesellschafter zur Gesellschaft, die entsprechenden Unterlagen bzw. Daten (Buchführung) unterliegen dem Einsichtsrecht, wie bereits ausgeführt.

35

(3) Die Schuldnerin führt hierzu aus, dass von den ehemals von der …-Bank bezifferten 152 Weiterfinanzierern und Restanten 69 Darlehensschuldner übriggeblieben seien. Die Kontoauszuge betreffend dieser 69 Anleger bei der … (Zahlungseingänge auf Darlehensschulden) zu diesen 69 Gesellschaftern wurden zwar nach der Unterlagenliste zur Einsicht vom 09.03.2023 unter Ziffer 3 (Verlauf Darlehen) zur Verfügung gestellt. Daraus ergibt sich jedoch nur der Verlauf der Gesellschafterbeteiligungen von 69 Anlegern ab dem Jahr 2008. Offen bleibt jedoch die Dokumentation durch Geschäftsunterlagen hinsichtlich der Gesellschafterbeteiligungen der übrigen 83 Gesellschafter der 152 Gesellschafter (vor und nach 2008), die nach der Aufstellung der …-Bank über diese finanziert hatten. Aus der Beschwerdebegründung vom 21.07.2023 und dem Schriftsatz der Schuldnerin vom 22.09.2023 ergibt sich, dass zu diesen Anlegern offenbar keine Kontenblätter (Debitorenkonten bzw Kapitalkonten) zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden. Den in der Beschwerdebegründung aufgenommenen Excellisten über die gewahrten Einsichten in den Terminen am 09.03.2023 und am 04.04.2023 lässt sich dies auch nicht entnehmen Entsprechende Unterlagen oder Daten sind dort nicht aufgeführt. In diesem Zusammenhang führt die Schuldnerin in der Beschwerdebegründung (dort Seite 9/10) selbst aus, dass die Zahlungseingange der Anleger zur Ablösung von Darlehen bei der …-Bank in der Buchhaltung der Schuldnerin nicht erfasst worden seien. Diese seien von der Fondsgesellschaft nicht zu buchen gewesen. Es müssten hinsichtlich dieser Gesellschafter bei ordnungsgemäßer Buchführung jedoch Gesellschäfter-Kapitalkonten vorhanden sein, die Aufschluss über den Stand der wechselseitigen Ansprüche zwischen den einzelnen Gesellschaftern und der Gesellschaft (Einlagenzahlung, Einlagenrückgewähr, Ausschuttungsbeträge etc.) geben. Nur hieraus kann wiederum ersehen werden, wie die Zeichnungen der betreffenden Gesellschafter und der sich daraus ergebenden Verpflichtungen im Innenverhältnis zur Gesellschaft abgewickelt wurden. Es geht insoweit nicht um Darlehenskonten, sondern um die Kapitalkonten zu den einzelnen Gesellschaftern.

36

(4) Die von der Schuldnerin angeführten Sachkonten, die laut der Liste über die Bucheinsicht vom 04.04.2023, dort Ziffer 2, in einem Ordner zur Verfugung gestellt wurden und Auskunft über die Zahlungseingänge der Gesellschafter/Anleger geben sollen, betreffen lediglich den Zeitraum von 2008-2023, sodass wiederum für den Zeitraum vor 2008 offensichtlich keine Unterlagen zur Einsicht zur Verfügung gestellt wurden.

37

ff) Die Schuldnerin hat nach ihrem Vorbringen (Schriftsatz vom 08.05.2023) zur Aufklärung einiger von der Gläubigerin zu 2 erhobener Vorwurfe (insbesondere behauptete Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit Darlehensrückführungen von Gesellschaftern/Anlegern) die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BTR im August 2020 zur Überprüfung eingeschaltet, der ausweislich der vorgelegten A3. AG 3 (Schreiben vom 17.08.2020) zahlreiche Unterlagen von der Schuldnerin zur Überprüfung zur Verfügung gestellt wurden Nach dieser Aufstellung hat die Schuldnerin der Prüfungsgesellschaft insbesondere den kompletten D…-Datenbestand der Buchhaltung für die Jahre 2008-2019, die vollständige Anlegerliste der Gesellschaft mit zahlreichen Anmerkungen, die vollständige Liste der Darlehensforderungen gegenüber ausgeschiedenen Anlegern sowie der umgelegten Anteile und die vollständigen Anlegerakten inklusive Kopien der Zeichnungsscheine, Kopien von Ausweisdokumenten, Schriftverkehr etc. zur Verfügung gestellt. Es handelt sich insoweit um Geschäftsunterlagen der Schuldnerin.

38

(1) Der Abgleich zwischen dieser Aufstellung der Prüfungsgesellschaft und den nach den Auflistungen der Beschwerdebegründung am 09.03.2023 und am 04.04.2023 der Gläubigerin zu 2 zur Einsicht zur Verfügung gestellten Unterlagen und Dateien ergibt, dass die Schuldnerin der Gläubigerin zu 2 diejenigen Unterlagen, die der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zur Verfügung gestellt wurden, nicht vollständig zur Einsicht vorgelegt hat Dies betrifft insbesondere den kompletten D…-Datenbestand und die vollständigen Anlegerakten. Auch insoweit ist die gewahrte Einsicht nicht vollständig erfolgt. Es handelt sich hierbei um Geschäftsbücher und Papiere, die die Gläubigerin zu 2 zur Einsicht begehrt hat und zu denen die Schuldnerin die Einsicht bislang verweigert hat, wie sich auch aus ihren Ausführungen in diesem Beschwerdeverfahren ergibt.

39

(2) Die Schuldnerin kann sich in diesem Zusammenhang nicht darauf berufen, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die entsprechenden Unterlagen eingesehen und überprüft hat und auf Grundlage dieser keine Unregelmäßigkeiten feststellen konnte. Der einsichtsberechtigte Gesellschafter hat ein Einsichtsrecht in alle Gesellschaftsunterlagen. Er muss sich nicht darauf verweisen lassen, dass ein von der Gesellschaft (hier der Zwangsvollstreckungschuldnerin) eingeschalteter Dritter die Einsicht übernimmt und nach Einsicht dazu ein Prüfergebnis verfasst. Die einsichtsverpflichtete Gesellschaft kann die Erfüllung des Einsichtsanspruchs des Gesellschafters nicht durch Übertragung der Einsicht auf einen von ihr ausgewählten Dritten erfüllen.

40

(3) In diesem Zusammenhang ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass es für die Frage der vollständigen Erfüllung des Einsichtsrechts keine Rolle spielt, ob eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Auftrag der Schuldnerin bestätigt hat, dass die von der Gläubigerin zu 2 erhobenen Vorwurfe über Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung nicht zutreffen wurden Das Einsichtsrecht besteht unabhängig von dem Ergebnis, das eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die die Schuldnerin eingeschaltet hat, aus einer Einsicht der Geschäftsunterlagen gewonnen hat. Die einsichtsberechtigte Gläubigerin zu 2 muss auch keine Unregelmäßigkeiten behaupten oder belegen, um Einsicht in die Geschäftsunterlagen zu erhalten. Dies ist keine Voraussetzung für das Einsichtsrecht. Der einsichtsberechtigte Gesellschafter muss noch nicht einmal ein besonderes Interesse an der Einsicht darlegen Inhaltlich ist das Einsichtsrecht lediglich durch den Zweck begrenzt, die Erfüllung der Gesellschafterpflichten oder die Ausübung der Gesellschafterrechte zu ermöglichen, z.B. die sachgerechte Prüfung einer vorhandenen Bilanz oder auch der Beteiligungsverhältnisse an der Gesellschaft bzw. Abwicklung einzelner Beteiligungen (vgl. BeckOGK/Geibel BGB § 716 Rn. 39). Der BGH weist dabei zu Recht der Gesellschaft und ihren Organen die Darlegungs- und Beweislast für diejenigen Umstände zu, die eine Einschränkung des Rechts aus § 716 Abs. 1 BGB im Einzelfall rechtfertigen konnten (BeckOGK/Geibel BGB § 716 Rn. 39 m w.N.). Der Verweis der Schuldnerin auf das Prüfungsergebnis der von ihr eingeschalteten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft genügt für eine inhaltliche Einschränkung des Einsichtsrechts nicht.

41

gg) Ausweislich der vorgelegten Listen über die gewährte Einsichtnahme hat die Schuldnerin der Gläubigerin zu 2 darüber hinaus bislang keine Einsicht in die komplette D…-Buchhaltung gewährt. Diese elektronische Buchführung unterfallt dem Einsichtsrecht nach § 716 Abs. 1 BGB, da hierin die Buchführung der betroffenen Gesellschaft in elektronischer Form enthalten ist. Der Umstand, dass sich das Einsichtsrecht auch auf die elektronisch geführte Buchführung bezieht, wurde bereits dargelegt. Nach den vorgelegten Listen über die Einsichtnahmen wurde aus der D…-Buchhaltung lediglich das Geldtransitkonto 2008-2022 zur Verfügung gestellt (s. Liste Bucheinsicht am 09.03.2023, Ziffer 9.).

42

hh) Ausweislich des Vorbringens der Schuldnerin im gegenständlichen Beschwerdeverfahren ist die Schuldnerin nicht gewillt, die vorstehend aufgeführten Unterlagen und Daten – allesamt Geschäftsbücher und Papiere der Gesellschaft im Sinne des § 716 Abs. 1 BGB – trotz des titulierten Anspruchs der Gläubigerin und deren Einsichtsverlangens für eine Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen.

43

c) Ein schutzenswertes Geheimhaltungsinteresse bezüglich der Namen und der Mitgliedschaft der früheren und jetzigen Gesellschafter der Schuldnerin aus Datenschutzrechtlichen Gründen besteht nach der Rechtsprechung des BGH nicht Bei vernünftiger Betrachtung ist der Gesellschafter auf die Datenverwendung zur Wahrnehmung seiner Rechte in der Gesellschaft angewiesen (BGH, NJW 2013, 2195 Rn. 41; BGH, NJW 2011, 921 m.w.N.). Das Auskunftsbegehren des Gesellschafters, gerichtet auf Mitteilung der Namen und Anschriften der Mitgesellschafter, ist nach der Rechtsprechung des BGH nur durch das Verbot der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) und das Schikaneverbot gemäß § 226 BGB begrenzt (BGH, NJW 2013, 2195 Rn. 43; BGH, NJW 2011, 921 m.w.N.). Eine abstrakte Missbrauchsgefahr allein rechtfertigt es nicht, einem Vertragspartner das Recht zuzugestehen, gegenüber dem anderen seinen Namen und seine Anschrift zu verheimlichen (BGH, NJW 2013, 2195 Rn. 43).

44

aa) Insofern hindern die – wiederholt von der Schuldnerin vorgebrachten – Einwendungen des Datenschutzes und der Missbrauchsgefahr den – hier im Übrigen titulierten – Einsichtsanspruch und dessen Durchsetzung im Wege der Zwangsvollstreckung nicht. Insbesondere ist das von der Gläubigerin begehrte Einsichtsverlangen vom Umfang her von dem titulierten Anspruch nach § 716 Abs. 1 BGB gedeckt, wie sich aus der vorgenannten Rechtsprechung des BGH ergibt, die überzeugend ist.

45

bb) Konkrete Anhaltspunkte für eine Missbrauchsgefahr zeigt die Schuldnerin nicht auf. Vielmehr zeigt die „scheibchenweise“ Gewährung des Einsichtsrechts, dass die Schuldnerin nicht von vornherein alle Geschäftsunterlagen und Papiere zur Einsicht zur Verfügung gestellt hat, auch nicht transparent aufgezeigt hat, welche Unterlagen und Daten vorhanden sind und hierdurch seitens der Gläubigerin zu 2 Nachforderungen erforderlich wurden, da die Einsichtsgewährung in die vollständigen Geschäftsunterlagen und Papiere nicht gewahrt wurde und nach wie vor nicht gewährt ist. Der Vorwurf der Schikane von der Schuldnerin gegenüber der Gläubigerin zu 2 ist vor diesem Hintergrund und aus den bereits dargelegten Gründen zum Umfang des Einsichtsrechts substanzlos. Die Schuldnerin kann sich gegen den Vollstreckungsanspruch auch nicht darauf berufen, dass die Gläubigerin zu 2 nach Abschluss der bisherigen Einsichtstermine nachträglich weitere Unterlagen/Daten zur Einsicht verlangt habe. Wie aufgezeigt, besteht ein umfassendes Einsichtsrecht. Wenn der Einsichtsberechtigte nach erfolgten Einsichtsterminen feststellt, dass ihm ein Teil der Geschäftsbücher und Papiere der GbR nicht zur Verfügung gestellt wurden, kann er die Einsicht in diesen Teil weiterhin verlangen, da dann die gewährte Einsicht nicht in alle Geschäftsbücher und Papiere der GbR erfolgt ist. Der Schuldnerin steht kein Auswahlrecht zu, in welche ihrer Geschäftsbücher und Papiere sie Einsicht gewähren mochte.

46

5. Angesichts des in § 888 Abs. 1 Satz 2 ZPO für das einzelne Zwangsgeld vorgesehenen Höchstbetrages von 25.000,00 € und der vorstehend aufgezeigten Umstände, ist das festgesetzte Zwangsgeld mit 5.000,00 € angemessen, keinesfalls zu hoch.

III.

47

Die Kostenentscheidung folgt aus § 891 Satz 3 ZPO i.V.m § 97 Abs. 1 ZPO.

48

Der Gegenstandswert entspricht bei Anordnungen nach § 888 ZPO zwar grundsätzlich dem Erfüllungsinteresse, mithin dem Wert der Hauptsache (Zöller/Herget, ZPO, 35. Auflage 2024, § 3 ZPO Rn. 16 127). Das waren hier 4.000,00 €. Da jedoch im Beschwerdeverfahren zudem die Beschwer der Beschwerdeführerin entscheidend ist, ist vorliegend die Höhe des Zwangsgelds mit 5.000,00 € maßgebend, die über dem erstinstanzlichen Hauptsachenwert liegt. Das Interesse der Beschwerdeführerin ist auf die Beseitigung der Beschwer durch das Zwangsgeld in Höhe von 5.000,00 € gerichtet. Beim verurteilten Beklagten bzw. dem Betroffenen der Zwangsgeldfestsetzung entscheidet dessen unmittelbares Interesse an der Beseitigung der Entscheidung. Seine Beschwer kann höher sein als der Vorinstanzlich festgesetzte Streitwert (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 35. Auflage 2024, § 3 ZPO Rn. 16.41).

49

Anlass für die Zulassung der Rechtsbeschwerde besteht nicht, § 574 Abs. 2 und 3 ZPO.

Schlagworte: Auseinandersetzungsbilanz, GbR, Haftung der GbR Gesellschafter, Liquidation, Liquidationsbilanz, Schlussrechnung

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Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 12.12.2023 – 102 SchH 114/23 e         

Dienstag, 12. Dezember 2023

Schiedsklausel Abfindung

§ 1032 Abs 2 ZPO

Enthält die Satzung einer GmbH außer einer allgemeinen Schiedsklausel für alle Streitigkeiten in Zusammenhang mit dem Gesellschaftsvertrag auch eine Schiedsgutachterklausel im engeren Sinn betreffend die Höhe des Abfindungsanspruchs, ist eine vor Erholung des Schiedsgutachtens eingereichte Schiedsklage auf Zahlung der Abfindung allenfalls als derzeit unbegründet abzuweisen. Die grundsätzliche Zuständigkeit des Schiedsgerichts wird davon nicht berührt, so dass ein Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit eines schiedsrichterlichen Verfahrens nach § 1032 Abs. 2 ZPO ohne Erfolg bleibt.

Tenor

1. Der Antrag wird zurückgewiesen.

2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Streitwert wird auf 851.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsgegnerin war bis zur Einziehung ihrer Geschäftsanteile Gesellschafterin der Antragstellerin, einer Gesellschaft mit beschränkter HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Gesellschaft
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Haftung
, und ist der Ansicht, ihr stehe ein höherer Abfindungsanspruch zu als bislang von der Antragstellerin bezahlt. Die Antragstellerin hält eine darauf gerichtete Schiedsklage für unzulässig.Randnummer2

Die Satzung der Antragstellerin enthält folgende Regelungen:Randnummer3

„§ 8Randnummer4

Einziehung von GeschäftsanteilenRandnummer5

(1) Die Einziehung von GeschäftsanteilenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Einziehung
Einziehung von Geschäftsanteilen
ist mit Zustimmung des betroffenen GesellschaftersBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Zustimmung
Zustimmung des betroffenen Gesellschafters
jederzeit zulässig. Die Einziehung ist ohne Zustimmung des betroffenen GesellschaftersBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Zustimmung
Zustimmung des betroffenen Gesellschafters
zulässig, wenn
Randnummer6

a) in der Person des Gesellschafters ein wichtiger Grund (§§ 133, 140 HGB) vorliegt…Randnummer7

(2) Die Einziehung wird durch den Beirat auf Initiative der Geschäftsführung beschlossen…Randnummer8

(4) Der Beschluss des Beirats… ist dem betroffenen Gesellschafter… mitzuteilen. Dieser kann gegen den Beschluss innerhalb von zwei Wochen ab Zugang Einspruch erheben… Sofern der Beirat nicht innerhalb eines Monats nach Eingang des Einspruchs eine Einigung mit dem betroffenen Gesellschafter erreicht hat, ist die Angelegenheit in die Tagesordnung der nächsten Gesellschafterversammlung aufzunehmen…Randnummer9

(6) Die Einziehung… wird wirksam, wenn kein Einspruch erhoben wurde, eine Einigung erzielt wurde oder die Gesellschafterversammlung entschieden hat. Dabei ist irrelevant, ob die Zahlung der Abfindung erfolgt ist oder Streit über die Höhe der Abfindung besteht…Randnummer10

(7) Bei der Einziehung… erhält der ausscheidende Gesellschafter den Buchwert, welcher auf seinen bisherigen Geschäftsanteil entfällt. Offene oder stille Reserven werden nicht vergütet, jedoch sind die auf den Stichtag seines Ausscheidens zu berechnenden Gewinn- oder Verlustanteile zu berücksichtigen.Randnummer11

(8) Streitigkeiten über die Höhe der Abfindung oder des anteiligen Gewinns werden vom Abschlussprüfer als Schiedsgutachter für alle Beteiligten endgültig entschieden. Über die Tragung der Kosten entscheidet der Schiedsgutachter entsprechend §§ 91 ff. ZPO; der antragstellende Gesellschafter hat die voraussichtlichen Kosten vorzuschießen…

§ 28Randnummer12

SchiedsgerichtRandnummer13

(1) Alle Streitigkeiten zwischen Gesellschaftern oder zwischen der Gesellschaft und ihren Gesellschaftern im Zusammenhang mit diesem Gesellschaftsvertrag oder über seine Gültigkeit werden nach der Schiedsgerichtsordnung (DIS-SchO) und den Ergänzenden Regeln für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten (DIS-ERGeS) der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e. V. (DIS) unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs endgültig entschieden.Randnummer14

(2) Der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens ist München …Randnummer15

(4) … Ausgeschiedene Gesellschafter bleiben an diese Schiedsvereinbarung gebunden.Randnummer16

(5) Die Gesellschaft hat gegenüber Klagen, die gegen sie vor einem staatlichen Gericht anhängig gemacht werden und Streitigkeiten betreffen, die gemäß Abs. 1 der Schiedsvereinbarung unterfallen, stets die Einrede der Schiedsvereinbarung zu erheben.“Randnummer17

Mit Beiratsbeschluss vom 17. März 2020 und anschließendem Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 20. Mai 2020 wurden die Geschäftsanteile der Antragsgegnerin aus wichtigem Grund eingezogen. Die Antragsgegnerin ging gegen den Einziehungsbeschluss der Gesellschafterversammlung nicht vor. Die Antragstellerin bezahlte der Antragsgegnerin eine von ihr gemäß § 8 Abs. 7 der Satzung ermittelte Abfindung in Höhe des Buchwerts zuzüglich eines anteiligen Gewinnanspruchs in Höhe von insgesamt 745.000,00 €. Mit anwaltlicher E-Mail vom 10. März 2023 führte die Antragsgegnerin aus, nach einem von ihr in Auftrag gegebenen Wertgutachten betrage der Verkehrswert ihrer Anteile 5.000.000,00 €. Im Hinblick auf das auffällige Missverhältnis zwischen der auf der Grundlage der Buchwertklausel bezahlten Abfindung einerseits und dem Verkehrswert der Beteiligung andererseits sei die Buchwertklausel gemäß § 138 BGB unwirksam oder zumindest nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ergänzend dahin auszulegen, dass ein dem Verkehrswert der Beteiligung nahekommender Abfindungsbetrag geschuldet sei. Die Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin seien beauftragt, eine entsprechende Schiedsklage gegen die Antragstellerin zu erheben. Der Entwurf der Klageschrift sei zwischenzeitlich finalisiert. Bevor die Antragstellerin förmlich zur Zahlung aufgefordert und bei Nichtzahlung Schiedsklage erhoben werde, biete man der Antragstellerin an, nochmals über die Möglichkeiten einer vergleichsweisen Einigung zu sprechen. Mit EMail vom 17. April 2023 teilten die Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin mit, ein (weitergehender) Abfindungsanspruch der Antragsgegnerin bestehe nicht, ein Schiedsverfahren sei unzulässig und eine vergleichsweise Lösung nicht möglich.Randnummer18

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 18. April 2023 hat die Antragstellerin „Feststellungsklage gemäß § 1032 Abs. 2 ZPO“ gegen die Antragsgegnerin zum Bayerischen Obersten Landesgericht erhoben. Die Antragstellerin bestreitet, dass es ein erhebliches Missverhältnis zwischen Buchwert und Verkehrswert gebe. Gegebenenfalls sei dies durch ein Schiedsgutachten zu ermitteln. Es gehe der Antragsgegnerin nicht um die Unwirksamkeit der Buchwertklausel, sondern um das Erstreiten einer höheren Abfindung. Eine Schiedsklage über die Höhe der Abfindung sei aber unzulässig, wie sich aus § 8 Abs. 8 der Satzung ergebe. Dies stelle eine Sonderregelung gegenüber der allgemeinen Schiedsklausel nach § 28 der Satzung dar, wie sich schon aus dem Wort „endgültig“ ergebe. Die Unzulässigkeit des Schiedsverfahrens könne nach § 1032 Abs. 2 ZPO festgestellt werden.Randnummer19

Die Antragstellerin beantragt:Randnummer20

„Es wird festgestellt, dass die Durchführung eines Schiedsverfahrens über die Höhe der Abfindung der Beklagten im Zuge ihres Ausschlusses als Gesellschafterin der Klägerin unzulässig ist.“Randnummer21

Wenn der Senat die Bezugnahme auf einen „Ausschluss“ für nicht korrekt halte, werde um Hinweis gebeten und der Antrag dahin geändert:Randnummer22

„Es wird festgestellt, dass die Höhe der Abfindung der Antragsgegnerin im Zuge ihres Ausscheidens als Gesellschafterin der Antragstellerin unzulässig ist (sic)“.Randnummer23

Die Antragsgegnerin beantragt,Randnummer24

den Feststellungsantrag der Antragstellerin kostenpflichtig abzuweisen.Randnummer25

Die Antragsgegnerin behauptet, es bestehe ein erhebliches Missverhältnis zwischen der Abfindung nach dem Buchwert und nach dem Verkehrswert. Der Streit gehe um die juristische Beurteilung, welche Folgen sich hieraus ergäben. Die von der Antragstellerin vorgelegte Ermittlung des Buchwerts sei nie Thema der bisherigen Gespräche gewesen.Randnummer26

Daher sei § 8 Abs. 8 der Satzung nicht einschlägig. Nur die rechnerisch-buchhalterisch richtige Ermittlung der Abfindung nach dem Buchwert unter Einschluss des anteiligen Gewinns müsse ein Schiedsgutachter endgültig entscheiden. Diese sei aber zwischen den Parteien nicht streitig. Für eine juristische Beurteilung und Auslegung der Klausel sei der Abschlussprüfer als Schiedsgutachter weder entscheidungsbefugt noch qualifiziert. Die Schiedsgutachterklausel in § 8 Abs. 8 der Satzung berühre nicht die prozessuale Frage, ob der Rechtsweg zum Schiedsgericht eröffnet werde. Das Schiedsgericht sei nur materiell-rechtlich an die Feststellungen des Abschlussprüfers in der Sache gebunden. § 1032 Abs. 2 ZPO diene im Übrigen nur der Abgrenzung zwischen der Schiedsgerichtsbarkeit und der staatlichen Gerichtsbarkeit und komme daher vorliegend nicht zur Anwendung.

II.

Der zulässige Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO bleibt in der Sache ohne Erfolg.Randnummer28

1. Der Feststellungsantrag ist zulässig.Randnummer29

a) Das Bayerische Oberste Landesgericht ist nach § 1043 Abs. 1 Satz 1, § 1062 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5 ZPO i. V. m. § 7 GZVJu zuständig. Der in § 28 Abs. 2 der Satzung bestimmte Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens liegt in Bayern.Randnummer30

b) Der Antrag erfolgte auch nach § 1032 Abs. 2 ZPO rechtzeitig, da eine Schiedsklage bislang lediglich angekündigt wurde.Randnummer31

c) Ein Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO besteht (vgl. zu dieser Voraussetzung Wolf/Eslami in BeckOK ZPO, 50. Ed. Stand 1. September 2022, § 1032 Rn. 29). Die Parteien vertreten unterschiedliche Ansichten dazu, ob ein Schiedsverfahren über einen Anspruch auf Zahlung einer weiteren Abfindung (vgl. dazu noch unten d]) unter die Schiedsvereinbarung nach § 28 Abs. 1 der Satzung fällt. Bereits mit Schreiben vom 10. März 2023 haben die Prozessbevollmächtigten der Antragsgegnerin ausgeführt, sie seien zur Erhebung der Schiedsklage gegen die Antragstellerin beauftragt und hätten den Entwurf der Klageschrift „finalisiert“. Die danach noch geführten Vergleichsgespräche hat die Antragstellerin jedenfalls mit ihrer E-Mail vom 17. April 2023, wonach sie keine Möglichkeit einer vergleichsweisen Lösung sehe, für gescheitert erklärt und ausgeführt, sie halte eine Schiedsklage für unzulässig.Randnummer32

d) Der Antrag ist hinreichend bestimmt. Die Rechtskraftwirkung der Entscheidung nach § 1032 Abs. 2 ZPO umfasst den konkreten Streitgegenstand, der somit hinreichend klar feststellbar sein muss (vgl. Wolf/Eslami in BeckOK ZPO, § 1032 Rn. 30 f.). Zwar lässt sich dem Wortlaut des Antrags nicht eindeutig entnehmen, was die Antragstellerin mit einem Schiedsverfahren „über die Höhe der Abfindung der Beklagten“ meint. Indessen sind auch prozessuale Anträge der Auslegung zugänglich (BGH, Beschl. v. 29. März 2023, XII ZB 409/22, NJW-RR 2023, 707 Rn. 14; Urt. v. 11. November 2022, V ZR 213/21, NJW 2023, 217 Rn. 14 m. w. N.). Die Antragstellerin führt aus, der „entscheidende Antrag in der drohenden Schiedsklage“ werde „sinngemäß stets lauten, dass die Antragstellerin verurteilt werden soll, eine höhere Abfindung zu zahlen“ (Schriftsatz vom 12. Juni 2023, S. 3). Dies deckt sich im Übrigen auch mit der von der Antragstellerin als Beweis der drohenden Schiedsklage vorgelegten E-Mail der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin vom 10. März 2023 (Anlage K 4), in der diese ankündigten, die Antragstellerin zur Zahlung der weiteren Abfindung aufzufordern und im Falle der Nichtzahlung Schiedsklage zu erheben. Unter Berücksichtigung dessen kann der Antrag daher dahin ausgelegt werden, dass es der Antragstellerin um die Unzulässigkeit einer Schiedsklage auf Zahlung eines weiteren (höheren) Abfindungsbetrags geht.Randnummer33

e) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ist der Antrag auch seinem Inhalt nach statthaft.Randnummer34

Im Rahmen eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO prüft das staatliche Gericht, ob eine wirksame Schiedsvereinbarung besteht, diese durchführbar ist und der Gegenstand des Schiedsverfahrens der Schiedsvereinbarung unterfällt. Eine gezielte Zulässigkeitsprüfung auch im Hinblick auf den Streitgegenstand folgt aus dem einheitlichen Prüfungsumfang von § 1032 Abs. 2 ZPO und § 1032 Abs. 1 ZPO und entspricht der prozessökonomie, weil sie der frühzeitigen Klärung der Zuständigkeitsfrage dient; sie ist daher zulässig (BGH, Beschl. v. 19. September 2019, I ZB 4/19, NJW-RR 2020, 147 Rn. 11; Beschl. v. 19. Juli 2012, III ZB 66/11, SchiedsVZ 2012, 281 Rn. 4; BayObLG, Beschl. v. 19. August 2022, 102 SchH 99/21, NZG 2022, 1344 [juris Rn. 59]; Beschl. v. 21. Januar 2021, 101 SchH 115/20, SchiedsVZ 2021, 240 [juris Rn. 28] m. w. N.). Grundsätzlich ist somit ein Antrag auf Feststellung, dass der Abfindungsanspruch eines Gesellschafters nicht der Schiedsvereinbarung im Gesellschaftsvertrag unterfällt, nach § 1032 Abs. 2 ZPO zulässig (BayObLG SchiedsVZ 2021, 240 [juris Rn. 28]).Randnummer35

Vorliegend geht die Auseinandersetzung der Parteien zwar, wie die Antragsgegnerin zutreffend ausführt, nicht um die Frage, ob für eine Streitigkeit betreffend einen Anspruch auf eine weitere Abfindungszahlung die staatlichen Gerichte oder das Schiedsgericht zuständig sind. Die Antragsgegnerin vertritt die Ansicht, es könne und müsse eine Schiedsklage erhoben werden, während die Antragstellerin meint, ein derartiges Verfahren sei sowohl beim Schiedsgericht nach § 28 der Satzung als auch bei den staatlichen Gerichten unzulässig. Die Frage dürfe allein und endgültig nur vom Schiedsgutachter nach Maßgabe des § 8 Abs. 8 der Satzung entschieden werden. In der Sache geht es damit aber ebenfalls um die Frage, welche Reichweite die Schiedsvereinbarung in § 28 der Satzung hat und ob der von der Antragsgegnerin angestrebte Gegenstand des Schiedsverfahrens dieser Schiedsklausel unterfällt. Aus diesen Gründen und im Interesse der prozessökonomie erscheint es angezeigt, die Klärung auch der vorliegenden Frage im Verfahren nach § 1032 Abs. 2 ZPO zu ermöglichen.Randnummer36

2. Der Antrag ist unbegründet.Randnummer37

Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 1032 Abs. 2 ZPO ist nur die Kompetenz des Schiedsgerichts, nicht aber die Zulässigkeit einer beabsichtigten Schiedsklage im Übrigen. Ist das Schiedsgericht für die Streitigkeit der Parteien zuständig, hat es über die Zulässigkeit und die Begründetheit einer zu ihm erhobenen Schiedsklage in eigener Zuständigkeit zu befinden (vgl. Münch in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2022, § 1032 Rn. 36 m. w. N.; auch BGH, Beschl. v. 9. August 2016, I ZB 1/15, NJW 2017, 488 Rn. 13; OLG München, Beschl. v. 3. Juli 2019, 34 SchH 13/17, juris Rn. 17 jeweils in Bezug auf § 1040 ZPO).Randnummer38

Vorliegend ist das Schiedsgericht für die Streitigkeit der Parteien zuständig. Die Schiedsklausel in § 28 der Satzung ist wirksam und umfasst den Streitgegenstand der angekündigten Schiedsklage. § 8 Abs. 8 der Satzung stellt nur eine Schiedsgutachtervereinbarung im engeren Sinne dar. Diese schließt nicht die Zuständigkeit des Schiedsgerichts aus, sondern führt allenfalls dazu, dass die Erhebung der Schiedsklage vor Erholung eines Schiedsgutachtens (derzeit) unbegründet wäre.Randnummer39

a) Ansprüche ehemaliger Gesellschafter auf Zahlung einer – höheren – Abfindung sind von der Schiedsklausel in § 28 der Satzung umfasst.Randnummer40

Körperschaftsrechtliche Regelungen in der Satzung einer GmbH sind objektiv und nicht nach dem subjektiven Verständnis der Gesellschafter auszulegen (BGH, Urt. v. 25. November 2002, II ZR 69/01, NJW-RR 2003, 826 [juris Rn. 28]; Urt. v. 11. Oktober 1993, II ZR 155/92, BGHZ 123, 347 [juris Rn. 15]; BayObLG, Beschl. v 10. Oktober 2022, 101 SchH 46/22, NJW-RR 2023, 400 [juris Rn. 66]). Wortlaut, Sinn und Zweck der Regelung kommt dabei ebenso maßgebende Bedeutung zu wie dem systematischen Bezug der Klausel zu anderen Satzungsvorschriften. Umstände, für die sich keine ausreichenden Anhaltspunkte in der Satzung finden, können zur Auslegung hingegen grundsätzlich nicht herangezogen werden (BGH, Urt. v. 27. September 2011, II ZR 279/09, GmbHR 2012, 92 Rn. 8; Urt. v. 17. Februar 1997, II ZR 41/96, BGHZ 134, 364 [juris Rn. 14]; BGHZ 123, 347 [juris Rn. 15]; BayObLG NJW-RR 2023, 400 [juris Rn. 66]). Als körperschaftsrechtliche Regelungen sind alle Satzungsbestimmungen anzusehen, die nicht nur für die bei Inkrafttreten der Bestimmung vorhandenen Gesellschafter oder für einzelne von ihnen gelten, sondern für einen unbestimmten Personenkreis, zu dem sowohl gegenwärtige als auch künftige Gesellschafter und /oder Gläubiger der Gesellschaft gehören, von Bedeutung sind (BGHZ 123, 347 [juris Rn. 13]; BayObLG NJW-RR 2023, 400 [juris Rn. 66]; Cramer in Scholz, GmbHG, 13. Aufl. 2022, § 2 Rn. 40). Dies gilt vorliegend für die Klauseln sowohl in § 28 als auch in § 8 der Satzung.Randnummer41

Nach § 28 Abs. 1 der Satzung sind alle Streitigkeiten zwischen Gesellschaftern oder zwischen der Gesellschaft und ihren Gesellschaftern im Zusammenhang mit dem Gesellschaftsvertrag unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs durch ein Schiedsgericht endgültig zu entscheiden. Der von der Antragsgegnerin behauptete Anspruch auf Bezahlung einer höheren Abfindung für ihre eingezogenen Geschäftsanteile ist eine Streitigkeit zwischen einem (ehemaligen) Gesellschafter und der Gesellschaft. Es geht hierbei auch um die Auslegung und Wirksamkeit der in § 8 Abs. 7 der Satzung enthaltenen Regelungen zur Höhe der Abfindung, also um eine Streitigkeit im Zusammenhang mit dem Gesellschaftsvertrag. Zudem ist eine Abrede, die Meinungsverschiedenheiten oder Streitigkeiten aus einem Vertrag allgemein einem Schiedsgericht zuweist, grundsätzlich weit auszulegen (BGH, Beschl. v. 31. Oktober 2018, I ZB 17/18, juris Rn. 11; BayObLG NJW-RR 2023, 400 [juris Rn. 67]; SchiedsVZ 2021, 240 [juris Rn. 48]).Randnummer42

Auch wenn die Einziehung der Geschäftsanteile unabhängig von der Zahlung der Abfindung sofort wirksam wurde wie in § 8 Abs. 6 der Satzung vorgesehen (siehe auch BGH, Urt. v. 24. Januar 2012, II ZR 109/11, WM 2012, 406 Rn. 8 ff.) und die Antragsgegnerin daher nicht mehr Gesellschafterin ist, bleibt sie nach der ausdrücklichen Regelung in § 28 Abs. 4 Satz 2 der Satzung an die Schiedsvereinbarung gebunden.Randnummer43

b) An der Zuständigkeit des Schiedsgerichts ändert sich nichts durch § 8 Abs. 8 der Satzung.Randnummer44

aa) § 8 Abs. 8 der Satzung stellt bei der gebotenen objektiven Auslegung (siehe oben a) eine Schiedsgutachterklausel im engeren Sinn dar. Soweit die Antragstellerin meint, die Regelung in § 8 Abs. 8 der Satzung regle ein besonderes, § 28 der Satzung verdrängendes Verfahren durch den Abschlussprüfer zur Bestimmung der Höhe der Abfindung, ist dem nicht zu folgen.Randnummer45

Ob die Parteien eine Schiedsgutachtervereinbarung geschlossen haben, entscheidet sich nicht an der von ihnen gewählten Bezeichnung, sondern vor allem an den dem ausgewählten Organ oder der Person zugewiesenen Aufgaben und an der Frage, welche Wirkung der Entscheidung nach dem Parteiwillen zukommen soll einschließlich der Frage, ob und anhand welcher Maßstäbe eine gerichtliche Inhaltskontrolle vorbehalten bleiben soll (BGH, Urt. v. 21. Mai 1975, VIII ZR 161/73, WM 1975, 770 [juris Rn. 17]; OLG München, Beschl. v. 23. Dezember 2015, 34 SchH 10/15, SchiedsVZ 2016, 165 [juris Rn. 13 m. w. N.]). Ist einer Person nur die punktuelle Klärung von Meinungsverschiedenheiten übertragen, ohne dass diese aber die Möglichkeit erhalten soll, einen zur Vollstreckung geeigneten Titel zu schaffen und damit ohne die Befugnis zur Rechtsprechung im weiteren Sinn (wie im Fall einer Schiedsvereinbarung, vgl. BGH, Beschl. v. 27. Mai 2004, III ZB 53/03, BGHZ 159, 207 [juris Rn. 18]; Urt. v. 25. Juni 1952, II ZR 104/51, BGHZ 6, 335 [juris Rn. 12]), liegt eine Schiedsgutachtervereinbarung vor. Dass die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens über den vertraglichen Anspruch infolge der getroffenen sachverständigen Feststellungen und Bestimmungen unter Umständen überflüssig werden kann und die Gutachtenseinholung in diesem Fall streitbeendend wirkt, ändert an der Beurteilung nichts (OLG München SchiedsVZ 2016, 165, [juris Rn. 15]).Randnummer46

Nach diesen Maßstäben ist § 8 Abs. 8 der Satzung als Schiedsgutachtervereinbarung anzusehen. Dafür spricht schon der Wortlaut des § 8 Abs. 8 der Satzung. Entscheiden soll der Abschlussprüfer „als Schiedsgutachter“. Zudem geht es gerade darum, einen konkreten zwischen den Parteien streitigen Punkt, die Höhe der Abfindung nach § 8 Abs. 7 der Satzung, einer Klärung zuzuführen. Genau hierfür ist der Abschlussprüfer auch besonders qualifiziert, da es um die Ermittlung des Buchwerts und eines etwaigen anteiligen Gewinns geht. Demgegenüber ist in keiner Weise ersichtlich, dass dem Abschlussprüfer die Möglichkeit eröffnet werden sollte, einen Vollstreckungstitel zu schaffen. Eine rechtsprechende Tätigkeit im weiteren Sinn ist ihm nicht übertragen. Ferner enthält § 28 der Satzung gerade eine sehr weite Schiedsklausel für „sämtliche Streitigkeiten“. An der Einordnung von § 8 Abs. 8 der Satzung als Schiedsgutachterklausel ändert sich auch dadurch nichts, dass der Abschlussprüfer „endgültig“ entscheiden soll und über die Tragung der Kosten nach §§ 91 ff. ZPO zu befinden hat. Auch ein Schiedsgutachter trifft mit der ihm übertragenen Feststellung eine endgültige Entscheidung, die für die Parteien und das Gericht in einem gegebenenfalls geführten Zivilprozess (oder einem Schiedsverfahren) materielle Bindungswirkung entfaltet. Sofern ein Zivilprozess oder eine Schiedsklage durch die getroffene Bestimmung überflüssig wird, weil die Parteien die getroffene Bestimmung akzeptieren und auch ohne Vollstreckungstitel den Abfindungsanspruch erfüllen, bedarf es einer Regelung dazu, wer in diesem Fall die Kosten des Gutachtens zu tragen hat. Insofern erscheint auch der Verweis auf §§ 91 ff. ZPO in § 8 Abs. 8 der Satzung sinnvoll.Randnummer47

Es handelt sich dabei um eine Schiedsgutachtervereinbarung im engeren Sinne. Der Unterschied zwischen der Schiedsgutachtervereinbarung im engeren und im weiteren Sinn liegt darin, dass im ersteren Fall der Schiedsgutachter nur die für die Klarstellung des Vertragsinhalts maßgeblichen Tatsachen ermitteln und für die Parteien festzustellen hat. Bei einer Schiedsgutachtervereinbarung im weiteren Sinn obliegt es dem Schiedsgutachter, den Vertragsinhalt nach billigem Ermessen rechtsgestaltend zu bestimmen (BGH, Beschl. v. 14. Januar 2016, I ZB 50/15, NJW-RR 2016, 703 Rn. 11; Urt. v. 4. Juli 2013, III ZR 52/12, NJW-RR 2014, 492 Rn. 27 und Rn. 33). Wie sich aus dem Zusammenhang von § 8 Abs. 7 und Abs. 8 der Satzung sowie der Bestimmung gerade des Abschlussprüfers als Gutachter ergibt, soll dieser aufgrund seines speziellen Fachwissens insbesondere die Höhe des Buchwerts und des anteiligen Gewinns nach § 8 Abs. 7 der Satzung ermitteln und bindend feststellen. Die Befugnis zu einer eigenständigen rechtsgestaltenden Festlegung der Abfindungshöhe nach billigem Ermessen soll ihm dagegen ersichtlich nicht zustehen.Randnummer48

bb) Ob die vorliegende Streitigkeit von der Schiedsgutachterregelung in § 8 Abs. 8 der Satzung umfasst ist, kann offen bleiben. Hierfür könnte sprechen, dass die Parteien sich gerade über die Höhe der Abfindung nicht einig sind, § 8 Abs. 8 der Satzung nicht danach differenziert, worauf der Streit über die Höhe der Abfindung beruht, und die Antragstellerin schon das behauptete erhebliche Missverhältnis zum Verkehrswert in Abrede stellt, so dass es nicht nur um rechtliche Fragen geht. Zudem wird der Aufgabenbereich eines Schiedsgutachters nicht überschritten, wenn seine Tätigkeit außer der Ermittlung von Tatsachen auch deren rechtliche Einordnung umfasst (BGH WM 1975, 770 [juris Rn. 17]). Letztlich bedarf dies aber keiner Entscheidung durch den Senat. Sofern § 8 Abs. 8 der Satzung keine Anwendung findet, kommt für die Streitigkeit zwischen den Parteien ohnehin die weite Schiedsklausel nach § 28 der Satzung zum Tragen (siehe oben Buchst. a]). Aber auch wenn die vorliegende Streitigkeit unter § 8 Abs. 8 der Satzung fällt, ist das Schiedsgericht zuständig (siehe unten cc]).Randnummer49

cc) Die Schiedsgutachterklausel in § 8 Abs. 8 der Satzung schließt nicht die Zuständigkeit des Schiedsgerichts nach § 28 der Satzung aus, sondern führt nur dazu, dass ein vor Erholung des Schiedsgutachtens eingeleitetes Schiedsverfahren derzeit unbegründet sein könnte.Randnummer50

§ 8 Abs. 8 der Satzung enthält kein umfassendes Klageverbot. Dass die Schiedsgutachterklausel in § 8 Abs. 8 der Satzung die Möglichkeit der Erhebung einer Schiedsklage nach § 28 der Satzung gänzlich ausschließen sollte, ist fernliegend. Ein derartiger Ausschluss hätte zur Folge, dass ein (ehemaliger) Gesellschafter bei Streit über die Höhe der Abfindung keine Möglichkeit hätte, einen Vollstreckungstitel zu erlangen. Eine Schiedsklage wäre nicht möglich und Streitigkeiten vor den staatlichen Gerichten will die Satzung mit § 28 Abs. 1 und Abs. 5 gerade verhindern. Zudem schließt grundsätzlich eine Schiedsgutachterklausel im engeren Sinn nicht die Möglichkeit aus, entsprechend § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB die offenbare Unrichtigkeit des eingeholten Schiedsgutachtens geltend zu machen (BGH NJW-RR 2014, 492 Rn. 27; Urt. v. 27. Juni 2001, VIII ZR 235/00, NJW 2001, 3775 [juris Rn. 15]). Eine offenbare Unrichtigkeit liegt dabei auch vor, wenn der Schiedsgutachter nur die im Gesellschaftsvertrag vorgesehene Abfindung (zum Buchwert) ermittelt, Anhaltspunkten für ein grobes Missverhältnis zum Verkehrswert aber nicht nachgeht (Schmitz-Herscheidt, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 51 Rn. 71). Wäre § 8 Abs. 8 der Satzung dahin zu verstehen, dass er sowohl die Schiedsklage als auch die Klage vor den ordentlichen Gerichten ausschließen würde, könnten indessen weder die Gesellschaft noch der (ehemalige) Gesellschafter eine offenbare Unrichtigkeit des durch den Abschlussprüfer erstellten Schiedsgutachtens geltend machen. Für eine derartige Auslegung, die sowohl den Erhalt eines Vollstreckungstitels als auch die Geltendmachung der offenbaren Unrichtigkeit des Schiedsgutachtens abschneiden würde, finden sich keinerlei konkrete Anhaltspunkte in der Satzung.Randnummer51

Allerdings enthält eine Schiedsgutachterklausel im engeren Sinne in der Regel die stillschweigende Vereinbarung, dass der Gläubiger für die Dauer der Erstattung des Gutachtens nicht gegen den Schuldner vorgehen werde. Damit regelt die Schiedsgutachterabrede im engeren Sinn (auch) die Leistungszeit gemäß § 271 Abs. 1 BGB dahingehend, dass die Fälligkeit der Vergütungsforderung bis zur Vorlage des Gutachtens aufgeschoben wird. Eine dennoch erhobene Klage ist als verfrüht (“derzeit unbegründet“) abzuweisen, wenn die beweispflichtige Partei die rechtserhebliche Tatsache, deren Feststellung dem Schiedsgutachter übertragen ist, nicht durch Vorlage des Schiedsgutachtens nachweist und der Tatrichter nicht, was in seinem Ermessen steht, zunächst entsprechend §§ 356, 431 ZPO eine Frist zur Beibringung des Schiedsgutachtens setzt (BGH, Urt. v. 11. März 2021, VII ZR 196/18, NJW 2021, 1593 Rn. 33; Urt. v. 5. November 2015, III ZR 41/15, BGHZ 207, 316 Rn. 40; NJW-RR 2014, 492 Rn. 28). Sofern die Zuständigkeit der staatlichen Gerichte durch eine Schiedsvereinbarung ausgeschlossen ist, gilt nichts anderes. Haben die Parteien die Feststellung bestimmter beweiserheblicher Tatsachen einem Schiedsgutachter übertragen, ist eine Schiedsklage, mit der diese Tatsachen nicht durch die Vorlage des Schiedsgutachtens nachgewiesen werden, allenfalls als derzeit unbegründet abzuweisen. An der grundsätzlichen Zuständigkeit des Schiedsgerichts für die Klage ändert dies aber nichts (BGH, Beschl. v. 14. Januar 2016, I ZB 50/15, NJW-RR 2016, 703 Rn. 14; zustimmend Hirth in jurisPR-IWR 2/2016 Anm. 4; Pickenpack, DB 2016, 1244, 1245; zur Möglichkeit einer Kombination aus Schiedsgutachterklausel und Schiedsvereinbarung Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84, 86; Netzer in beck-online.OGK, Stand 1. September 2022, BGB § 317 Rn. 40).Randnummer52

Nichts anderes gilt für die vorliegenden Satzungsbestimmungen. § 28 der Satzung schließt für Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Gesellschaftsvertrag die Zuständigkeit der staatlichen Gerichte umfassend aus. Damit kann ein (ehemaliger) Gesellschafter, der einen Titel über einen Abfindungsanspruch gegen die Gesellschaft erhalten will, (nur) Schiedsklage erheben. Das Schiedsgericht ist für diese Klage auch zuständig, das schiedsrichterliche Verfahren zulässig. Eine andere Möglichkeit, einen Vollstreckungstitel zu erlangen, besteht aufgrund § 28 der Satzung nicht. Damit wäre das in § 28 der Satzung vorgesehene Schiedsgericht ungeachtet der Frage, ob eine Schiedsklage als derzeit unbegründet abgewiesen werden müsste, dennoch zuständig. Der Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO bleibt daher ohne Erfolg.

III.

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 91 ZPO.Randnummer54

Den Streitwert hat der Senat mit einem Fünftel der Hauptsache angesetzt (vgl. BGH, Beschl. v. 29. März 2018, I ZB 12/17, juris Rn. 5; BayObLG NJW-RR 2023, 400 [juris Rn. 88]). Vorliegend lässt sich der als Anlage K 4 vorgelegten E-Mail der Antragsgegnerin vom 10. März 2023 entnehmen, dass diese von einem weiteren, noch nicht bezahlten Abfindungsanspruch von 4.255.000,00 € ausgeht. Daraus ergibt sich ein Streitwert von 851.000,00 €. Zur entsprechenden, vorläufigen Festsetzung des Streitwerts mit Verfügung vom 24. April 2023 haben die Parteien keine Stellungnahme abgegeben.

Schlagworte: Abfindung, Abfindung bei Hinauskündigung, Abfindung des ausgeschiedenen Gesellschafters, Abfindungsanspruch, Abfindungsberechnung, Abfindungsklausel, Abfindungsklausel GmbH, Aufrechnung gegenüber Abfindungsanspruch des ausscheidenden Gesellschafters, Einziehung des Geschäftsanteils, Einziehung von Geschäftsanteilen, Schiedsabrede, Schiedseinrede, Schiedsfähigkeit, Schiedsgericht, Schiedsgerichtsbarkeit, Schiedsgerichtsverfahren, Schiedsgutachten, Schiedsgutachter, Schiedsklausel, Schiedsvereinbarung, Streitgegenstand, Streitwert, Streitwert Einziehungsbeschluss, Streitwert Geschäftsanteile, Streitwertbemessung, ZPO § 1032

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OLG München, Urteil vom 07.12.2023 – 23 U 6109/21

Donnerstag, 7. Dezember 2023

Kündigung Handelsvertretervertrag

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 05.08.2021, Az. 12 HK O 18776/19, dahingehend abgeändert, dass festgestellt wird, dass die Beklagten keinen Anspruch auf Unterverdienst aus Provisions-/Zahlungsvereinbarungen gegenüber der Klägerin in Höhe von 30.161,30 € zum Stand 17.02.2020 haben und die Klage im Übrigen abgewiesen bleibt.

II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

III. Von den Kosten der ersten Instanz trägt die Klägerin 60 % und die Beklagten tragen samtverbindlich 40 %. Von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin 57 % und die Beklagten tragen samtverbindlich 43 %.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des aus dem Urteil gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.

1

Die Parteien streiten über gegenseitige Ansprüche nach Kündigung eines Handelsvertretervertrages.

2

Die Klägerin war seit 01.10.2014 als Versicherungsvertreterin für beide Beklagte tätig.

3

In ihrem Agenturvertrag vereinbarten die Parteien, dass die Klägerin neben Abschluss-, Bestandspflege- und Beteiligungsprovisionen folgende jederzeit widerrufliche Zu- bzw. Vorschüsse bekommen sollte: Für den Aufbau des Neugeschäfts 2.000 € monatlich, wovon bis zu 1.500 € mit Provisionen verrechenbar waren, einen nicht verrechenbaren Bürokostenzuschuss von 1.000 € monatlich sowie für den Aufbau des Bestands weitere nicht verrechenbare 2.500 € monatlich (LGU S. 2). Wegen der Einzelheiten wird auf den Vertretungsvertrag (Anlage K1) Bezug genommen.

4

Ferner vereinbarten die Parteien ab 01.10.2014 eine Vorschusszahlung auf Differenzprovisionen (vgl. Anlage B1 S. 1 unten). Diese betrug zunächst 2.000 € monatlich (Anlage K27.021 Pos. 306) und war voll mit Provisionen verrechenbar (vgl. Anlage B1).

5

Am 01.10.2015 vereinbarten die Parteien für die Zeit vom 01.10.2015 bis zum 30.09.2016 einen Bürokostenzuschuss und eine Zahlung für den Aufbau des Bestandes von je 1.000 € monatlich (Anlage B1 Ziffern 2 und 4).

6

Ferner sagten die Beklagten eine Vorschusszahlung auf die Differenzprovision von weiterhin 2.000 € monatlich zu (Anlage B1 Ziffer 1). Dazu regelten die Parteien eine monatliche Verrechnung mit den anrechenbaren Beteiligungsprovisionen, eine Übertragung eines etwaigen Unterverdienstes auf den Folgemonat, sowie, dass ein Unterverdienst am Ende des Zahlungszeitraums an die Beklagten zurückzuzahlen sei.

7

Des Weiteren gewährten die Beklagten eine monatliche Zahlung von 2.000 € zum Aufbau des Neugeschäfts (Anlage B1 Ziffer 3). Sie stellten klar, dass es sich dabei zu 100 % um einen ggf. zurückzuerstattenden Provisionsvorschuss handele, mit dem alle Provisionen aus der Provisions-/Zahlungsvereinbarung zum Vertretervertrag verrechnet würden. Ein etwaiger Unterverdienst sollte auf den jeweils darauffolgenden Abrechnungszeitraum übertragen werden. Zur Tilgung des bisher aufgelaufenen Unterverdienstes einigten sich die Parteien auf eine Ratenzahlung von 500 € monatlich. Ein Rückstand bei Beendigung des Vertrages sollte in einer Summe zurückzuzahlen sein.

8

Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 01.10.2015 Bezug genommen (Anlage B1).

9

Mit Vereinbarung vom 18.10.2016 für den Zeitraum 01.10.2016 bis 31.12.2016 wurde ein Organisationskostenzuschuss von 1.000 € monatlich zugesagt; die Vorschüsse für die Differenzprovision und zum Aufbau des Neugeschäfts wurden jeweils (weiterhin) auf 2.000 € monatlich festgelegt. Zusätzlich wurden auch zur Tilgung des Unterverdienstes bezüglich der Differenzprovision Rückzahlungsraten von monatlich 500 € vereinbart. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 18.10.2016 verwiesen (Anlage K9 S. 4).

10

2016 gehörte die Klägerin zum Top-Club der besten Vermittler der Beklagten (Anlage K18, K20). 2017 belegte sie den zweiten Platz der Geschäftsstellen im Startwettbewerb der neuen Agenturen (Anlage K21).

11

Mit Wirkung ab 2017 ernannten die Beklagten die Klägerin zur Geschäftsstellenleiterin (Anlage K2), ausdrücklich als Dank und Anerkennung für herausragende Leistungen (Anlage K22).

12

Für den Zeitraum vom 01.01.2017 bis 28.02.2018 erhöhten die Beklagten den Vorschuss auf die Differenzprovision auf 3.000 € monatlich (Anlage K9 S. 8 Ziffer 13). Der Vorschuss für den Aufbau des Neugeschäfts wurde auf 1.500 € monatlich herabgesetzt; die Rückzahlungsraten für den diesbezüglichen Unterverdienst wurden ab 01.02.2017 auf 1.500 € monatlich erhöht. Wegen der Einzelheiten wird auf Anlage K9 S. 7 ff. verwiesen.

13

Am 05.03.2018 setzten die Beklagten für die Zeit vom 01.03.2018 bis 28.02.2019 den Organisationszuschuss auf 2.500 € monatlich fest, gewährten eine Zahlung für den Aufbau Bestand von 3.000 € monatlich (Anlage B3 Ziffern 2 und 3) und erhöhten den Vorschuss auf die Differenzprovision auf 4.000 €. Die vorherige Regelung zum Vorschuss für den Aufbau des Neugeschäfts wurde unverändert fortgeführt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 05.03.2018 Bezug genommen (Anlage B4).

14

Mit Schreiben vom 05.06.2019 erklärten die Beklagten, die Klägerin rückwirkend zum 01.05.2019 zur Subdirektorin herabzustufen. Zudem boten sie neue Zahlungsmodalitäten für den Zeitraum 01.05.2019 bis 29.02.2020 an (Vorschuss Bestand: 2.000 € monatlich; Vorschuss Overheadvergütung: 500 € monatlich; jeweils verrechenbar). Dabei wiesen sie auf den bestehenden Unterverdienst aus den Vorschüssen für die Differenzprovision von -35.161,30 € hin sowie darauf, dass der Unterverdienst bei Beendigung des Vertrages in einer Summe zurückzuzahlen sei. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 05.06.2019 verwiesen (Anlage K11). Die Klägerin hat das Angebot der Beklagten nicht angenommen.

15

Mit Schreiben von 30.09.2019 kündigten die Beklagten den Vertriebsvertrag mit der Klägerin ordentlich zum 31.12.2019 (Anlage K4).

16

Die Abrechnung 09/2019 ergab einen Provisionssaldo von +4.532,21 €, die Abrechnung 12/2019 von +1.080,29 €, die Abrechnung 01/2020 von +258,72 € und die Abrechnung von 02/2020 von +8.715,55 € jeweils zugunsten der Klägerin.

17

Der Unterverdienst der Klägerin hatte sich bis zur Kündigung wie folgt entwickelt: Am 01.01.2015 betrug er -10.110,08 € (Anlage K27 S. 021). Trotz einer Kulanzausbuchung der Beklagten in Höhe von 20.182,31 € (Anlage B1 S. 1 unten) lag er am 31.12.2015 bei -22.511,50 € (Anlage K27.032). Am 17.12.2018 war er auf -39.695,90 € angestiegen (Anlage K25.019). Mit Schreiben vom 14.10.2019 forderten die Beklagte von der Klägerin die Zahlung von -43.593,12 € bis 28.10.2019 (Anlage K10.001). Den Unterverdienst nach Verrechnungen mit den zuletzt noch erteilten Abrechnungen 09/2019 bis 02/2020 beziffern die Beklagten zum 17.02.2020 mit -30.161,30 €.

18

Die Klägerin meint, dass der mit der Auszahlung der Vorschüsse über die Vertragsjahre hinweg aufgelaufene Unterverdienst im Zeitpunkt der Vertragsbeendigungserklärung ein unzumutbares Kündigungshindernis für sie dargestellt habe. Daher sei die in den Vorschussvereinbarungen liegende Rückzahlungsabrede unwirksam. Die Beklagten könnten daher keine Rückzahlung eines noch ausstehenden Unterverdienstes verlangen. Umgekehrt könne die Klägerin noch die Auszahlung der Provisionen verlangen, die die Beklagten in der Vertragslaufzeit und auch danach noch mit den Vorschüssen verrechnet habe. Letzteres bedeute, dass die Klägerin noch 6.500 € für 2016, 19.208 € für 2017 und 14.088,39 € für 09/2019 bis 02/2020 beanspruchen könne. In erster Instanz hat die Klägerin des Weiteren noch 6.000 € für 2015 begehrt, für die Jahre 2015 und 2016 insgesamt also 12.500 €.

19

Die Klägerin hat in erster Instanz nach zwei Klageerweiterungen zuletzt beantragt:

I. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich 12.500 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

II. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich weitere 14.088,39 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

III. Es wird festgestellt, dass die Beklagten keinen Anspruch aus Unterverdienst aus Provision-/Zahlungsvereinbarungen gegenüber der Klägerin in Höhe von 30.161,30 € zum Stand 17.02.2020 haben.

IV. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich weitere 19.208,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

20

Die Beklagten haben

Klageabweisung beantragt.

21

Sie behaupten, dass sie zu Beginn des Vertragsverhältnisses davon ausgegangen seien, dass die nach ihrem Lebenslauf sehr vertriebserfahrene Klägerin die Vorschüsse ins Verdienen bringen würde, zumal ab ihrer Beförderung zur Geschäftsstellenleiterin. Es sei objektiv möglich gewesen, dass ein Versicherungsvertreter wie die Klägerin die Vorschüsse verdient hätte. Hinzu komme, dass an die Klägerin über die Vertragsjahre hinweg (inklusive der verrechenbaren Vorschüsse) ganz erhebliche Auszahlungen von über 390.000 € getätigt worden seien.

22

Die Beklagten meinen, dass deshalb der am Ende noch ausstehende Unterverdienst von lediglich ca. 30.000 € kein unzumutbares Kündigungshindernis für die Klägerin, die auch Rücklagen hätte bilden können, darstelle.

23

Mit Endurteil vom 05.08.2021 hat das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen nach § 540 Abs. 1 ZPO Bezug genommen wird, die Klage abgewiesen. Zur Begründung führt es aus, dass ein unzumutbares Kündigungshindernis v.a. angesichts der erheblichen Zahlungen an die Klägerin nicht gegeben sei. Wegen der Einzelheiten wird auf das Landgerichtsurteil verwiesen.

24

Gegen die Entscheidung des Landgerichts wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung. Sie verfolgt unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Sachvortrags mit Ausnahme des Begehrens auf Zahlung von 6.000 € für das Jahr 2015 ihre erstinstanzlichen Ziele weiter.

25

Die Klägerin hat zuletzt beantragt:

I. Das Urteil des Landgerichts München I vom 05.08.2021, Az. 12 HK O 18776/19, zugestellt am 09.08.2021, wird aufgehoben.

II. Die Beklagten werden verurteilt der Klägerin samtverbindlich 6.500,00 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

III. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich weitere 14.088,39 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

IV. Es wird festgestellt, dass die Beklagten keinen Anspruch auf Unterverdienst aus Provisions-/Zahlungsvereinbarungen gegenüber der Klägerin in Höhe von 30.161,30 € zum Stand 17.02.2020 haben.

V. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich weitere 19.208,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

26

Die Beklagte hat die

Zurückweisung der Berufung beantragt.

27

Auch sie wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag.

28

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, den Hinweisbeschluss des Senats vom 09.11.2023 (Bl. 171/175 d.A.) sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 30.11.2023 Bezug genommen.

II.

29

Die negative FeststellungsklageBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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negative Feststellungsklage
hat Erfolg; die zulässigen Leistungsklagen sind demgegenüber unbegründet.

30

1. Die negative FeststellungsklageBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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(Berufungsantrag Ziff. IV) ist zulässig und begründet.

31

1.1. Das Feststellungsinteresse der Klägerin (§ 256 Abs. 1 ZPO) folgt daraus, dass sich die Beklagten eines Anspruchs auf Rückzahlung des Unterverdienstes in Höhe von 30.161,30 € berühmen.

32

1.2. Die negative FeststellungsklageBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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negative Feststellungsklage
ist begründet.

33

Die Beklagten haben keinen Anspruch gegen die Klägerin auf Rückzahlung eines noch bestehenden Unterverdienstes aus den vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Parteien in Höhe von 30.161,30 € am 17.2.2020.

34

Denn die in den Vereinbarungen zu den Vorschüssen für die Differenzprovision und für den Aufbau des Neugeschäfts liegende Absprache, dass nicht ins Verdienen gebrachte Vorschüsse spätestens mit Beendigung des Vertriebsvertrages zurückzuzahlen sind, ist gemäß § 134 BGB, § 89 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2 und § 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB unwirksam.

35

1.2.1. Grundsätzlich darf gemäß § 89 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz HGB die Kündigungsfrist für den Unternehmer nicht kürzer sein als für den Handelsvertreter. Nach § 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB darf das Recht des Handelsvertreters zur außerordentlichen Kündigung nicht beschränkt werden. Bei beiden Normen handelt es sich um zwingende Schutzvorschriften zugunsten des Vertreters, der nicht einseitig in seiner Entschließungsfreiheit beschnitten werden darf (BGH NJW 2016, 242 Tz. 27; ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22). Eine danach unzulässige Beschneidung liegt mittelbar vor, wenn an die Kündigung des Vertreters wesentliche, eine Vertragsbeendigung erschwerende Nachteile geknüpft werden (BGH NJW 2016, 242 Tz. 27; ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22). Ob die Nachteile von solchem Gewicht sind, dass sie zu einer unwirksamen Kündigungserschwernis führen, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (BGH NJW 2016, 242 Tz. 27; ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22). Ihre Beantwortung hängt insbesondere von der Höhe der gegebenenfalls zurückzuerstattenden Zahlungen und dem Zeitraum, für den sie zu erstatten sind, ab (BGH ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22).

36

1.2.2. Nach diesen Grundsätzen ist hier insoweit von einer unzumutbaren Kündigungserschwernis auszugehen, als die Klägerin nach den vertraglichen Vereinbarungen dazu verpflichtet war, einen Unterverdienst in Höhe von noch rund 30.000 € bei Beendigung des Handelsvertretervertrages auf einmal zurückzuzahlen.

37

Zwar ist dieser Unterverdienst über viele Jahre und also einen längeren Zeitraum aufgelaufen. Dabei hat er jedoch von Anfang an stetig zugenommen. Anfang 2015 lag er bei -10.110,08 € (Anlage K27 S. 021), Ende 2015 bei -22.511,50 € (Anlage K27 S. 032), wobei die Beklagten kurz zuvor im Oktober 2015 20.182,31 € an weiterem Unterverdienst kulanzweise ausgebucht hatten (Anlage B1 S. 1 unten). Im Dezember 2018 betrug er -39.695,90 € (Anlage K25 S. 019), Mitte Januar 2019 -41.389,49 € (Anlage K30 S. 068) und wenige Tage nach der Kündigungserklärung am 14.10.2019 -43.593,12 € (Anlage K10 S. 001). Dieses beständig zunehmende, erhebliche Soll steht wirtschaftlich einem hohen Kredit gleich, der bei Vertragsbeendigung in einer Summe zurückzuzahlen war (vgl. das Schreiben der Beklagten vom 14.10.2019, Anlage K10 S. 001) und folglich in seiner konkreten Entwicklung und Ausformung geeignet war, die Entschließungsfreiheit der Klägerin in Bezug auf eine Vertragsbeendigung unzumutbar zu beeinträchtigen.

38

Selbst wenn man unterstellt, dass die Beklagten ursprünglich bei Vertragsbeginn davon ausgingen, die vertriebserfahrene Klägerin werde die Vorschüsse ins Verdienen bringen, wäre diese Vorstellung alsbald durch die tatsächliche Entwicklung widerlegt worden. Anstatt die Vorschüsse dementsprechend anzupassen und zu reduzieren, haben die Beklagten indes gegen Ende der Vertragszeit die Differenzprovision sogar nochmals sprunghaft erhöht (im März 2018 von 3.000 € auf 4.000 € monatlich), obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits ein Unterverdienst der Klägerin von rund -15.000 € (Differenzprovision) und über -22.000 € (Aufbau Neu) bestand (Anlage B4 S. 1 unten und Ziffer 3). Auf diese Weise haben sie den auf der Klägerin lastenden Schuldendruck nochmals verstärkt, anstatt ihn abzumildern.

39

So kam es, dass die Klägerin sich am Ende der Vertragszeit einer gravierenden Rückzahlungsforderung der Beklagten in Höhe von über 30.000 € gegenübersah (Anlagen K16, K17). Diese Schuld wog für die Klägerin umso schwerer, als nach Ausspruch der Kündigung, während des Laufs der ordentlichen Kündigungsfrist ab Oktober 2019, die Beklagten nahezu alle nach Abzügen noch verbleibenden Provisionsverdienste der Klägerin mit dem aufgelaufenen Unterverdienst verrechneten, so dass die Klägerin ab Oktober 2019 praktisch keine Einnahmen mehr hatte. Trotz dieser Verrechnungen blieben noch gut 30.000 € Schulden übrig.

40

Die insgesamt über die Jahre 2014 bis 2019 erfolgten erheblichen Auszahlungen der Beklagten an die Klägerin führen entgegen der Meinung des Landgerichts und entgegen der Meinung des Beklagtenvertreters (Schriftsatz vom 13.11.2023 S. 1 f., Bl. 176 f. der Akte) zu keiner anderen Bewertung. Die Auszahlungen in der Vergangenheit ändern nichts daran, dass die Klägerin sich im Kündigungszeitpunkt hohen Schulden gegenübersah, ohne weitere Einnahmen zu haben. Hierin liegt das Kündigungshemmnis begründet. Es ist hier gerade das Problem, dass die Beklagten über die Jahre (viel) zu hohe Vorschüsse an die Klägerin ausbezahlt haben, ohne diese zeitnah auch nur annähernd vollständig zurückzufordern, so dass es bei Vertragsbeendigung zu einer allzu hohen Rückforderung und damit zu einem entscheidenden Kündigungshemmnis kam.

41

Dabei können die Beklagten der Klägerin auch nicht mit Erfolg vorhalten, keine ausreichenden Rückstellungen aus den an sie geleisteten Zahlungen gebildet zu haben. Vielmehr hätten umgekehrt die Beklagten ihre Vorschusszahlungen angemessen regulieren können und müssen. Das folgt aus der Ratio der §§ 89 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2, 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB, die den im Allgemeinen wirtschaftlich schwächeren Handelsvertreter davor bewahren wollen, einseitig in seiner Entschließungsfreiheit beschnitten zu werden (BGH NJW 2016, 242 Tz. 27; ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22). Dieser Schutz ist nicht auf Rückstellungen bildende Handelsvertreter beschränkt. Das gilt jedenfalls in der vorliegenden Konstellation, in der ein erheblicher Teil der Zahlungen, etwa der Bürokostenzuschuss oder die zur Aufbaufinanzierung gezahlten Vorschüsse, der Aufrechterhaltung und dem Ausbau des Geschäftsbetriebs der Klägerin und damit gerade nicht der Rückstellungsbildung zu dienen bestimmt war.

42

Insgesamt ist nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls die hier gegebene Rückzahlungsvereinbarung hinsichtlich des verbleibenden Unterverdienstes mit dem Schutzzweck der §§ 89 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2, 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB nicht mehr vereinbar.

43

2. Die Leistungsklagen der Klägerin (Berufungsanträge Ziffern II., III., V.) sind zulässig, aber unbegründet.

44

Die Klägerin begehrt in der Berufungsinstanz noch für die Jahre 2016 und 2017 sowie für den Zeitraum von 09/2019 bis 02/2020 die Auszahlung ihrer Ansicht nach noch ausstehender, weil zu Unrecht mit den ausgezahlten Vorschüssen verrechneter Provisionen. Hierauf hat sie indes keinen Anspruch mehr.

45

2.1. Gemäß § 134 BGB i.V.m. § 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB ist nur die Abrede unwirksam, dass der Handelsvertreter bei Beendigung seines Vertrages einen dann noch vorhandenen Unterverdienst ausgleichen muss (BGH ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 30). Nur insoweit ist eine Kündigungserschwernis gegeben. Der Vertrag im Übrigen bleibt dagegen wirksam und bildet den Rechtsgrund für die erfolgten monatlichen Zahlungen, die dem Handelsvertreter (wie eine monatliche Festvergütung oder Garantieprovision) verbleiben (BGH a.a.O. Tz. 30). Die Eigenschaft dieser Zahlungen als Provisionsvorschüsse bleibt unberührt mit der Folge, dass der Handelsvertreter keine Provision nachfordern kann, soweit ihm die Vorschüsse verbleiben (BGH a.a.O. Tz. 30).

46

Dies gilt entgegen der Meinung des Klägervertreters (Schriftsatz vom 17.11.2023 S. 2 unter 2.) auch für Überhangprovisionen, die erst nach Vertragsende (hier: im Januar und Februar 2020) angefallen sind. Auch diese sind nicht mehr nachforderbar, weil und soweit der Klägerin zuvor gezahlte höhere, noch nicht verdiente Provisionsvorschüsse verbleiben: (Auch) die Überhangprovisionen sind dann durch die vorherigen Vorschusszahlungen bereits vorab getilgt worden. Die Klägerin kann ihre Bezahlung nicht doppelt verlangen.

47

2.2. Nach diesen Grundsätzen kann die Klägerin die eingeklagten Provisionen in Höhe von 6.500 € für 2016, in Höhe von 19.208 € für 2017 und in Höhe von 14.088,39 € aus den Abrechnungen 09/2019 (4.532,21 €), 12/2019 (1.080,29 €), 01/2020 (258,72 €) und 02/2020 (8.715,55 €) nicht mehr verlangen. Denn es bestanden unstreitig jeweils (deutlich) höhere diesbezügliche Unterverdienste, d.h., die Klägerin hatte zuvor schon noch nicht ins Verdienen gebrachte Vorschusszahlungen erhalten, auf die vereinbarungsgemäß künftige anfallende Provisionen verrechnet werden.

48

2.3. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch mehr auf Auszahlung weiterer Vorschüsse für die Zeit nach der Kündigungserklärung im September 2019 bis zur Vertragsbeendigung Ende Dezember 2019.

49

Zwar kann ein solcher Vorschussanspruch im Kündigungszeitraum bestehen, wenn der Entzug eines vorher rechtsverbindlich vereinbarten Vorschusses im Moment der Kündigungserklärung ein unzumutbares Kündigungshindernis darstellen würde (so die Konstellation im Verfahren 23 U 3183/21, auf das der Klägervertreter im Schriftsatz vom 17.11.2023 S. 3 Bezug nimmt).

50

Jedoch gab es hier keine Rechtsgrundlage für Vorschusszahlungen im Kündigungszeitraum mehr, die durch die Kündigung hätte entzogen werden können. Die letzte Vorschussvereinbarung der Parteien war bis zum 28.02.2019 befristet (Anlage B3) und bei Kündigungserklärung am 30.09.2019 schon abgelaufen. Das Angebot einer neuen Vorschussvereinbarung durch das Schreiben vom 05.06.2019 (Anlage K11) hatte die Klägerin nicht mehr angenommen (Klageschrift S. 5, Schriftsatz vom 17.11.2023 S. 5).

51

3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 92 Abs. 1 ZPO.

52

4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

53

5. Die Revision war nicht nach § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung. Auch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert die Entscheidung des Revisionsgerichts nicht.

Schlagworte: Argenturvertrag, Handelsvertreter, Handelsvertretervertrag, negative Feststellungsklage

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OLG München, Urteil vom 11.10.2023 – 7 U 380/23 e

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Anfechtung Hauptversammlungsbeschluss

Tenor

1. Die Berufungen der Kläger gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 10.11.2022, Az. 5 HK O 2654/22, werden zurückgewiesen.

2. Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Dieses Urteil sowie das in Ziffer 1 bezeichnete Endurteil des Landgerichts München I sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Die Kläger können die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Gründe

A.

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit mehrerer Beschlüsse einer Hauptversammlung der Beklagten vom 03.02.2022.Randnummer2

Die Beklagte ist eine Aktiengesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in M.    Ihr Grundkapital von 13.288.166,80 € ist in 10.884.940 auf den Namen lautende nennwertlose Stückaktien mit einem rechnerischen Anteil am Grundkapital von 1,22 € pro Aktie eingeteilt (vgl. die Angaben in der Niederschrift zur außerordentlichen Hauptversammlung vom 03.02.2022 laut Anl. B 1). Die Aktien der Beklagten wurden am 13.06.1994 an der F. Wertpapierbörse sowie an der Börse M. zum (damals) geregelten Markt zugelassen (vgl. Anl. B 3 S. 2).Randnummer3

Am 07.08.2021 veröffentlichte die V. B GmbH ihre Entscheidung zur Abgabe eines Angebots für den Erwerb von Aktien der Beklagten.Randnummer4

Am 25.08.2021 veröffentlichte die V. B GmbH die Angebotsunterlage laut Anlage K 6 für ein freiwilliges öffentliches Übernahmeangebot an die Aktionäre der Beklagten zum Erwerb der Aktien der Beklagten gegen eine Geldleistung in Höhe von 53,50 € je Aktie. In der Angebotsunterlage wies die V. B GmbH darauf hin, dass sie am 06.08.2021 mehrere unwiderrufliche Verpflichtungen mit Aktionären der Beklagten geschlossen habe, u.a. mit der A. O.SICAV-FIS SCS, die zu diesem Zeitpunkt 10,4 % der Aktien der Beklagten hielt. Diese Aktionäre der Beklagten hätten sich darin verpflichtet, das Kaufangebot der V. B GmbH spätestens am fünften Tag nach Beginn der Annahmefrist anzunehmen (S. 26 – 28 der Angebotsunterlage laut Anl. K 6). Gleichzeitig wies die V. B GmbH in der Angebotsunterlage darauf hin, dass sie denjenigen Aktionären, die eine unwiderrufliche Annahmeverpflichtung eingegangen seien, den Abschluss einer Syndizierungsvereinbarung angeboten habe, aufgrund derer diese Aktionäre mit einem Teil des von ihnen erzielten Erlöses aus dem Aktienverkauf Anteile an einer der die V. B GmbH mittelbar beherrschenden Gesellschaften erwerben könnten. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Angebotsunterlage habe die A. O. SICAV-FIS SCS ein solches Angebot auf Abschluss einer Syndizierungsvereinbarung angenommen (S. 28 und 29 der Angebotsunterlage laut Anlage K 6). Die Annahmefrist ende am 22.09.2021 24:00 Uhr. Die weitere Annahmefrist beginne am 28.09.2021 und ende am 11.10.2021 24:00 Uhr.Randnummer5

Am 14.10.2021 machte die V. B GmbH gemäß § 23 Abs 1 S. 1 Nr. 3 WpÜG bekannt, dass bis zum 11.10.2021 (Meldestichtag) das Übernahmeangebot für insgesamt 8.318.522 Aktien der Beklagten angenommen worden sei, was einem Anteil von 76,65 % aller ausgegebenen Aktien der Beklagten entspreche (vgl. die Bekanntmachung laut Anl. K 8).Randnummer6

Mit Bescheid vom 30.11.2021 (Anl. B 3) widerrief die Börse M. auf Antrag der Beklagten deren Zulassung zum regulierten Markt der Börse M. mit Wirkung zum Ablauf des 30.12.2021 und ordnete die sofortige Vollziehbarkeit des Widerrufs an.Randnummer7

Mit Beschluss vom 15.12.2021 (Anl. B 4) widerrief die F. Wertpapierbörse ebenfalls auf Antrag der Beklagten deren Zulassung zum regulierten Markt mit Wirkung zum Ablauf des 20.12.2021. Auch hier wurde die sofortige Vollziehbarkeit des Widerrufs angeordnet.Randnummer8

Die Aktien der Beklagten wurden bis zum 31.03.2022 im Freiverkehr an der Börse M. gehandelt.Randnummer9

Am 17.12.2021 schlossen die V. B GmbH als herrschendes Unternehmen und die Beklagte als abhängiges Unternehmen einen Beherrschungs- und GewinnabführungsvertragBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag
Gewinnabführungsvertrag
, mit dessen Wirksamkeit die Beklagte die Leitung ihrer Gesellschaft der V. B GmbH unterstellt und sich verpflichtet, ihren ganzen Gewinn an die V. B GmbH abzuführen.Randnummer10

Am gleichen Tag erstatteten die Geschäftsführung der V. B GmbH und der Vorstand der Beklagten einen gemeinsamen Bericht nach § 293a AktG (vgl. Anlage K 2).Randnummer11

Die Beklagte veröffentlichte am 23.12.2021 im Bundesanzeiger die Einladung zu einer außerordentlichen Hauptversammlung am 03.02.2022 laut Anlage K 1. In der Einladung war in Abschnitt B „Teilnahmebedingungen sowie weitere Anordnungen und Hinweise“ unter Punkt 2 a folgendes ausgeführt:Randnummer12

„Aktionäre, die am Tag der virtuellen Hauptversammlung eingetragen und die ordnungsgemäß zur Teilnahme an der virtuellen Hauptversammlung angemeldet sind (…), können ihre Rechte in der virtuellen Hauptversammlung auch durch einen Bevollmächtigten wahrnehmen lassen; bevollmächtigen kann der Aktionär eine Person seiner wahl, auch die depotführende Bank oder eine Aktionärsvereinigung oder einen sonstigen Dritten. Bevollmächtigt der Aktionär mehr als eine Person, so kann die Gesellschaft eine oder mehrere von diesen zurückweisen.“Randnummer13

In der Einladung laut Anlage K 1 wurde darüber hinaus in Abschnitt B u.a. darauf hingewiesen, dass die Hauptversammlung am 03.02.2022 als virtuelle Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten (mit Ausnahme der von der Gesellschaft benannten Stimmrechtsvertreter) durchgeführt werde. Eine physische Teilnahme der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten, mit Ausnahme der von der Gesellschaft benannten weisungsgebundenen Stimmrechtsvertreter, vor Ort sei ausgeschlossen.Randnummer14

Aktionäre, die im Aktienregister der Beklagten als Aktionäre eingetragen seien und die sich bis spätestens 27.01.2022 24:00 Uhr bei der Beklagten zur Teilnahme an der Hauptversammlung angemeldet hätten, oder ihre Bevollmächtigten könnten die Bild- und Tonübertragung der gesamten Hauptversammlung über das InvestorPortal der Gesellschaft verfolgen. Teilnahmeberechtigte Aktionäre und ihre Bevollmächtigten könnten ihr Stimmrecht im Wege elektronischer Kommunikation über das InvestorPortal der Gesellschaft ausüben (Briefwahl). Aktionäre und ihre Bevollmächtigten hätten das Recht, im Wege elektronischer Kommunikation Fragen zu stellen, wobei diese Fragen bis spätestens Dienstag, den 01.02.2022, 24:00 Uhr über das InvestorPortal der Gesellschaft zugegangen sein müssten. Teilnahmeberechtigte Aktionäre und ihre Bevollmächtigten könnten während der Hauptversammlung auf elektronischem Wege über das InvestorPortal Widerspruch zu Protokoll gegen Beschlüsse der Hauptversammlung erklären. Eine darüber hinausgehende Ausübung von Aktionärsrechten sei in der virtuellen Hauptversammlung nicht möglich.Randnummer15

In Abschnitt E „Erläuterungen zu den Rechten der Aktionäre nach §§ 122 Abs. 2, 126 Abs. 1, 127 und 131 Abs. 1 AktG I.V.M. § 1 Abs. 2 COVID-19-MASSNAHMEGESETZ“ hieß es in der Einladung:Randnummer16

Auskunftsrecht der AktionäreRandnummer17

Jedem Aktionär ist grundsätzlich auf Verlangen in der Hauptversammlung vom Vorstand Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben, soweit sie zur sachlichen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist. Die Auskunftspflicht erstreckt sich auch auf die rechtlichen und geschäftlichen Beziehungen der Gesellschaft zu einem verbundenen Unternehmen. Von einer Beantwortung einzelner Fragen kann der Vorstand aus den in § 131 Abs. 3 AktG genannten Gründen absehen (z.B. keine Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen).Randnummer18

Ferner gelten gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, S. 2 COVID-19-Maßnahmengesetz für das Auskunftsrecht der Aktionäre folgende Besonderheiten und Einschränkungen: Ein Rederecht der Aktionäre in Bezug auf die virtuelle Hauptversammlung besteht nicht; sie haben ausschließlich das Recht, Fragen zu stellen. Das Fragerecht ist gemäß § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 COVID-19-Maßnahmengesetz im Wege der elektronischen Kommunikation einzuräumen. Der Vorstand entscheidet nach pflichtgemäßem, freiem Ermessen, wie er Fragen beantwortet. Der Vorstand kann vorgeben, dass Fragen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind. Von dieser Möglichkeit hat der Vorstand der Gesellschaft mit Zustimmung des Aufsichtsrats Gebrauch gemacht. Fragen der Aktionäre bzw. ihrer Bevollmächtigten sind bis spätestens Dienstag, den 1. Februar 2022, 24:00 Uhr (MEZ) (Zeitpunkt des Zugangs), im Wege elektronischer Kommunikation über das unter Internetadresse (…) zugängliche InvestorPortal der Gesellschaft einzureichen. Nach Ablauf der Frist können Fragen nicht mehr eingereicht werden. Insbesondere können damit auch während der virtuellen Hauptversammlung keine Fragen gestellt werden.“Randnummer19

Top 1 der Hauptversammlung vom 03.02.2022 war die „Beschlussfassung über die Zustimmung zum Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags zwischen der V. B GmbH als herrschendem Unternehmen und der S. Holding AG als abhängigem Unternehmen“.Randnummer20

Der in der Einladung zur Hauptversammlung wiedergegebene Beschlussvorschlag des Vorstands und des Aufsichtsrats zu Top 1 lautete:Randnummer21

„Dem Abschluss des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags vom 17.12.2021 zwischen der V. B GmbH als herrschendem Unternehmen und der S. Holding AG als abhängigem Unternehmen wird zugestimmt.“Randnummer22

Top 3 der Hauptversammlung vom 03.02.2022 waren „Wahlen zum Aufsichtsrat“.Randnummer23

Der in der Einladung zur Hauptversammlung wiedergegebene Beschlussvorschlag des Aufsichtsrats zu Top 3 lautete:Randnummer24

„Der Aufsichtsrat schlägt auf Vorschlag des Nominierungsausschusses vor, folgende Personen (…) in den Aufsichtsrat zu wählen:Randnummer25

3.1 Dr. F. D. (…)Randnummer26

3.2 V. L. (…)Randnummer27

3.3 W. A. S. (…)Randnummer28

3.4 W. W. (…)“Randnummer29

Am 25.01.2022 machte die Beklagte im Bundesanzeiger eine Mitteilung nach § 20 Abs. 6 AktG bekannt. Danach hätte ihr die V. B GmbH gemäß § 20 Abs. 1, 3 und 4 AktG mitgeteilt, dass dieser unmittelbar mehr als der vierte Teil der Aktien und zugleich eine Mehrheitsbeteiligung an der Beklagten gehörten. Gleichzeitig hätten der Beklagten diverse andere Aktionäre mitgeteilt, dass ihnen jeweils mittelbar mehr als der vierte Teil der Aktien und zugleich eine Mehrheitsbeteiligung an der Beklagten gehörten, da ihnen die unmittelbare Beteiligung der V. B GmbH an der Beklagten nach § 16 Abs. 4 AktG zuzurechnen sei, da sie die V. B GmbH über eine Beherrschungskette beherrschten. Hinsichtlich des Inhalts der Bekanntmachung vom 25.01.2022 wird auf Anl. B 5 Bezug genommen.Randnummer30

In der Hauptversammlung vom 03.02.2022 stimmten die Kläger gegen den Beschlussvorschlag des Vorstands und des Aufsichtsrats zu Top 1. Sie erklärten (u.a.) Widerspruch zur Niederschrift gegen Top 1. Der Versammlungsleiter der Hauptversammlung stellte fest, dass die Abstimmung zu Top 1 bei 9.040.160 Aktien, für die gültige Stimmen abgegeben worden seien (entsprechend 83,00 % des Grundkapitals), 8.841.715 Ja-Stimmen (= 97,80 %) und 198.445 Nein-Stimmen (= 2,2 %) ergeben habe. Die Hauptversammlung habe damit zu Top 1 den Beschlussvorschlag von Vorstand und Aufsichtsrat angenommen (vgl. Niederschrift laut Anl. B 1). Von den 8.841.715 Ja-Stimmen waren 8.521.407 von der V. B GmbH abgegeben.Randnummer31

Die Kläger stimmten auch gegen die Beschlussvorschläge des Aufsichtsrats zu Top 3.1 bis 3.4 und erklärten auch insoweit Widerspruch zur Niederschrift gegen Top 3.1 bis 3.4.Randnummer32

Der Versammlungsleiter der Hauptversammlung stellte fest, dass die Abstimmung zu Top 3.1 bei 9.521.949 Aktien, für die gültige Stimmen abgegeben worden seien (entsprechend 87,42 % des Grundkapitals), 8.544.419 Ja-Stimmen (= 89,73 %) und 977.530 Nein-Stimmen (= 10,27 %) ergeben habe. Die Hauptversammlung habe damit zu Top 3.1 den Beschlussvorschlag des Aufsichtsrats angenommen (vgl. Niederschrift laut Anl. B 1).Randnummer33

Hinsichtlich Top 3.2 stellte der Versammlungsleiter fest, dass bei 9.521.859 Aktien, für die gültige Stimmen abgegeben worden seien (entsprechend 87,42 % des Grundkapitals), 8.539.879 Ja-Stimmen (= 89,69 %) und 981.980 Nein-Stimmen (= 10,31 %) vorlägen. Die Hauptversammlung habe damit zu Top 3.2 den Beschlussvorschlag des Aufsichtsrats angenommen (vgl. Niederschrift laut Anl. B 1).Randnummer34

Bezüglich der Abstimmung zu Top 3.3 stellte der Versammlungsleiter fest, dass von 9.521.925 gültigen Stimmen (entsprechend 87,42 % des Grundkapitals), 8.543.289 mit Ja (= 89,72 %) und 978.636 mit Nein (= 10,28 %) votiert hätten. Die Hauptversammlung habe damit zu Top 3.3 den Beschlussvorschlag des Aufsichtsrats angenommen (vgl. Niederschrift laut Anl. B 1).Randnummer35

Schließlich stellte der Versammlungsleiterbezüglich Top 3.4 fest, dass bei 9.521.859 Aktien, für die gültige Stimmen abgegeben worden seien (entsprechend 87,42 % des Grundkapitals), 8.542.704 Ja-Stimmen (= 89,72 %) und 979.155 Nein-Stimmen (= 10,28 %) vorlägen. Die Hauptversammlung habe damit auch zu Top 3.4 den Beschlussvorschlag des Aufsichtsrats angenommen (vgl. Niederschrift laut Anl. B 1).Randnummer36

Unter den bei den Abstimmungen zu 3.1 bis 3.4 abgegebenen JA-Stimmen waren jeweils 8.521.407 von der V. B GmbH abgegebene.Randnummer37

Die Kläger trugen vor, dass die Beschlüsse der Hauptversammlung zu den Top 1 sowie 3.1, 3.2, 3.2 und 3.4 gemäß § 243 Abs. 1 AktG aufgrund ihrer Gesetzeswidrigkeit für nichtig zu erklären seien.Randnummer38

So sei schon die Einladung zur Hauptversammlung fehlerhaft, da der darin enthaltene Hinweis, dass, sollte der Aktionär mehr als eine Person bevollmächtigen, die Gesellschaft einen oder mehrere von diesen Bevollmächtigten zurückweisen könne, eine unzulässige Einschränkung des Teilnahmerechts darstelle. § 134 Abs. 3 S. 2 AktG sei nämlich im Hinblick auf Art. 10 Abs. 2 UA 2 S. 2 der Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.07.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, derzufolge Aktionäre, die Aktien einer Gesellschaft in mehr als einem Wertpapierdepot halten, berechtigt seien, für die in jedem einzelnen Wertpapierdepot gehaltenen Aktien jeweils einen eigenen Vertreter für jede Hauptversammlung zu bestellen, richtlinienkonform auszulegen. Da die Satzung der Antragstellerin keine dem § 134 Abs. 3 S. 2 AktG entsprechende Regelung enthalte, sei der in Einladung aufgenommene Hinweis auf § 134 Abs. 3 S. 2 AktG fakultativ. Da dieser Hinweis aber zu dem nach der Richtlinie 2007/36/EG einem Aktionär, der Aktien der Gesellschaft in mehreren Wertpapierdepots halte, zustehenden Recht auf Benennung mehrerer Bevollmächtigter schweige, sei er irreführend und „zur Täuschung des Aktionariats angelegt“. Im Übrigen verstoße § 134 Abs. 3 S. 2 AktG als solches gegen Europarecht, da er die Personenzahlbegrenzung in das Ermessen der Gesellschaft stelle, wohingegen in Art. 10 Abs. 2 UA 2 S. 2 der Richtlinie eine Begrenzung der Zahl der Bevollmächtigten durch den Gesetzgeber des Mitgliedsstaates vorsehe. Da diese Fragen die Auslegung europäischen Rechts beträfen, beantragt die Antragsgegnerin zu 1), insoweit ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV durchzuführen.Randnummer39

Darüber hinaus sei das Fragerecht der Aktionäre durch eine unzulässige Verkürzung der Frist zur Einreichung schriftlicher Fragen in rechtswidriger Weise beeinträchtigt worden. Denn die Regelung in § 1 Abs. 2 S. 2 COVID-19-Maßnahmegesetz, wonach der Vorstand vorgeben könne, dass Fragen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen seien, sei nicht dahingehend auszulegen, dass – wie gemäß § 121 Abs. 7 S. 1 AktG – der Tag der Versammlung nicht mitzurechnen sei. Denn die Vorschrift des § 121 Abs. 7 S. 1 AktG gelte nur für den zweiten Unterabschnitt des vierten Abschnitts des ersten Buches des AktG (§§ 121128 AktG), nicht aber auch für den dritten Unterabschnitt, in dem das Auskunftsrecht der Aktionäre geregelt sei. Da das COVID-19-Maßnahmengesetz kein eigenes Fristenregime enthalte, seien – dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 S. 2 COVID-19-Maßnahmengesetz entsprechend – Fragen bis zum Ablauf des 02.02.2022 und nicht – wie in der Einladung ausgeführt – nur bis zum Ablauf des 01.02.2022 zulässig gewesen.Randnummer40

Schließlich stelle auch die fehlende Zweiwegekommunikation bei der Durchführung der virtuellen Hauptversammlung vom 03.02.2022 einen schwerwiegenden Rechtsverstoß dar.Randnummer41

Die Beschlüsse seien auch nicht mit der erforderlichen Mehrheit zustandegekommen, da die Mehrheitsaktionärin der Beklagten, die V. B GmbH, sowie sämtliche Mutterunternehmen der Beklagten sowie herrschende Personen bei der Abstimmung über den streitgegenständlichen Beschluss am 03.02.2022 aufgrund nach dem WpHG fehlerhafter Stimmrechtsmeldungen einem Stimmrechtsverbot nach § 44 Abs. 1 S. 3 WpHG unterlegen wären. Dieses Stimmrechtsverbot sei auch nicht im Moment des Delistings der Beklagten entfallen, da die sechsmonatige nachwirkende Sperrfrist des § 44 Abs. 1 S. 3 WpHG auch noch nach dem Delisting der Beklagten mit Ablauf des 30.12.2021 gelte. Die Voraussetzungen für eine nachwirkende Stimmrechtssperre lägen vor, da der V. B GmbH bereits am 14.10.2021 78,22 % der Beklagten gehörten. Denn zu diesem Zeitpunkt seien sämtliche Vollzugsvoraussetzungen des Übernahmeangebots erfüllt gewesen, sodass eine Übereignung der zum Verkauf eingereichten Aktien von der V. B GmbH hätte veranlasst werden können. Die V. B GmbH habe daher bereits zum 14.10.2021 einen auf die Übertragung der Aktien gerichteten unbedingten und ohne zeitliche Verzögerung zu erfüllenden Anspruch gehabt, was nach § 33 Abs. 3 WpHG einem Gehören iSd. § 33 Abs. 1 WpHG gleichstehe. Obwohl damit die 75-Prozentmeldeschwelle bereits am 14.10.2021 überschritten gewesen sei, habe die V. B GmbH erst am 27.10.2021 und damit nicht unverzüglich und in der Sache unrichtig bekanntgegeben, dass ihr seit 25.10.2021 78,22 % der Aktien der Beklagten gehörten.Randnummer42

Darüber hinaus sei die 75-prozentige Mehrheit auch nicht mit von der Rechtsordnung gebilligten Methoden zustandegekommen. Durch die Rückbeteiligung u.a. der A. O. SICAV-FIS SCS werde nämlich das 75%-Mehrheitserfordernis des § 293 Abs. 1 S. 2 AktG umgangen.Randnummer43

Es läge ein eklatanter Berichtsmangel gemäß § 293a AktG vor, da darin nicht auf den Stimmrechtsausschluss u.a. der V. B GmbH hingewiesen sei.Randnummer44

Die Kläger beantragten daher:Randnummer45

I. Der in der Hauptversammlung der Beklagten vom 03.02.02022 unter Top 1 gefasste Beschluss über die Zustimmung zum Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages zwischen der V. B GmbH als herrschendem Unternehmen und der S. Holding AG als abhängigem Unternehmen wird für nichtig erklärt.Randnummer46

II. Die in der Hauptversammlung der Beklagten vom 03.0.2.2022 unter Top 3.1, 3.2, 3.3 und 3.4 gefassten Beschlüsse über die Wahlen des Herrn Dr. F. D. (Top 3.1), der Frau V. L. (Top 3.2), des Herrn W. A. S. (Top 3.3) sowie des Herrn W. W. (Top 3.4) in den Aufsichtsrat werden für nichtig erklärt.Randnummer47

Hilfsweise beantragten die Kläger:Randnummer48

Es wird festgestellt, dass die vorgenannten Beschlüsse nichtig sind.Randnummer49

Äußerst hilfsweise beantragten die Kläger:Randnummer50

Es wird festgestellt, dass die vorgenannten Beschlüsse unwirksam sind.Randnummer51

Die Beklagte beantragte:Randnummer52

Klageabweisung:Randnummer53

Die Beklagte erwiderte, dass bei der Abstimmung in der Hauptversammlung vom 03.02.2022 ein Stimmrechtsausschluss der V. B GmbH nach § 44 WpHG wegen der von den Klägern behaupteten Melderechtsverletzungen schon deshalb nicht bestanden habe, da die Beklagte infolge ihres Delistings mit Ablauf des 30.12.2021 nicht mehr den Regelungen des WpHG unterfalle. Meldepflichten bestünden seit dem 31.12.2021 nur noch nach § 20 AktG. Diesen sei mit der Mitteilung vom 25.01.2022 laut Anl. B 5 Genüge getan.Randnummer54

Selbst wenn aber § 44 WpHG trotz des Delistings der Beklagten anwendbar sein sollte, so bestünde danach kein Stimmrechtsausschluss der V. B GmbH (und anderer Aktionäre). Denn diese hätten mit der Bekanntmachung nach § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 WpÜG vom 14.10.2021 die Meldepflichten erfüllt. Das Überschreiten der höchsten von § 33 WpHG erfassten Meldeschwelle von 75 % sei damit öffentlich bekannt gewesen.Randnummer55

Die Rüge der Kläger, es läge ein Berichtsmangel iSd. § 293a AktG vor, gehe schon deshalb ins Leere, weil zum einen nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 293a AktG über Stimmrechte und etwaige Stimmrechtsverluste gar nicht zu berichten sei und zum anderen – wie oben dargelegt – ein Stimmrechtsverlust der V. B GmbH nicht vorgelegen habe, sodass darüber auch nicht habe berichtet werden können. Darüber hinaus könne sich diese Rüge auch nicht auf die wahl der Aufsichtsratsmitglieder beziehen, da dafür ein Bericht nach § 293 a AktG gar nicht erforderlich sei.Randnummer56

Es sei nicht ersichtlich wie die Erlangung der Mehrheit der in der Hauptversammlung abgegebenen Stimmen durch die V. B GmbH eine Umgehung des Mehrheitserfordernisses von 75 % darstellen solle. Die V. B GmbH habe die Aktien der A. O. SICAV-FIS SCS sowie der Vorstandsmitglieder der Beklagten ordnungsgemäß erworben. Sie habe dies auch offengelegt. Selbst wenn aber mit den Klägern ein Stimmrechtsausschluss hinsichtlich der durch die V. B GmbH von der A. O. SICAV-FIS SCS sowie von Vorstandsmitgliedern der Beklagten erworbenen Aktien bejaht werden sollte, so würde dies nichts daran ändern, dass die streitgegenständlichen Hauptversammlungsbeschlüsse mit der notwendigen Mehrheit gefasst worden seien.Randnummer57

Die in der Einladung zur Hauptversammlung vom 03.02.2022 wiedergegebenen Teilnahmebedingungen seien nicht fehlerhaft. Die Anordnung, dass bei Bevollmächtigung von mehr als einer Person durch einen Aktionär eine oder mehrere dieser Personen zurückgewiesen werden könnten, entspreche dem Wortlaut des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG und könne schon deshalb nicht unzulässig sein.Randnummer58

Die Fragerechte der Aktionäre seien nicht in rechtswidriger Weise verkürzt. Die in der Einladung aufgeführten Anordnungen entsprächen dem Covid-Gesetz. Eine Zweiwegekommunikation und damit verbunden eine Nachfragemöglichkeit der Aktionäre sei nicht zwingend vorzusehen.Randnummer59

Die Klage der Kläger ging am 03.03.2022 beim Landgericht München I ein. Nachdem das Landgericht mit Beschluss vom 04.03.2022 (Bl. 22/24 d.A.) den Streitwert auf 275.000,00 € festgesetzt hatte, forderte die Landesjustizkasse am 07.03.2022 beim Klägervertreter zu 1) einen Gerichtskostenvorschuss in Höhe von 7.545,00 € an (vgl. Kostenbeleg I), woraufhin die Klägerin zu 1) am 15.03.2022 und am 17.03.2022 jeweils 2.515,00 € und der Klägervertreter zu 3) am 16.03.2022 2.515,00 € einzahlten (vgl. Kostenbelege II bis IV). Aufgrund einer Vorsitzendenverfügung vom 30.03.2022 (Bl. 26/27 d.A.) wurde die Klageschrift dem Beklagtenvertreter am 31.03.2022 zugestellt (vgl. Bl. zu 27 d.A.).Randnummer60

Mit Endurteil vom 10.11.2022, Az. 5 HK O 2654/22, das dem Klägervertreter zu 1) am 23.12.2022, dem Klägervertreter zu 2) am 27.12.2022 und dem Klägervertreter zu 3) am 16.01.2023 zugestellt wurde (vgl. die Empfangsbekenntnisse laut Bl. zu 86 d.A.), wies das Landgericht München I die Klagen der Kläger ab. Die zulässigen Anfechtungsklagen seien nicht begründet, da eine Gesetzesverletzung i.S.d. § 243 Abs. 1 AktG nicht vorliege.Randnummer61

Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Landgericht u.a. aus, dass eine Verletzung des § 44 WpHG nicht anzunehmen sei. Ob die in § 33 WpHG statuierten Mitteilungspflichten erfüllt worden seien, könne dahinstehen, da für die Aktionäre der Beklagten ab dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Delisting mit Ablauf des 30.12.2021 nur noch die Mitteilungspflichten aus § 20 Abs. 1 bis 6 AktG gegolten hätten mit der Folge des § 20 Abs. 7 AktG im Falle eines Verstoßes. § 33 WpHG beziehe die Mitteilungspflichten nämlich nur auf börsennotierte Gesellschaften, deren Aktien zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen seien. Dazu gehöre aber nicht der Freiverkehr (LGU S. 10). Da die Mitteilungspflichten nach § 20 Abs. 1, 2 und 4 AktG erfüllt worden seien, sei die V. B GmbH in der Hauptversammlung vom 03.02.2022 nicht aufgrund § 20 Abs. 7 AktG von der Ausübung ihrer Stimmrechte ausgeschlossen gewesen (LGU S. 11).Randnummer62

Es liege auch keine Verletzung des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG vor, da die in der Einladung aufgeführte Beschränkung auf eine Person als Bevollmächtigten und die dadurch eröffnete Zurückweisung von einem oder mehreren weiteren Vertretern inhaltlich exakt dem Wortlaut des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG entspreche. Mit dem Hinweis auf die Beschränkungsmöglichkeit in der Einladung sei auch nicht gegen § 125 Abs. 2 und Abs. 1 S. 4 i.V.m. § 125 Abs. 5 S. 1 AktG verstoßen worden, obwohl die Einladung keinen Hinweis darauf enthalten habe, dass die Beschränkung im Hinblick auf Art. 10 Abs. 2 UA 2 S. 2 der Richtlinie 2007/36/EG vom 11.07.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären nicht für diejenigen Aktionäre gelte, die ihre Aktien an der Beklagten in unterschiedlichen Wertpapierdepots halten. Zwar komme dies in § 134 Abs. 3 S. 2 AktG so nicht zum Ausdruck, jedoch könne dem durch eine richtlinienkonforme Auslegung dahingehend Rechnung getragen werden, dass das in § 134 Abs. 3 S. 2 AktG eingeräumte Zurückweisungsermessen dahingehend reduziert werde, dass, wenn ein Aktionär Aktien der Beklagten in mehreren Aktiendepots halte, auch mehrere Bevollmächtigte zuzulassen seien (LGU S. 11 und 12 oben).Randnummer63

Letztendlich komme es aber auf Mitteilung einer richtlinienkonformen Auslegung des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG in der Einladung gar nicht an, da die Beklagte im maßgeblichen Zeitpunkt der Hauptversammlung nicht mehr börsennotiert gewesen sei und deshalb die Vorgaben der Aktionärsrechterichtlinie nicht zur Anwendung kämen. Unerheblich sei insoweit, dass die Beklagte im Zeitpunkt der Veröffentlichung der Einladung noch börsennotiert gewesen sei, da die Delistingbescheide der beiden Börsen vom 30.11.2021 und 15.12.2021 zu diesem Zeitpunkt bereits vorgelegen hätten und damit klar gewesen sei, dass die Hauptversammlung einer nicht börsennotierten Gesellschaft stattfinden werde. Angesichts der nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit der Delistingbescheide komme es auch nicht darauf an, dass die Klagefrist gegen die Delistingbescheide unter Umständen noch nicht abgelaufen gewesen sei (LGU S. 12 und 13).Randnummer64

Die Fristberechnung für das Einreichen schriftlicher Frage auf der Grundlage von § 1 Abs. 2 S. 2 COVMG mit dem in der Einberufung genannten Fristende am 01.02.2022, 24:00 Uhr sei gesetzeskonform. Es sei nämlich die Regelung des § 121 Abs. 7 AktG, wonach bei Rückrechnungsfristen der Tag der Versammlung nicht mitzurechnen sei, entsprechend anzuwenden.Randnummer65

Die Einrichtung einer Zwei-Wege-Kommunikation sei nicht erforderlich gewesen, da dies im COVMG nicht vorgesehen sei (LGU S. 14).Randnummer66

Ein Verstoß gegen die Vorgaben des § 293 a Abs. 2 AktG sei nicht gegeben, da in dem Bericht nicht auf einen möglicherweise bestehenden Stimmrechtsausschluss der V. B GmbH hätte hingewiesen werden müssen. Denn der Bericht nach § 293a Abs. 1 AktG beziehe sich nur auf den Vertragsabschluss und den Inhalt des Unternehmensvertrages, da damit den Minderheitsaktionären die rechtlichen und wirtschaftlichen Gründe mitgeteilt werden sollen, die den Vertrag als geeignetes Mittel zur Verfolgung des Unternehmenszwecks erscheinen lassen. Dazu gehöre aber nicht die Frage, inwieweit einem Vertragsteil auf der Hauptversammlung ein Stimmrecht zustehe (LGU S. 15).Randnummer67

Es liege auch keine Umgehung der Mehrheitserfordernisse aus § 293 Abs. 1 S. 1 AktG vor. Ein Rechtsmissbrauch sei nicht anzunehmen, wenn – wie hier – ein Aktionär seine Aktien der Hauptaktionärin überträgt, sich aber vorbehält, eine mittelbare Beteiligung über die Muttergesellschaft zu erwerben (LGU S. 16 und 17).Randnummer68

Da demnach keine Gesetzesverletzung vorliege, seien auch die Hilfsanträge der Kläger unbegründet.Randnummer69

Im Übrigen wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen.Randnummer70

Die Kläger verfolgen mit ihren am 23.01.2023 beim Oberlandesgericht eingegangenen und mit Schriftsätzen vom 22.02.2023 (Kläger zu 2, Bl. 16/24 d. eA, eingegangen beim Oberlandesgericht am 22.02.2023), 23.03.2023 (Klägerin zu 1, Bl. 27/33 d.eA, nach bis 23.03.2023 bewilligter Fristverlängerung eingegangen beim Oberlandesgericht am 23.03.2023) und 13.04.2023 (Kläger zu 3, Bl. 34/38 d. eA., nach bis 17.04.2023 bewilligter Fristverlängerung eingegangen beim Oberlandesgericht am 13.04.2023) begründeten Berufungen unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags ihr Klagebegehren vollumfänglich weiter.Randnummer71

Die Klägerin zu 1) beantragt daher:Randnummer72

Unter Abänderung und Aufhebung des Urteils des Landgerichts München vom 10.11.2022 (Az.: 5 HK O 2654/22)Randnummer73

1.) wird der in der Hauptversammlung der Beklagten vom 03. Februar 2022 unter Top 1 gefasste Beschluss über die Zustimmung zum Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags zwischen der V. B GmbH als herrschendem Unternehmen und der S. Holding AG als abhängigem Unternehmen für nichtig erklärt.Randnummer74

Hilfsweise:Randnummer75

Es wird festgestellt, dass vorgenannter Beschluss nichtig ist.Randnummer76

Äußerst hilfsweise:Randnummer77

Es wird festgestellt, dass vorgenannter Beschluss unwirksam ist.Randnummer78

2.) werden die in der Hauptversammlung der Beklagten vom 03. Februar 2022 unter Top 3.1, 3.2, 3.3 und 3.4 gefassten Beschlüsse über die Wahlen des Herrn Dr. F. D. (Top 3.1), der Frau V. L. (Top 3.2), des Herrn W. A. [sic] S. (Top 3.3) sowie des Herrn W. W. (Top 3.4) in den Aufsichtsrat für nichtig erklärt.Randnummer79

Hilfsweise:Randnummer80

Es wird festgestellt, dass vorgenannte Beschlüsse nichtig sind.Randnummer81

Äußerst hilfsweise:Randnummer82

Es wird festgestellt, dass vorgenannte Beschlüsse unwirksam sind.Randnummer83

Der Kläger zu 2) beantragt, unter Abänderung des am 10.11.2022 verkündeten erstinstanzlichen Urteils des Landgerichts München I, Az.: 5 HK O 2654/22 wie folgt zu entscheiden:Randnummer84

1. Der in der Hauptversammlung der Beklagten vom 03. Februar 2022 unter Top 1 gefasste Beschluss über die Zustimmung zum Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags zwischen der V. B GmbH als herrschendem Unternehmen und der S. Holding AG als abhängigem Unternehmen wird für nichtig erklärt.Randnummer85

Hilfsweise:Randnummer86

Es wird festgestellt, dass vorgenannter Beschluss nichtig ist.Randnummer87

Äußerst hilfsweise:Randnummer88

Es wird festgestellt, dass vorgenannter Beschluss unwirksam ist.Randnummer89

2. Die in der Hauptversammlung der Beklagten vom 03. Februar 2022 unter Top 3.1, 3.2, 3.3 und 3.4 gefassten Beschlüsse über die Wahlen des Herrn Dr. F. D. (Top 3.1), der Frau V. L. (Top 3.2), des Herrn W. A. [sic] S. (Top 3.3) sowie des Herrn W. W. (Top 3.4) in den Aufsichtsrat werden für nichtig erklärt.Randnummer90

Hilfsweise:Randnummer91

Es wird festgestellt, dass vorgenannte Beschlüsse nichtig sind.Randnummer92

Äußerst hilfsweise:Randnummer93

Es wird festgestellt, dass vorgenannte Beschlüsse unwirksam sind.Randnummer94

Der Kläger zu 3) beantragt,Randnummer95

1. unter Abänderung des Urteils des LG München I, Az.: 5 HK O 2654/22, vom 10. November 2022, den in der Hauptversammlung der Beklagten vom 03. Februar 2022 unter Top 1 gefassten Beschluss über die Zustimmung zum Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags zwischen der V. B GmbH als herrschendem Unternehmen und der S. Holding AG als abhängigem Unternehmen, für nichtig zu erklären, hilfsweise festzustellen, dass vorgenannter Beschluss nichtig, äußerst hilfsweise unwirksam ist;Randnummer96

2. unter Abänderung des Urteils des LG München I, Az.: 5 HK O 2654/22, vom 10. November 2022, die in der Hauptversammlung der Beklagten vom 03. Februar 2022 unter Top 3.1, 3.2, 3.3 und 3.4 gefassten Beschlüsse über die Wahlen des Herrn Dr. F. D. (Top 3.1), der Frau V. L. (Top 3.2), des Herrn W. A. [sic] Stark (Top 3.3) sowie des Herrn W. W. (Top 3.4) in den Aufsichtsrat werden für nichtig zu erklären, hilfsweise festzustellen dass vorgenannte Beschlüsse nichtig, äußerst hilfsweise unwirksam sind;.Randnummer97

3. hilfsweise das Urteil des LG München I, Az.: 5 HK O 2654/22, vom 10.11.2022 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht München I zurückzuverweisen.Randnummer98

Die Beklagte beantragt,Randnummer99

die Berufungen zurückzuweisen.Randnummer100

Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil.Randnummer101

Der Senat hat am 11.10.2023 mündlich verhandelt. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 11.10.2023, die zwischen den Prozessbevollmächtigten gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Akteninhalt wird Bezug genommen.

B.

Die zulässigen, insbesondere fristgerecht eingelegten und begründeten, Berufungen der Kläger sind unbegründet, da – wie das Landgericht in jeder Hinsicht zutreffend festgestellt hat – sowohl die primär erhobene Anfechtungsklage gegen die Beschlüsse der Hauptversammlung der Beklagten vom 03.02.2022 zu den Top 1 sowie 3.1, 3.2, 3.3 und 3.4 als auch die hilfsweise erhobenen Nichtigkeits- und Feststellungsklagen in Ermangelung eines Gesetzesverstoßes unbegründet sind.

I.

1. Die Anfechtungsklage gegen den Beschluss der Hauptversammlung zu Top 1 ist zwar nicht schon deshalb unbegründet, weil die Ausschlussfrist des § 246 Abs. 1 AktG nicht eingehalten wäre. Denn die Klage ging am 03.03.2022 und damit binnen der Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG beim Landgericht München I ein und der Klageeingang wirkte gemäß § 167 ZPO zurück, da die Zustellung am 31.03.2022 noch „demnächst“ erfolgte. Es liegt nämlich keine von den Klägern zu vertretende Verzögerung der Zustellung um mehr als 14 Tage vor, nachdem der vom Landgericht am 07.03.2022 angeforderte Gerichtskostenvorschuss bis 17.03.2022 einbezahlt war.Randnummer104

Jedoch liegt eine Gesetzesverletzung iSd. § 243 Abs. 1 AktG nicht vor.Randnummer105

a. Die Beschränkung des Einladungstextes auf die Wiedergabe des Wortlauts des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG stellt keinen Einberufungsmangel dar.Randnummer106

§ 125 Abs. 2, Abs. 1 S. 4 AktG verlangt nämlich nur, dass in der Einladung auf die Möglichkeit der Ausübung des Stimmrechts durch einen Bevollmächtigten, auch durch eine Vereinigung von Aktionären, hingewiesen wird. Diesem Erfordernis hat die Beklagte durch den Hinweis in Abschnitt B 2 a S. 1 der Einladung genügt.Randnummer107

aa. Aus § 125 Abs. 5 S. 1 AktG, der die Vorgaben aus der Durchführungsverordnung EU 2018/1212, die unmittelbar nur für börsennotierte Gesellschaften gilt, auch für nicht börsennotierte Gesellschaften für anwendbar erklärt, ergeben sich, was Hinweise für die Bevollmächtigung betrifft, keine über § 125 Abs. 2, Abs. 1 S. 4 AktG hinausgehenden Anforderungen an die Einladung.Randnummer108

Soweit in der Literatur im Rahmen der Mitteilungspflicht nach § 125 Abs. 2, Abs. 1 S. 4 AktG verlangt wird, dass, soweit die Satzung der Gesellschaft Beschränkungen hinsichtlich des Kreises der Stimmrechtsbevollmächtigten enthält, diese Beschränkungen ebenfalls in den Hinweis nach § 125 Abs. 2, Abs. 1 S. 4 AktG aufzunehmen sind (vgl. bspw. Rieckers in BeckOGKAktG, Stand 01.07.2023, Rdnr. 31 zu § 125 AktG und Kubis in Münchener Kommentar zum AktG, 5. Auflage, München 2022, Rdnr. 12 zu § 125 AktG), so kommt dies im streitgegenständlichen Fall unabhängig von der Frage, inwieweit solche Beschränkungen zulässig sind, schon deshalb nicht zum Tragen, da die Satzung der Beklagten unstreitig solche Beschränkungsmöglichkeiten nicht enthält.Randnummer109

bb. Der demnach von § 125 Abs. 2, Abs. 1 S. 4 AktG nicht zwingend geforderte Hinweis in Abschnitt B 2 a S. 2 der Einladung auf die der Gesellschaft nach § 134 Abs. 3 S. 4 AktG eröffnete Möglichkeit, bei der Bevollmächtigung von mehr als einer Person durch den Aktionär einen oder mehrere dieser Bevollmächtigten zurückzuweisen, ist entgegen der Ansicht der Klägerin zu 1) auch weder falsch noch irreführend.Randnummer110

(1) Zu Recht führen die Kläger zwar insoweit aus, dass nach Art. 10 Abs. 2 S. 2 der Richtlinie 2007/36/EG vom 11.07.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften (im Folgenden als Aktionärsrechterichtlinie bezeichnet) ein Aktionär, der Aktien einer Gesellschaft in mehr als einem Wertpapierdepot hält, nicht gehindert sein darf, für die in jedem einzelnen Wertpapierdepot gehaltenen Aktien jeweils einen eigenen Vertreter für jede Hauptversammlung zu bestellen, und dass dieses Recht in § 134 Abs. 3 S. 2 AktG nicht explizit zum Ausdruck kommt. Diesen Vorgaben der Aktionärsrechterichtlinie kann jedoch ohne weiteres durch eine richtlinienkonforme Auslegung des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG dadurch Rechnung getragen werden, dass in dem in Art. 10 Abs. 2 UA 2 S. 2 der Aktionärsrechterichtlinie geregelten Fall das der Gesellschaft nach § 134 Abs. 3 S. 2 AktG eingeräumte Ermessen dahingehend reduziert ist, dass mehrere Bevollmächtigte zuzulassen sind (vgl. Rieckers in BeckOGKAktG, Stand 01.07.2023, Rdnr. 66 zu § 134 AktG). Ob auf die Notwendigkeit einer solchen richtlinienkonformen Auslegung des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG in der Einladung hingewiesen werden muss, wenn dort auf die Regelung des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG Bezug genommen wird, kann offenbleiben.Randnummer111

(2) Im streitgegenständlichen Fall kommt es darauf nämlich entscheidungserheblich gar nicht an, da die Beklagte zum Zeitpunkt der Hauptversammlung am 03.02.2022 dem Anwendungsbereich der Aktionärsrechterichtlinie nicht mehr unterfiel. Denn sie war seit Ablauf des 30.12.2021 nicht mehr börsennotiert, vielmehr wurden ihre Aktien im Zeitraum bis 31.03.2022 unstreitig nur noch im Freiverkehr i.S.d. § 48 BörsG der Börse M. gehandelt.Randnummer112

(a) Der Anwendungsbereich der Aktionärsrechterichtlinie erstreckt sich gemäß ihres Art. 1 Abs. 1 S. 1 jedoch nur auf „Gesellschaften (…), deren Aktien zum Handel an einem in einem Mitgliedstaat gelegenen oder dort betriebenen geregelten Markt zugelassen sind“. Der Begriff des „geregelten Marktes“ iSd. Art 1 Abs. 1 S. 1 Aktionärsrechterichtlinie bezeichnet dabei nach der in Art. 2 lit. a der Aktionärsrechterichtlinie enthaltenen Legaldefinition „einen Markt im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Nummer 21 der Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates“. Art. 4 Abs. 1 Nummer 21 der Richtlinie 2014/65/EU (im Folgenden als MiFID II abgekürzt) wiederum definiert den Begriff des „geregelten Marktes“ als ein von einem Marktbetreiber betriebenes und/oder verwaltetes multilaterales System, das die Interessen einer Vielzahl von Dritten am Kauf und Verkauf von Finanzinstrumenten innerhalb des Systems und nach seinen nichtdiskretionären Regeln in der Weise zusammenführt oder das Zusammenführen fördert, die zu einem Vertrag in Bezug auf Finanzinstrumente führt, die gemäß den Regeln und/oder den Systemen des Marktes zum Handel zugelassen wurden, sowie eine Zulassung erhalten und ordnungsgemäß und gemäß Teil III dieser Richtlinie funktioniert.“Randnummer113

Dass der Freiverkehr iSd. § 48 BörsG nicht nach den Regeln des Titels III der MiFID II funktioniert, zeigt sich schon daran, dass zwar der Ablauf des Handels gemäß § 48 Abs. 1 S. 2 BörsG einer als öffentlich-rechtlich zu qualifizierenden Handelsordnung unterliegt (vgl. hierzu Kumpan in Hopt, HGB, 42. Auflage, München 2023, Rdnr. 3 zu § 48 BörsG), die Teilnahme am Handel und die Einbeziehung von Wertpapieren zum Handel dagegen nach § 48 Abs. 1 S. 3 BörsG durch Geschäftsbedingungen geregelt wird, die als privatrechtliche Allgemeine Geschäftsbedingungen iSd. §§ 305 ff. BGB zu qualifizieren sind (vgl. LG Frankfurt a.M., Beschluss vom 14.08.2012 – 3/05 O 91, Rdnr. 18). Die Einbeziehung eines Wertpapieres in den Freihandel ist damit eine privatrechtliche Entscheidung der jeweiligen Börse (vgl. LG Frankfurt a.M., Beschluss vom 14.08.2012 – 3/05 O 91, Rdnr. 18, Schwark in ders./Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 5. Auflage, München 2020, Rdnr. 15 zu § 48 BörsG) im Gegensatz zur Zulassung eines Wertpapiers zum regulierten Markt nach § 32 BörsG (vgl. Groß in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Auflage, München 2020, Rdnr. 7 zu § 48 BörsG), bei dem es sich um einen Verwaltungsakt handelt. Der Freiverkehr iSd. § 48 BörsG unterliegt damit entgegen Art. 44 Abs. 4 MiFID II nicht dem öffentlichen Recht, funktioniert deshalb auch nicht gemäß den Bestimmungen des Titels III der MiFID II und ist entgegen der Ansicht der Kläger kein „geregelter Markt“ i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Nr. 21 MiFID II, sondern nur ein multilaterales Handelssystem i.S.v. Art. 4 Abs. 1 Nr. 22 MiFID II (Kumpan in Hopt, HGB, 42. Auflage, München 2023, Rdnr. 1 zu § 48 BörsG, Schwark in ders./Zimmer, Kapitalmarktrechtskommentar, 5. Auflage, München 2020, Rdnr. 6 zu § 48 BörsG, Groß in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Auflage, München 2020, Rdnr. 3 zu § 48 BörsG). Dementsprechend hat der Gesetzgeber in § 48 Abs. 3 S. 1 BörsG den Freiverkehr auch ausdrücklich als „multilaterales Handelssystem“ bezeichnet (vgl. zu dieser Einstufung des Freiverkehrs i.S.d. § 48 BörsG auch die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetz, BT-Drs. 18/10936, S. 270 letzter Absatz, wo der Freiverkehr i.S.d. § 48 BörsG ausdrücklich als „multilaterales Handelssystem“ im Gegensatz zu „geregelten Märkten“ bezeichnet wird, vgl. auch OLG München, Beschluss vom 21.05.2008 – 31 Wx 62/07, Rdnr. 22).Randnummer114

(b) (aa) Dass die Beklagte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Einladung am 23.12.2021 noch börsennotiert war, ändert an der Nichtanwendbarkeit der Aktionärsrechterichtlinie auf die Hauptversammlung der Beklagten vom 03.02.2022 nichts. Für die Frage des temporalen Anwendungsbereichs der Aktionärsrechterichtlinie ist vielmehr allein auf den Zeitpunkt der Hauptversammlung abzustellen. Regelungsgegenstand der Aktionärsrechterichtlinie ist nämlich – wie sich schon aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie ergibt – die Ausübung von Aktionärsrechten „im Zusammenhang mit Hauptversammlungen“. Dementsprechend ist in Art. 10 Abs. 2 UA 2 S. 1 der Aktionärsrechterichtlinie auch geregelt, inwiefern die Mitgliedstaaten die Zahl von Vertretern eines Aktionärs in einer Hauptversammlung begrenzen können. Wenn aber aufgrund der Beendigung der Börsennotierung der Beklagten mit Ablauf des 30.12.2021 Art. 10 Abs. 2 UA 2 S. 1 der Aktionärsrechterichtlinie nicht mehr auf die am 03.02.2022 stattfindende Hauptversammlung anzuwenden war und deshalb insoweit nur noch die Regelung des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG mit der darin statuierten Begrenzungs- bzw. Zurückweisungsmöglichkeit galt, so ist nicht erkennbar, warum in der Einberufung zu der nach dem Delisting gar nicht mehr der Aktionärsrechterichtlinie unterfallenden Hauptversammlung darauf hingewiesen werden solle, dass sich das Zurückweisungsrecht der Gesellschaft nach der auf die Hauptversammlung gar nicht mehr anwendbaren Aktionärsrechterichtlinie richten solle. In einem solchen Fall würde der Hinweis in der Einladung bezüglich der Begrenzungs- bzw. Zurückweisungsmöglichkeit auch inhaltlich unrichtig sein. Entgegen der Ansicht der Kläger (vgl. Berufungsbegründung der Klägerin zu 1), S. 3 dritter Absatz, Bl. 29 d. eA.) mussten das Einberufungsregime und damit auch die Formalien der Einberufung deshalb nicht den zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Einladung zur Hauptversammlung für börsennotierte Gesellschaften geltenden Anforderungen entsprechen. Vielmehr war zur Vermeidung inhaltlich unrichtiger Einladungen einheitlich auf die Vorschriften abzustellen, die für den Zeitpunkt der Hauptversammlung am 03.02.2022 galten, und damit auf die Regelungen für nicht börsennotierte Gesellschaften. Dass aufgrund des vor dem Wirksamwerden des Delistings liegenden Veröffentlichungszeitpunkts der Einladung auch für die Hauptversammlung am 03.02.2022 trotz des zwischenzeitlichen Delistings weiterhin die Vorgaben der Aktionärsrechterichtlinie gelten, behaupten nicht einmal die Kläger selbst. Dies wäre auch mit der oben dargelegten Definition des Regelungsgegenstands der Aktionärsrechterichtlinie in Art. 1 Abs. 1 S. 1 nicht vereinbar.Randnummer115

(bb) Dass die Delistingentscheidungen der Börse M. vom 30.11.2021 (Anl. B 3) und der F. Wertpapierbörse vom 15.12.2021 (Anl. B 4) bestandskräftig wurden, ist unstreitig. Ebenso unstreitig ist (was sich im Übrigen auch aus den beiden Bescheiden ergibt), dass in beiden Fällen die sofortige Vollziehung angeordnet wurde, sodass die Beklagte mit Ablauf des 30.12.2021 nicht mehr börsennotiert war. Ob zu diesem Zeitpunkt die Frist nach § 74 Abs. 1 VwGO zur Anfechtung der beiden Bescheide bereits abgelaufen war, ist unerheblich, zumal eine Anfechtung unstreitig nicht erfolgte.Randnummer116

Dass damit – wie die Kläger meinen (vgl. Berufungsbegründung der Klägerin zu 1) S. 4, Bl. 30 d. eA und des Klägers zu 2) S. 5, Bl. 20 d. eA.) – im streitgegenständlichen Fall im Zeitpunkt der Veröffentlichung der Einladung am 23.12.2021 noch nicht endgültig klar war, ob die Beklagte zum Zeitpunkt der Hauptversammlung am 03.02.2022 nicht mehr börsennotiert sein würde, spielt für die Frage, ob auf die Einladung vom 23.12.2021 die Aktionärsrechterichtlinie zur Anwendung kommt, keine Rolle. Denn selbst wenn das Delisting – aus welchen Gründen auch immer – vor der Durchführung der Hauptversammlung nicht wirksam geworden (was aber tatsächlich unstreitig nicht der Fall war) und damit die Hauptversammlung vom Anwendungsbereich der Aktionärsrechterichtlinie umfasst gewesen wäre, so wäre bei einem (unterstellten) Einladungsmangel der Beschluss anfechtbar gewesen und wären die Rechte der Aktionäre dadurch hinreichend geschützt gewesen. Damit ist es auch unter diesem Gesichtspunkt nicht erforderlich, das Einladungsregime der Aktionärsrechterichtlinie zu unterstellen.Randnummer117

Nach alledem stellt sich die Problematik einer richtlinienkonformen Auslegung des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG für die Hauptversammlung am 03.02.2022 nicht. Für die Beklagte waren damit hinsichtlich der Hauptversammlung vom 03.02.2022 allein die Vorgaben des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG zu beachten, weshalb dessen Wiedergabe im Wortlaut in der Einladung auch weder unzutreffend noch irreführend war.Randnummer118

(c) Die von den Klägern beantragte Vorlage an den EuGH zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV zur Frage, ob die Aktionärsrechterichtlinie auf eine zwar zum Einladungszeitpunkt noch börsennotierte, bei Durchführung der Hauptversammlung aber nicht mehr börsennotierte Gesellschaft anwendbar ist, nicht erforderlich, da es für jeden klar sein muss (acte clair), dass die Richtlinie 2007/36/EG mangels Börsennotierung der Beklagten zum Zeitpunkt der Hauptversammlung im streitgegenständlichen Fall nicht anwendbar ist. Ebenso so klar ist es, dass der Freiverkehr i.S.d. § 48 BörsG kein „geregelter Markt“ i.S.d. der Aktionärsrechterichtlinie ist. Die gegenteilige Meinung wird auch im Schrifttum – soweit ersichtlich – von niemandem vertreten.Randnummer119

Da aufgrund der Nichtanwendbarkeit der Richtlinie 2007/36/EG auf die Beklagte, die von den Antragsgegnern ventilierte Frage, ob es sich bei der Regelung des § 134 Abs. 3 S. 2 AktG um eine ordnungsgemäße Umsetzung von Art. 10 Abs. 2 UA 2 S. 2 der Richtlinie 2007/36/EG handelt, – wie oben dargelegt – nicht entscheidungserheblich ist, war auch insoweit ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV nicht durchzuführen.Randnummer120

Eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV besteht für den Senat schon deshalb nicht, weil gegen seine Entscheidung die Nichtzulassungsbeschwerde statthaft ist und deshalb die Vorlagepflicht nur bei dem Gericht eintritt, das über die Nichtzulassungsbeschwerde entscheidet, d.h. beim BGH (vgl. BVerfG – Beschluss vom 22.12.1992 – 2 BvR 557/88, Rdnr. 4 zu Art. 177 Abs. 3 EWGV).Randnummer121

Die Gültigkeit der Richtlinie 2007/36/EG steht nicht in Frage, sodass auch insoweit keine Vorlagepflicht besteht.Randnummer122

b. Eine rechtswidrige Verkürzung des Fragerechts der Aktionäre durch die in der Einladung zur Hauptversammlung unter Abschnitt B 4 erfolgte Angabe, dass Fragen von Aktionären oder ihrer Bevollmächtigten bis spätestens Dienstag, den 01.02.2022, 24:00 Uhr über das InvestorPortal der Gesellschaft zugegangen sein müssten, liegt nicht vor. Denn diese Vorgabe entspricht der Regelung des § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie vom 27.03.2020 (im Folgenden als COVMG abgekürzt), in der nach § 7 Abs. 1 COVMG auf bis zum 31.08.2022 stattfindende Hauptversammlungen und damit auch auf die Hauptversammlung der Beklagten vom 03.02.2022 anwendbaren Fassung. Danach kann der Vorstand nämlich „vorgeben, dass Fragen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung“ einzureichen sind.Randnummer123

Diese Vorschrift des § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG ist dahingehend auszulegen, dass, da es sich bei der Frist des § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG um eine von der Hauptversammlung zurückzuberechnende Frist handelt, – wie in § 121 Abs. 7 S. 1 AktG – der Tag der Hauptversammlung bei der Fristberechnung nicht mitzurechnen ist, sodass der „Tag vor der Versammlung“ nicht Mittwoch der 02.02.2022, sondern Dienstag der 01.02.2022 ist.Randnummer124

Den Klägern zuzugeben ist, dass nach dem allgemeinen Sprachgebrauch der „Tag vor der Versammlung“, die am Donnerstag den 03.02.2022 stattfand, zweifellos nicht der Dienstag, sondern der Mittwoch ist. Dem Gesetzgeber steht es jedoch grundsätzlich frei, bei der Gesetzesformulierung vom allgemeinen Sprachgebrauch abzuweichen. Dies setzt aber voraus, dass es für ein derartiges vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichendes Sprachverständnis des Gesetzgebers hinreichende Anhaltspunkte im Gesetz gibt.Randnummer125

Das COVMG selbst enthält zwar keine Regelung zur Fristberechnung (auch nicht in Form eines Verweises auf Fristberechnungsvorschriften in anderen Gesetzen). Auch der Entstehungsgeschichte des Gesetzes lässt sich zur Fristberechnung nichts entnehmen. In der Begründung zum Entwurf des COVMG der Fraktionen der … und … vom 24.03.2020, der im Gegensatz zu der auf die streitgegenständliche Hauptversammlung nunmehr anwendbaren Fassung des COVMG noch eine zweitägige Frist vorsah, wird nämlich insoweit nur ausgeführt, dass der Vorstand auch entscheiden könne, „dass Fragen bis spätestens zwei Tage vor der Versammlung elektronisch (…) einzureichen“ seien (BT-Drs. 19/18110, S. 26). Die Verkürzung der Frist zur Einreichung von Fragen auf einen Tag kam erst aufgrund einer Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drs. 19/25251, S. 21) mit Art. 11 des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht vom 22.12.2020 (BGBl I 2020, S. 3328) in das COVMG. Eine Gesetzesbegründung liegt insoweit nicht vor.Randnummer126

Da es sich bei § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG aber um ein § 131 AktG, der das Fragerecht des Aktionärs regelt und diesem die Fragestellung in der Hauptversammlung gestattet, abänderndes Gesetz handelt (vgl. BT-Drs. 19/8110, S. 26 „abweichend von § 131 AktG“), liegt es nahe, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass die Berechnung der Frist des § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG den Regelungen folgen sollte, die auch ansonsten für die Fristberechnung im AktG gelten. Nachdem es sich bei der Frist des § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG um eine von der Hauptversammlung zurückzuberechnende Frist handelt, wäre dies § 121 Abs. 7 AktG.Randnummer127

Zwar bezieht sich § 121 Abs. 7 AktG seiner systematischen Stellung im zweiten Unterabschnitt des vierten Abschnitts des vierten Teils des ersten Buches des AktG nach nur auf die Einberufung der HauptversammlungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Einberufung
Einberufung der Hauptversammlung
Hauptversammlung
(§§ 121 bis 128 AktG) und nicht auch auf den dritten Unterabschnitt (§§ 129 bis 132 AktG), in dem das von § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG modifizierte Frage- und Auskunftsrecht des Aktionärs geregelt ist, und spricht auch die Gesetzesbegründung von Fristen „des Unterabschnittes des § 121 ff. AktG [sic]“ (vgl. BT-Drs. 16/11642, S. 28 rechte Spalte, vorletzter Absatz). Jedoch steht dies einer Anwendung des § 121 Abs. 7 AktG auf Rückwärtsfristen außerhalb des zweiten Unterabschnitts (§§ 121 bis 128 AktG), die an die Hauptversammlung anknüpfen, nicht entgegen. Denn schon seinem Wortlaut nach soll sich § 121 Abs. 7 AktG auf alle Fristen und Termine, „die von der Versammlung zurückberechnet werden“ beziehen; eine Einschränkung seines Anwendungsbereichs ist dem Wortlaut der Norm daher nicht zu entnehmen. Der systematischen Stellung des § 121 Abs. 7 AktG und der Gesetzesbegründung können bei der Auslegung des § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG auch deshalb keine ausschlaggebende Bedeutung zugemessen werden, da zum Zeitpunkt der Einführung eines einheitlichen Regimes für auf die Hauptversammlung bezogene Rückwärtsfristen durch das ARUG im Jahr 2009 das Auskunfts- und Fragerecht von den Aktionären gemäß § 131 AktG in der Hauptversammlung auszuüben war und deshalb insoweit ein Bedürfnis, die Berechnung einer derartigen Rückwärtsfrist auch im dritten Unterabschnitt zu regeln, gar nicht gegeben war. Schließlich ist auch davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bei Rückwärtsfristen, die auf die Hauptversammlung bezogen sind, nicht zwei unterschiedliche Fristberechnungsmethoden etablieren wollte: zum einen § 121 Abs. 7 AktG und zum anderen §§ 187 ff. BGB. Denn dafür gäbe es keinen sachlichen Grund. Darüber hinaus liegt ein einheitliches Rückwärtsfristenregime auch schon deshalb nahe, da nach § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG die Ausübung des Fragerechts nunmehr bereits im Vorfeld der Hauptversammlung und damit noch im Einberufungsstadium zu erfolgen hat, sodass die Rückwärtsfrist des § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG auch inhaltlich einen engen Bezug zum zweiten Unterabschnitt (§§ 121 bis 128 AktG) aufweist, der die Einberufung der HauptversammlungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Einberufung
Einberufung der Hauptversammlung
Hauptversammlung
zum Gegenstand hat.Randnummer128

Nach alledem ist die Fristenregelung des § 1 Abs. 2 S. 2 2. Hs. COVMG abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend § 121 Abs. 7 AktG auszulegen, sodass es zulässig war anzuordnen, dass Fragen bis zum Ablauf des 01.02.2022 einzureichen seien (ebenso LG Frankfurt/Main, Urteil vom 23.02.2021 – 3-05 O 64/20, Rdnr. 59 und Koch in ders., AktG, 16. Auflage, München 2022, Rdnr. 81 zu § 131 AktG und Poelzig in BeckOGKAktG, Stand 01.07.2023, Rdnr. 299 zu § 131 AktG).Randnummer129

c. aa. Die fehlende Zweiwegekommunikation bei der Durchführung der virtuellen Hauptversammlung vom 03.02.2022 stellt keinen Rechtsverstoß dar, da das COVMG eine solche Zweiwegekommunikation in seinem § 1 Abs. 2 S. 1 nicht zwingend vorsieht. Vorgeschrieben ist dort nämlich nur eine „Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung“, die Möglichkeit zur Stimmrechtsausübung sowie die Ausübung des Fragerechts (letzteres allerdings nur unter den zusätzlichen Einschränkungsmöglichkeiten des § 1 Abs.2 S. 2 COVMG) im Wege elektronischer Kommunikation. Von einer darüber hinausgehenden Möglichkeit der Aktionäre, durch eine Zweiwegekommunikation „life“ an der virtuellen Hauptversammlung teilzunehmen und sich dort durch Wortmeldungen einzubringen, ist in § 1 COVMG daher entgegen der Ansicht der Klägerin zu 1) gerade nicht die Rede. Auch aus der von der Klägerin zu 1) in Bezug genommenen Begründung des aktuellen Gesetzentwurfs zur virtuellen Hauptversammlung, nach dem nunmehr eine Zweiwegekommunikation zumindest für das Rederecht der Aktionäre notwendigerweise vorzusehen sei, folgt nicht, dass dies bereits für das COVMG gilt. Vielmehr legen die Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drs. 20/1738, S. 2) und die Formulierung des § 118a Abs. 1 S. 3 Nr. 7 Entwurf-AktG (“Rederecht in der Versammlung im Wege der Videokommunikation“) und § 130a Abs. 5 Entwurf-AktG den – sich schon aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 S. 1 COVMG ergebenden – gegenteiligen Schluss nahe, dass eine solche Zweiwegekommunikation nach dem COVMG eben gerade nicht zwingend vorgeschrieben war.Randnummer130

bb. Dass die Möglichkeit, eine Hauptversammlung auch ohne Zweiwegekommunikation durchzuführen, während der Pandemiesituation auch am Maßstab des Art. 14 Abs. 1 GG gemessen nicht zu beanstanden war, hat der Senat bereits entschieden (Beschluss vom 28.07.2021 – 7 AktG 4/21, Rdnr. 90). Daran ist aus den dort genannten Gründen festzuhalten.Randnummer131

Da – wie oben dargelegt – eine Zweiwegekommunikation im COVMG nicht vorgeschrieben ist, war die Entscheidung des Vorstands, bei der Durchführung der Hauptversammlung, eine Zwei-Wege-Kommunikation nicht vorzusehen, mangels besonderer Umstände auch entgegen der Ansicht der Kläger (vgl. Berufungsbegründung der Klägerin zu 1), S. 6 Mitte, Bl. 32 d. eA) nicht ermessensfehlerhaft. Die bloße technische Möglichkeit, eine Zweiwegekommunikation einzurichten, verpflichtet die Gesellschaft nicht, dies ohne diesbezügliche gesetzliche Verpflichtung auch zu tun.Randnummer132

d. Der Beschluss zu Top 1 ist auch nicht deshalb fehlerhaft, weil der gemeinsame Bericht der Geschäftsführung der V. B GmbH und des Vorstands der Beklagten zu dem von den beiden geschlossenen Beherrschungs- und GewinnabführungsvertragBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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Gewinnabführungsvertrag
nicht den Anforderungen des § 293a Abs. 2 AktG entsprechen würde.Randnummer133

Gemäß § 293a Abs. 2 AktG hat der Vorstand der Gesellschaft „einen ausführlichen schriftlichen Bericht zu erstatten, in dem der Abschluss des Unternehmensvertrags, der Vertrag im einzelnen und insbesondere Art und Höhe des Ausgleichs nach § 304 (AktG) und der Abfindung nach § 305 (AktG) rechtlich und wirtschaftlich erläutert und begründet werden“ muss. Zweck eines solchen Berichts ist es, den Aktionären eine geeignete Entscheidungsgrundlage für ihr Abstimmungsverhalten zu bieten (Veil/Walla in BeckOGKAktG, Stand 01.07.2023, Rdnr. 13 zu § 293a AktG).Randnummer134

Der – von den Klägern behauptete – Stimmrechtsausschluss der V. B GmbH und ihrer Muttergesellschafter in der Hauptversammlung vom 03.02.2022, in der über den Beherrschungs- und GewinnabführungsvertragBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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Gewinnabführungsvertrag
beschlossen werden soll, berührt keinen der in § 293a Abs. 2 AktG aufgeführten notwendigen Berichtsinhalte und war deshalb auch nicht in den Bericht aufzunehmen. Ein etwaiger Stimmrechtsausschluss ist nämlich nicht Inhalt des Vertrages und betrifft weder Art und Höhe des Ausgleichs noch die Abfindung. Er hat auch ebenso wenig Bezug zur Bonität des herrschenden Unternehmens, die für den Aktionär hinsichtlich seines Stimmverhaltens von Bedeutung ist (vgl. insoweit Senat, Urteil vom 19.11.2008 – 7 U 2405/08, Rdnr. 53), wie zur aktuellen wirtschaftlichen Lage der beteiligten Unternehmen, gegebenenfalls auch bedeutsamen Rahmenbedingungen für den Vertragsabschluss wie aktuellen Wechselkursen, Aktienkursen der Beteiligten Unternehmen und sonstigen relevanten Wirtschaftsentwicklungen (Senat, Urteil vom 06.08.2008 – 7 U 3905/06, Rdnr. 155).Randnummer135

e. Die V. B GmbH war bei der Beschlussfassung über den streitgegenständlichen Beschluss am 03.02.2022 auch nicht ihrer Stimmrechte gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 und 3 WpHG verlustig. Dabei kann offenbleiben, ob die V. B GmbH ihre Mitteilungspflichten nach § 33 Abs. 1 WpHG vor dem 30.12.2021 nicht erfüllt hat. Denn ab dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Delistings der Beklagten mit Ablauf des 30.12.2021 galten bezüglich der Beklagten nur noch die Mitteilungspflichten des § 20 Abs. 1 bis 6 AktG und bestimmten sich die Folgen eines Verstoßes gegen die Mitteilungspflichten des § 20 AktG nur noch nach § 20 Abs. 7 AktG. Denn wie sich der Regelung des § 20 Abs. 8 AktG entnehmen lässt, wollte der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 20 AktG durch Art. 15 Nr. 1 b des Gesetzes vom 24.03.1998, BGBl. I 1998, S. 529 (drittes Finanzmarktförderungsgesetz), doppelte Publizitätspflichten der Gesellschaften vermeiden und erreichen, dass börsennotierte Gesellschaften ausschließlich den Mitteilungspflichten des WpHG unterworfen sind, während sich die Mitteilungspflichten bei nicht börsennotierten Gesellschaften alleine nach dem AktG richten sollten (vgl. BT-Drs. 13/8933, S. 147 rechte Spalte und S. 148 linke Spalte, vgl. auch Koch in ders. AktG, 17. Auflage, München 2023, Rdnr. 19 zu § 20 AktG). Diese strikte Trennung kommt auch in § 1 Abs. 1 Nr. 7 WpHG zum Ausdruck, wonach das WpHG Regelungen „in Bezug auf (…) die Veränderungen der Stimmrechtsanteile an börsennotierten Gesellschaften“ enthält. Die Mitteilungspflichten nach dem WpHG einerseits und diejenigen nach dem AktG stehen daher in einem Exklusivitäts- bzw. Alternativitätsverhältnis (vgl. Petersen in BeckOGKAktG, Stand 01.07.2023, Rdnr. 15 zu § 20 AktG).Randnummer136

Mit einer solchen Unterscheidung der Publizitätsregime wäre es nicht nur unvereinbar, wenn trotz mittlerweile erfolgten Wegfalls der Börsennotierung der Gesellschaft Sanktionen für die zuvor (unterstellt) erfolgte Verletzung von Mitteilungspflichten in der Zeit der Börsennotierung auch nach deren Wegfall weiterbestünden. Vielmehr würde es für eine solche vom Kläger zu 2) angenommene nachwirkende Sanktionierung über den 30.12.2021 hinaus nach § 44 Abs. 1 S. 1 und 3 WpHG auch an einer gesetzlichen Grundlage fehlen, da § 44 Abs. 1 S. 1 und 3 WpHG auf die Verletzung von Mitteilungspflichten nach § 33 Abs. 1 S. 1 WpHG Bezug nimmt, die aber gemäß § 33 Abs. 4 WpHG mangels Börsennotierung der Beklagten seit dem 31.12.2021 gar nicht mehr bestanden (vgl. Petersen in BeckOGKAktG, Stand 01.07.2023, Rdnr. 210 zu § 22 AktG).Randnummer137

Zwar ist richtig, dass es demnach möglich wäre, dass ein Aktionär einer zunächst noch börsennotierten Gesellschaft Stimmrechtsmeldungen unterlässt, sich „klammheimlich“ eine 75%-Mehrheit verschafft und sodann nach mittlerweile erfolgtem Delisting der Gesellschaft im Vorfeld einer Hauptversammlung eine Mitteilung nach § 20 Abs. 1 – 6 AktG macht, ohne wegen der zunächst unterbliebenen Mitteilungen einen Stimmrechtsverlust in der Hauptversammlung befürchten zu müssen. Der Gesetzgeber hat jedoch bei Aufnahme des sechsmonatigen nachwirkenden Rechteverlusts in den Sanktionskatalog des § 28 Abs. 1 S. 3 WpHG a.F., der dem nunmehr geltenden § 44 Abs. 1 S. 3 WpHG entspricht, durch das Gesetz vom 12.08.2008, BGBl. I 2008, S.1666 (Risikobegrenzungsgesetz), diese Gefahr des unbemerkten „Anschleichens“ eines Investors vor einer Hauptversammlung erkannt und damit auch ausdrücklich die Regelung des § 28 Abs. 1 S. 3 WpHG a.F. begründet (vgl. die Gesetzesbegründung BT-Drs. 16/7438, S. 16). Diese Einführung des nachwirkenden Rechteverlusts erfolgte jedoch zeitlich weit nach der oben dargelegten scharfen Trennung der Mitteilungsregime bei börsennotierten Gesellschaften einerseits und bei nicht börsennotierten Gesellschaften andererseits im Jahr 1998. Wenn der Gesetzgeber daher zehn Jahre nach der expliziten Trennung der beiden Mitteilungsregime bezüglich eines der beiden Bereiche aufgrund einer von ihm gesehenen Missbrauchsgefahr eine schärfere Sanktion (nachwirkender Rechteverlust) neu einführt, dies jedoch hinsichtlich des anderen Bereichs unterlässt, so ist davon auszugehen, dass es sich dabei um eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung handelt, die nicht durch eine erweiternde Auslegung des § 44 Abs. 1 S. 3 WpHG oder gar durch eine Analogie korrigiert werden kann.Randnummer138

Nach alledem war die V. B GmbH durch einen (unterstellten) Verstoß gegen eine Mitteilungspflicht nach § 33 Abs. 1 WpHG nicht gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 und 3 WpHG gehindert, ihre Stimmrechte in der Hauptversammlung vom 03.02.2022 auszuüben (gegen einen nachwirkenden Rechteverlust nach Wegfall der Börsennotierung auch Petersen in BeckOGKAktG, Stand 01.07.2023, Rdnr. 210 zu § 22 AktG, Bayer in Münchener Kommentar zum AktG, 5. Auflage, München 2019, Rdnr, 74 zu § 44 WpHG, Schürnbrand/Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 10. Auflage, München 2022, Rdnr. 20 zu § 44 WpHG und Zimmermann in Fuchs, Wertpapierhandelsgesetz, 2. Auflage, München 2016, Rdnr. 23 zu § 28 WpHG a.F.).Randnummer139

Dass bei der Hauptversammlung vom 03.02.2022 ein Stimmrechtsausschluss der V. B GmbH nach § 20 Abs. 7 AktG bestanden hätte, haben die Kläger in Anbetracht der Bekanntmachung vom 25.01.2022 laut Anl. B 5 schon nicht einmal behauptet.Randnummer140

f. aa. Es ist auch nicht ersichtlich, warum die V. B GmbH mit den von der A. O. SICAV-FIS SCS (1.136.301) sowie von verschiedenen Vorstandsmitgliedern der Beklagten (13.018, dazu vgl. die unstreitige Aufschlüsselung im Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 13.04.2022, S. 7 und 8, Bl. 37 und 38 d.A. und Anl. B 11) erworbenen Aktien bei der Abstimmung zu Top 1 aufgrund der von der V. B GmbH und deren Muttergesellschaftern diesen Veräußerern angebotenen Rückbeteiligungen an einer der Muttergesellschaften ausgeschlossen gewesen sein sollte. Eine Unwirksamkeit des Verkaufs der Aktien durch die A. O. SICAV-FIS SCS und die Vorstandsmitglieder der Beklagten an die V. B GmbH haben die Kläger nicht einmal behauptet. Der Senat vermag deshalb auch nicht zu erkennen, warum durch die Rückbeteiligungen der Veräußerer das 75-Prozentmehrheitserfordernis des § 293 Abs. 1 S. 2 AktG umgangen worden sein soll.Randnummer141

Ergänzend wird insoweit auf die zutreffenden diesbezüglichen Ausführungen des Landgerichts in den Entscheidungsgründen seines Urteils unter Punkt I 5 b (LGU S. 15 – 17) Bezug genommen.Randnummer142

bb. Im Übrigen hat die auf dieses Vorbringen der Kläger gestützte Anfechtungsklage insoweit schon deshalb keine Aussicht auf Erfolg, da selbst, wenn man die von der gewährten Rückbeteiligung „betroffenen“ 1.149.319 Aktien (1.136.301 + 13.018) bei der Ermittlung des Abstimmungsergebnisses unberücksichtigt ließe, immer noch eine nach § 293 Abs. 1 S. 2 AktG hinreichende Mehrheit von 85,2 % erreicht wäre (7.705.414 Ja-Stimmen bei 9.040.160 abgegebenen Stimmen), sodass eine Relevanz des behaupteten Beschlussmangels nicht gegeben wäre.Randnummer143

2. Auch die Anfechtung der Beschlüsse zu den Top 3.1, 3.2, 3.3 und 3.4 bleibt ohne Erfolg, da auch insoweit eine Rechtsverletzung nicht vorliegt. Insoweit gilt das oben unter 1 a – c und e bis f aa Dargelegte entsprechend.Randnummer144

In Bezug auf die von den Klägern behauptete Rechtsverletzung wegen der von der V. B GmbH der A. O. SICAV-FIS SCS (1.136.301) sowie verschiedenen Vorstandsmitgliedern der Beklagten (13.018) angebotenen Rückbeteiligungen an einer der Muttergesellschaften der V. B GmbH fehlt es auch hinsichtlich der Beschlüsse zu den Top 3.1, 3.2, 3.3 und 3.4 an einer Relevanz des behaupteten Beschlussmangels. Denn selbst wenn die von der Rückbeteiligung betroffenen 1.149.319 Aktien (1.136.301 + 13.018 Aktien) nicht zu berücksichtigen wären, wären die Beschlüsse mit der erforderlichen Mehrheit gefasst worden.

II.

In Ermangelung eines Gesetzesverstoßes waren auch die hilfsweise erhobene Nichtigkeitsklage sowie die höchst hilfsweise erhobene Feststellungsklage unbegründet.Randnummer146

Nach alledem hat das Landgericht die Klage zu Recht abgewiesen und sind die Berufungen der Kläger unbegründet.

C.Randnummer147

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO, da die Kläger mit ihren Rechtsmitteln zur Gänze ohne Erfolg blieben.Randnummer148

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.Randnummer149

Die Revision war nicht zuzulassen, da ein Revisionsgrund nicht vorliegt. Der Senat weicht von keiner Entscheidung des BGH oder eines Oberlandesgerichts ab. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist nicht erkenntlich. Es handelt sich um einen Einzelfall.

Schlagworte: AktG § 125, AktG § 134, AktG § 243, Aktionärsrechterichtlinie, Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag, Einberufung der Hauptversammlung, Einberufungsform, Einberufungsinhalt, Hauptversammlungsbeschlüsse, Nichtzulassungsbeschwerde, Richtlinienkonforme Auslegung, Sofortige Vollziehbarkeit, Verstoß gegen Gesetz oder Satzung nach § 243 Abs. 1 AktG analog, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Zustellung demnächst

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OLG München, Beschluss vom 11.10.2023 – 7 U 3195/22

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Ausschluss GesellschafterBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Ausschluss
Ausschluss Gesellschafter
Gesellschafter
I wichtiger Grund

§ 9 Abs. 1 PartGG, § 140 Abs. 1 Satz 1, § 133 HGB

Tenor

1. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 29.04.2022, Aktenzeichen 10 O 7629/21, wird zurückgewiesen.

2. Die Kläger haben die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts München I sowie dieser Beschluss sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 10.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Parteien sind Rechtsanwälte und PartnerBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Partner
und Partner
einer Rechtsanwaltskanzlei in der Rechtsform der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung. Die Kläger verlangen die Feststellung, dass der Beklagte durch Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 23.10.2019 wirksam aus der Partnerschaft ausgeschlossen worden und zur Mitwirkung der Anmeldung seines Ausscheidens aus der Partnerschaft im Partnerschaftsregister verpflichtet sei.

2

Zwischen den Parteien besteht der am 19.01.2016 geschlossene Partnerschaftsvertrag (Anlage K 1). Ausweislich dieses Vertrages (Ziff. I.3 und 4) sind alle Vertragsparteien verpflichtet, der Sozietät (nach Maßgabe der weiteren vertraglichen Regelungen) ihre gesamte Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Es ist untersagt, auf eigene Rechnung Geschäfte zu betreiben und abzuschließen oder der Sozietät auf andere Weise Konkurrenz zu machen. Die Gesellschaft ist durch ordentliche Kündigung mit einer Frist von sechs Monaten zum Jahresende ordentlich kündbar (ZIff. IIIl.2.); die Kündigung bedarf der Schriftform und hat gegenüber den anderen Gesellschaftern durch eingeschriebenen Brief oder gegen Empfangsbekenntnis zu erfolgen (Ziff. III.3) Im Falle des Ausscheidens eines Gesellschafters wird die Sozietät durch die verbleibenden Gesellschafter fortgesetzt (Ziff. III.4). Die Führung der Geschäfte und die Vertretung steht den Gesellschaftern gemeinschaftlich zu. Anderes gilt zur Erledigung laufender Geschäfte, sofern die Gesellschaft nicht mit einem höheren Betrag als 5.000 € pro Einzelfall verpflichtet oder eine Dauerverbindlichkeit begründet wird. Diese Ermächtigung gilt ohne betragsmäßige Beschränkung für diejenigen Kosten, die im Zusammenhang mit einem Mandat anfallen und dem Mandanten in Rechnung gestellt werden können (Ziff. IV.1 und 2). In Gesellschafterversammlungen können sich Gesellschafter durch andere Gesellschafter mit schriftlicher Vollmacht vertreten lassen (Ziff. VI.4). Zum Ausscheiden ist geregelt:

„XII. Ausscheiden

Ein Sozius scheidet aus der Gesellschaft aus

– durch ordentliche Kündigung;

– durch Kündigung aus wichtigem Grund;

– durch Ausschließung,

die in entsprechender Anwendung der §§ 133, 140 HGB einstimmig beschlossen werden kann, wobei der betreffende Sozius nicht stimmberechtigt ist. Ausschließungsgründe sind insbesondere auch Arbeitsunfähigkeit […], bestandskräftiger Entzug der Anwaltszulassung und Pfändung des Gesellschaftsanteils des jeweiligen Sozius durch einen Gläubiger oder sonstiger Vermögensverfall; der Ausschuss ist sofort wirksam, auch wenn noch keine Einigkeit über die Art bzw. Höhe der Abfindung erzielt worden ist […]“

3

Hinsichtlich der Ausscheidungsfolgen ist geregelt, dass sich der Abfindungsanspruch des Gesellschafters auf den Gewinnanteil für das laufende Geschäftsjahr bis zum Tag des Ausscheidens sowie den seiner Gewinn- und Verlustbeteiligung entsprechenden Anteil an dem sonstigen Betriebsvermögen der Sozietät zum Zeitpunkt des Ausscheidens beschränkt; ein Kanzleiwert oder „good will“ wird nicht in Ansatz gebracht. Im Grundsatz darf der ausscheidende Gesellschafter Mandate unter Beachtung der berufsrechtlichen Regelungen mitnehmen. Letzteres gilt im Falle eines Ausschlusses nicht. Zu näheren Einzelheiten wird auf Ziff. XIII.2 des Vertrages Bezug genommen.

4

Spätestens im April 2019 war das wechselseitige Vertrauen vollständig verloren gegangen. Die Kläger erklärten mit Schreiben vom 15.05.2019 dem Beklagten gegenüber ihre ordentliche Kündigung des Sozietätsvertrages (Anlagen B 20 und B 21). Sie nahmen in der Folge jedoch den Standpunkt ein, die Kündigung sei noch nicht wirksam, weil sich die Kläger die Kündigung nicht wechselseitig erklärt hätten (Schreiben ihres anwaltlichen Vertreters vom 03.06.2019, Anlage B 22, S. 2f.). Mit Schreiben ihres Vertreters vom 26.07.2019 bestätigten sie – nach entsprechender Aufforderung durch den Beklagten – die Wirksamkeit der erklärten Kündigung (Anlage B 28).

5

Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 03.09.2019 mahnten die Kläger den Beklagten ab: Der Beklagte habe die Pflicht verletzt, seine gesamte Arbeitskraft der Sozietät zur Verfügung zu stellen. Zudem verletze er das Konkurrenzverbot gemäß Ziffer 1.4. des Sozietätsvertrages. Damit gehe ein Verstoß gegen Ziff. VII. 1. des Sozietätsvertrages einher, wonach sämtliche Einkünfte aus der Berufstätigkeit der Partner der Sozietät zufließen. Dies ergebe sich daraus, dass der Beklagte Nachlasspflegschaften übernommen habe, die nicht als Mandat der Partnerschaft geführt würden. Zudem bediene sich der Beklagte zur Durchführung dieser Mandate der Mitarbeit der Herren B. und Be. Herr B. verfüge über einen zweifelhaften Ruf, wovon ein S.-Artikel vom 12.05.1997 zu dubiosen Grundstücksmauscheleien Bände spreche. Die Kläger sprachen eine Abmahnung aus und forderten binnen einer Frist bis zum 13.09.2019 Informationen zu den Nachlassverfahren, Auskunft zu Kostenrechnungen, Überführung der Mandate in die Partnerschaft, Beendigung der Kooperation mit den Herren B. und Be. sowie die Erklärung, für etwaige Schäden hieraus, die die Berufshaftpflicht nicht decke, einzustehen. Bei Nichterfüllung behielten sich die Kläger sämtliche Maßnahmen und rechtlichen Schritte vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Inhalts des Schreibens vom 03.09.2019 wird auf Anlage K 2 Bezug genommen.

6

Mit Schreiben vom 08.10.2019 (Anlage K18) lud der Kläger zu 1) zu einer Gesellschafterversammlung am 16.10.2019 – nachdem bereits am 12.08.2019 und am 10.09.2019 Versammlungen zu anderen Themen stattgefunden hatten – ein, bei der unter anderem der Ausschluss des Beklagten aus der Sozietät auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Im Beschlussprotokoll (Anlage K 20) zu dieser Gesellschafterversammlung ist unter anderem vermerkt: „Es wird über den Abschluss einer Ausscheidensvereinbarung diskutiert. Die Parteien sind bestrebt eine Vereinbarung zu treffen, wonach Herr Dr. L. rückwirkend zum 30.09.19 aus der Partnerschaft ausscheidet. Da eine abschließende Vereinbarung nicht zustande gekommen ist, fassen die Partner einstimmig folgenden Beschluss“. Die Versammlung wurde unter Beibehaltung der Tagesordnung auf den 23.10.2019 vertagt, die Kontensperrung aufgehoben, der VPN-Zugang freigeschaltet. Ferner wurde beschlossen, dass der Beklagte die Kanzleiräume nicht ohne vorherige Terminvereinbarung betreten werde. Eine solche Vereinbarung sei insbesondere für die Abholung persönlicher Gegenstände und der vom Beklagten zu bearbeitenden Akten erforderlich. Der Beklagte übergebe den Kanzleischlüssel. Die Gesellschafter seien bestrebt, auf der Basis der heute besprochenen Punkte eine Einigung über eine Ausscheidensvereinbarung zu erzielen. Zum Wortlaut wird auf die Anlage Bezug genommen. In der Folge wurden Entwürfe einer Ausscheidens- und Abfindungsvereinbarung ausgetauscht (vgl. Anlage K 21 f.). In der Präambel wird ausgeführt, dass beabsichtigt sei, dass der Beklagte zum 30.09.2019 aus der Sozietät ausscheide. Unter Ziff. 1.1 wird geregelt, dass Rechtsanwalt Dr. L. rückwirkend zum 30.09.2019 aus der Gesellschaft ausscheidet.

7

In der Partnerversammlung am 23.10.2019, bei der sich die Klägerin zu 2) vom Kläger zu 1) aufgrund schriftlicher Vollmacht vertreten ließ, wurde mit den Stimmen der Kläger der Beschluss gefasst, den Beklagten aus Partnerschaft auszuschließen (Beschlussprotokoll vom 23.10.2019, Anläge K 23). Dem Beklagten wurde – abweichend vom Gesellschaftsvertrag – eine Mandatsmitnahme gestattet.

8

Der Beklagte kündigte über seinen anwaltlichen Vertreter mit E-Mail vom 06.11.2019 die Anfechtung der Beschlüsse an (Anlage K 25). Am 09.12.2019 fassten die Kläger den Beschluss, ihre Kündigungserklärungen zurückzunehmen und die Gesellschaft fortzusetzen (Anlage K 29). Gegenüber dem Registergericht machte der Beklagte am 17.03.2020 (Anlage B 47) geltend, dass seine Ausschließung unwirksam sei und die Gesellschaft bereits aufgrund Kündigungen der Kläger mit Wirkung zum 31.12.2019 aufgelöst worden sei. Mit Beschlüssen vom 29.04.2021 (Anlage K 31) und vom 30.04.2021 (Anlage K 32) hob das Registergericht die Androhung der Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen den Beklagten auf den Einspruch des Beklagten auf und setzte den Klägern eine Frist zur Erhebung der Wirksamkeitsfeststellungsklage.

9

Die Kläger behaupten, dass der Beklagte folgende Pflichten aus dem Partnerschaftsvertrag verletzt habe (Ausschließungsgründe):

10

Aufgrund eines Postrückläufers am 01.07.2019 (Anlage K 3) in einer Nachlassangelegenheit habe ermittelt werden können, dass das Schreiben nicht in der Kanzlei und auf veraltetem Briefbogenpapier erstellt worden sei. Für eine Nachlasspflegschaft habe der Beklagte ebenfalls keine Akte angelegt, wie aufgrund eines Schreibens der Landeshauptstadt M. (Anlage K 4) bekannt geworden sei. Zudem habe der Beklagte die von ihm ohne Kenntnis der Partnerschaft angenommenen Nachlassangelegenheiten („Schattenmandate“) gar nicht selbst bearbeitet; vielmehr habe sich der Beklagte der Herren B. und Be. bedient, wobei Herr B. auch Schriftsätze erstellt habe, die der Beklagte anschließend lediglich unterzeichnete. Ein Schreiben vom 19.03.2019 (Anlage K 10) belege, dass der Beklagte in einer Nachlasssache eine Erbenermittlung M. GmbH & Co. KGBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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GmbH & Co. KG
GmbH & Co. KG
KG
mit der Erbenermittlung beauftragt und bevollmächtigt habe. Auffällig sei u.a. das fehlende Aktenzeichnen. Erkundigungen über Herrn B. hätten ergeben, dass dieser in den 90er Jahren zumindest in Verdacht gestanden habe, sich als Nachlasspfleger aus der Erbmasse bereichert und sich damit wegen Untreue strafbar gemacht zu haben (S.-Artikel vom 11.05.1997, Anlage K 11). Ob Herr B. überhaupt (noch) eine Anwaltszulassung habe, sei den Klägern nicht bekannt. Aufgrund einer Besprechung mit dem leitenden Richter am Nachlassgericht des Amtsgerichts München am 24.07.2019 sei in Erfahrung gebracht worden, dass die von dem Beklagten angenommenen Nachlassangelegenheiten „T.“ und „R.“ nicht in der Kanzlei der Partnerschaft verzeichnet gewesen seien; es seien vom Beklagten seit 01.01.2019 lediglich vier Akten in Nachlasspflegschaften angelegt worden. In der Nachlassangelegenheit Sch. sei zwar eine Akte angelegt gewesen, die Korrespondenz hierzu sei aber ebenfalls ersichtlich nicht in der Kanzlei erstellt worden.

11

Der Beklagte habe sein Büro in der Kanzlei bereits am Wochenende 12./13.10.2019 geräumt und am 16.10.2019 freiwillig die Kanzleischlüssel zurückgegeben. Die Ausschließung sei faktisch bereits vollzogen worden. Der Beklagte habe sich zu Unrecht geweigert, an der Änderung des Partnerschaftsregisters, d.h. seiner Austragung als Partner, mitzuwirken.

12

Der Ausschließungsbeschluss sei formell und materiell wirksam. Der nachfolgende Klageantrag zu II. sei unabhängig von der Entscheidung über den Klageantrag zu l. begründet, weil der Beklagte das von ihm behauptete Recht, sich auf die Unwirksamkeit seiner Ausschließung zu berufen, längst verwirkt habe. Zwar sehe weder das Gesetz noch der Sozietätsvertrag eine Frist vor, um die etwaige Unrichtigkeit der Ausschließung überprüfen lassen zu können. Allerdings müsse ein etwaiger Beschlussmangel innerhalb einer angemessenen Frist geltend gemacht werden, da ansonsten Verwirkung eintrete.

13

Die Kläger haben in erster Instanz beantragt,

1. Es wird festgestellt, dass der Beklagte mit Gesellschafterbeschluss vom 23.10.2019 wirksam aus der Partnerschaft PMP P. M. Partner (AG München, PR 614) ausgeschlossen worden ist.

2. Zudem wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, an der Anmeldung seines Ausscheidens als Partner von PMP P. M. Partner (AG München, PR 614) im Partnerschaftsregister mitzuwirken.

14

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

15

Der Beklagte behauptet, der Vorwurf der Kläger, er habe „Schattenmandate“ geführt, sei falsch und haltlos. Es spiele auch keine Rolle, wenn Herr B. im Sinne einer Dienstleistung Schriftsatzentwürfe für den Beklagten gefertigt hätte und Herr B. nicht als Rechtsanwalt zugelassen sei. Es habe sich nämlich ausschließlich um Entwürfe von Schriftsätzen gehandelt, die der Beklagte selbstverständlich ausnahmslos in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht geprüft habe. Für die Schriftsätze habe der Beklagte die volle anwaltliche Verantwortung übernommen. Zudem habe es sich um Schreiben einfacher Art gehandelt, nicht um juristische Schriftsätze gehandelt. Dies sei rechtskonform gewesen. Die Kooperation mit Herrn B. sei im Übrigen unter Einbindung des damaligen Mitgesellschafters M. von Rechtsanwalt Dr. Te. übernommen worden. In der Gesellschafterversammlung vom 10.09.2019 habe der Beklagte zu den Vorwürfen mündlich Auskunft erteilt.

16

Der Beklagte ist der Ansicht, dass der Ausschließungsbeschluss vom 23.10.2019 schon aus formellen Gründen unwirksam sei. Der Beklagte ist zudem der Auffassung, dass etwaige Ausschließungsgründe durch die Abmahnung verbraucht seien, da die Kläger für die Zeit zwischen der Abmahnung am 03.09.2019 und dem Ausschließungsbeschluss am 23.10.2019 zu weiteren Verstößen gegen den Sozietätsvertrag nichts vorgetragen haben.

17

Die Kläger sind demgegenüber der Ansicht, dass es sich im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Herrn B. um ein Dauerdelikt gehandelt habe. Der Beklagte habe nach Abmahnung nichts getan, um die Umstände dieser Kooperation und die Fragen der Kläger hierzu aufklären. Zudem habe der Beklagte vorab die Zustimmung aller damaligen Partner zu dieser Kooperation einholen müssen, jedenfalls die Partner darüber informieren müssen. Zudem habe er juristische Tätigkeiten selbst ausüben müssen, wie sich aus einem Erst-Recht-Schluss aus Ziffern 1.1 und 1.3 des Partnerschaftsvertrages ergebe. Ferner seien hierdurch die partnerschaftlichen Regeln über die Zusammenarbeit mit angestellten oder freiberuflichen juristischen Mitarbeitern verletzt worden, da hierüber gemäß Ziffer IV. 1 und IV.2 des Partnerschaftsvertrages die Partner gemeinschaftlich entscheiden müssten.

18

Das Landgericht hat die Klage mit Endurteil vom 29.04.2022, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe ergänzend Bezug genommen wird (§ 540 Abs. 1 ZPO), abgewiesen. Der Ausschließungsbeschluss sei unwirksam, weil die von den Klägern geltend gemachten Ausschließungsgründe dem Beklagten bereits im Abmahnschreiben vom 03.09.2019 vorgehalten worden seien und daher nicht zugleich der Kündigung zugrunde gelegt werden könnten. Auch die Kooperation mit Herrn B. begründe keinen wichtigen Grund für den Ausschluss des Beklagten. Schließlich habe der Beklagte sein Recht, sich auf die Unwirksamkeit der Ausschließung zu berufen, nicht verwirkt.

19

Hiergegen richtet sich die Berufung der Kläger, mit der sie ihr erstinstanzliches Rechtsschutzziel unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vortrags weiterverfolgen.

20

Sie beantragen in der Berufung (Berufungsbegründung, S. 2, Bl. 195 d.A.):

Auf die Berufung der Kläger wird das am 29.04.2022 verkündete Endurteil des Landgerichts München l, Az.: 10 O 7629/21, aufgehoben und wie folgt abgeändert:

1. Es wird festgestellt, dass der Beklagte mit Gesellschafterbeschluss vom 23.10.2019 wirksam aus der Partnerschaft PMP P. M. Partner (AG München, PR 614) ausgeschlossen worden ist.

2. Zudem wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, an der Anmeldung seines Ausscheidens als Partner von PMP P. M. Partner (AG München, PR 614) im Partnerschaftsregister mitzuwirken.

21

Mit Schriftsatz vom 24.08.2023, S. 22, Bl. 316 d.A., erweiterten die Kläger ihre Anträge um folgenden Hilfsantrag:

Hilfsweise:

1. a) Es wird festgestellt, dass der Beklagte aus und im Zusammenhang mit den Gesellschafterbeschlüssen vom 16.10.2019 wirksam aus der Partnerschaft PMP P. M. Partner (AG München, PR 614) ausgeschieden ist.

22

Der Beklagte beantragt (Berufungserwiderung vom 30.12.2022, S. 2, Bl. 229 d.A.)

die Berufung zu verwerfen, hilfsweise nach § 522 Abs. 2 ZPO, hilfsweise nach mündlicher Verhandlung zurückzuweisen.

23

Der Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

II.

Die zulässige Berufung der Kläger ist durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, da sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung aufweist – es handelt sich um eine Bewertung des Vorliegens eines wichtigen Grundes für den Ausschluss eines Partners aus einer Rechtsanwaltssozietät in einem von Besonderheiten geprägten Einzelfall – und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts aufgrund mündlicher Verhandlung erfordern.

25

In der Sache wird auf den Hinweis des Senats vom 19.06.2023 Bezug genommen. Aus den dort näher ausgeführten Gründen, in denen auch und insbesondere auf das Berufungsvorbringen der Kläger im Einzelnen eingegangen wird, sieht der Senat die Berufung als nicht begründet an. Den Berufungsführern wurde Gelegenheit zur Äußerung auf die Hinweise bis 24.08.2023 gegeben; eine Stellungnahme erfolgte mit Schriftsatz vom 24.08.2023. Die hierin erhobenen Einwände der Kläger geben zu keiner von der im Hinweis geäußerten Rechtsansicht abweichenden Beurteilung Anlass. Ergänzend ist Folgendes anzumerken:

26

1. Der Ausschluss eines Gesellschafters bedarf eines wichtigen Grundes, vgl. Ziff. XII des Vertrages, § 9 Abs. 1 PartGG, § 140 Abs. 1 Satz 1, § 133 HGB. Der wichtige Grund ist im HGB nicht abschließend definiert; es besteht Einigkeit, dass für die Konkretisierung § 314 Abs. 1 Satz 2 BGB herangezogen werden kann. Danach kommt es darauf an, ob den Klägern der Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann (vgl. Lehmann-Richter in BeckOK HGB, § 133 Rn. 15 [Stand: 15.01.2023]; Lorz in Ebenroth/Boujong/jhoost/Strohn, HGB, 4. Aufl., § 133 Rn. 1; Roth in Hopt, HGB, 42. Aufl., § 133 Rn. 5). Diese Wertung beansprucht erst recht Geltung, wenn die Kläger selbst bereits die Kündigung erklärt haben und damit die Frist zur Beendigung der Gesellschaftsbeteiligung bereits läuft.

27

Es besteht kein Anlass, in gesellschaftsrechtlichen Fällen von diesem – im allgemeinen Schuldrecht kodifizierten und damit auch im Gesellschaftsrecht anwendbaren – Grundsatz abzuweichen. Nicht nur im Handelsvertreterrecht, auch im Gesellschaftsrecht beanspruchen die folgenden Ausführungen des BGH (Urteil vom 16. Februar 2000 – VIII ZR 134/99, juris-Rn. 33f.) Gültigkeit: Nicht die Zukunft des Unternehmens, sondern die Dauer der Bindung an den Vertrag, die der durch den wichtigen Grund betroffene Teil ohne die Möglichkeit der außerordentlichen Kündigung noch durchstehen müsste, ist das für die Frage der Zumutbarkeit und damit für das Vorliegen eines wichtigen Grundes mitentscheidende Kriterium. Unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit der Fortsetzung des Vertragsverhältnisses sind daher an die Intensität der Vertragsstörung um so höhere Anforderungen zu stellen sind, je kürzer die Frist bemessen ist, innerhalb derer das Vertragsverhältnis abläuft oder durch ordentliche Kündigung beendet werden kann. Im Handelsvertreterrecht nimmt der BGH folgerichtig in Kauf, dass der Unternehmer – wenn er allein wegen einer nur noch geringen Vertragslaufzeit an einer außerordentlichen Kündigung gehindert ist – den Handelsvertreterausgleich schuldet (vgl. § 89b Abs. 3 Nr. 2 HGB). Nachteile durch eine nur noch kurze Vertragsrestlaufzeit sind somit in Kauf zu nehmen.

28

Entscheidend ist daher die Frage der Zumutbarkeit der Fortsetzung der Sozietät vom 23.10.2019 (dem Datum des Ausschlussbeschlusses) bis zu dem infolge der ordentlichen Kündigungen der Kläger eintretenden Ende der Sozietät am 31.12.2019. Nicht statthaft ist es, für die Zumutbarkeit eine alternative Sachlage zugrunde zu legen und die Frage zu stellen, ob der Ausschluss bei einer ungekündigten Gesellschaft gerechtfertigt wäre. Die Frage stellt sich nicht, denn so liegt der Fall nicht, da die Kläger die Gesellschaft ordentlich gekündigt hatten. Die Sachlage nach Kündigung der Kläger ist nicht anders, als wenn man sich einvernehmlich auf ein Ausscheiden der Kläger auf den 31.12.2019 geeinigt hätte. Das gilt erst recht, wenn ein wesentlicher Teil der nunmehr erhobenen Vorwürfe – mangelnder Einsatz des Beklagten für die Kanzlei, Nicht-Wahrnehmung von Terminen ohne hinreichende Unterrichtung der Kanzlei und Verdacht der Bearbeitung von seitens der Kläger als bezeichnete Schattenmandaten an der Kanzlei vorbei – bereits den Hintergrund der ordentlichen Kündigung bildeten (vgl. das Schreiben des anwaltlichen Vertreters der Kläger vom 03.06.2019, Anlage B 22).

29

Der klägerseits angestellte Vergleich mit einer Sozietät, bei der nicht alle übrigen Sozien gekündigt haben, trägt nicht, denn die Ausgangslage ist ebenfalls nicht vergleichbar mit der hiesigen Sachlage: dort besteht – anders als hier – zwischen den Gesellschaftern, die nicht gekündigt haben, eine ungekündigte Sozietät fort, die den Beklagten, der den wichtigen Grund gesetzt haben soll, einschließt. Dann ist das Interesse dieser Gesellschafter, die die Gesellschaft nicht ordentlich gekündigt haben, am Fortbestand der insoweit ungekündigten Gesellschaft, zum anderen die längere Dauer der Kündigungsfrist bei einer ordentlichen Kündigung durch einen verbleibenden Gesellschafter, der bislang noch nicht gekündigt hat, im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen. So liegt der Fall aber nicht.

30

2. Der Senat hat die Frage der Untermieter unter dem Gesichtspunkt thematisiert, ob es dem Beklagten als zum Ausschluss berechtigenden Vorwurf anzulasten ist, dass er an die Untermieter herangetreten ist. Dies ist nicht der Fall, denn durch die Kündigung der Kläger tritt der Beklagte als Rechtsnachfolger der Sozietät in die Verträge ein. Es liegt somit in seiner Hand, die Vertragsfortführung zu gestalten. Das Risiko, dass die Untermieter das Untermietverhältnis unter den geänderten Bedingungen nicht fortsetzen wollen, ist der Änderung der Sachlage immanent. Die Klageseite vergisst, dass es ihre Kündigung war, die die Ursache dafür gesetzt hat, dass – so die klägerische Behauptung – der Empfangsbereich nicht würde besetzt werden können und der Beklagte allein die Mietforderungen nicht würde erwirtschaften können. Zugleich hat sie mit der Kündigung das Risiko ihrer Nachhaftung für Verbindlichkeiten aus dem Mietverhältnis ausgelöst. Auf die Zumutbarkeit, mit dem Beklagten (nur) noch weitere zwei Monate zusammenarbeiten zu müssen, hat die Nachhaftung keine Auswirkung.

31

3. Der Senat hält daran fest, dass die Kläger selbst durch die Bestätigung der ordentlichen Kündigung am 26.07.2019 – die sie ausweislich ihres eigenen schriftsätzlichen Vorbringens, wie im Hinweisbeschluss zitiert, zu Recht oder zu Unrecht für konstitutiv hielten – und (unabhängig von der Bewertung der Kündigungserklärung) durch die Abmahnung am 03.09.2019 zum Ausdruck gebracht haben, dass das ihnen bis dahin bekannte, dem Beklagten vorgeworfene Verhalten nicht einen sofortigen Ausschluss rechtfertigt, sondern nur eine Abmahnung.

32

Zu diesem Zeitpunkt war das wesentliche vorgeworfene Fehlverhalten – angebliche Schattenmandate, Zusammenarbeit mit Beeking – bekannt.

33

Der Senat hat in seinem Hinweisbeschluss ausgeführt, dass Anhaltspunkte dafür, dass Nachlasspflegschaften tatsächlich an der Kanzlei vorbei geführt worden seien, nicht ersichtlich seien. Dies greifen die Kläger nicht an. Sie meinen aber, damit nehme der Senat eine ex-post-Sicht ein, die nicht statthaft sei. Entscheidend sei, dass die Kläger bei Ausspruch des Ausschlusses das Ausmaß des Fehlverhaltens nicht kannten und deshalb die Nicht-Abgabe der erforderlichen Erklärungen und der Verdacht der Fortdauer des Fehlverhaltens die Kündigung rechtfertige.

34

Hierzu hat sich der Senat bereits geäußert. Er hat ausdrücklich in Ziff. 3.2 ausgeführt, dass die Nicht-Beantwortung der Abmahnung bei einer verbleibenden Restlaufzeit bis zur Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung am 31.12.2019 nicht für den Ausschluss genüge.

35

Dabei hat er vor Augen, dass der Beklagte – anders als die Kläger suggerieren –, stets und vollumfänglich abgestritten hat, dass er neben der Kanzlei wirtschafte. Dies hat er auch schriftlich getan (etwa im Schriftsatz seines anwaltlichen Vertreters vom 22.07.2019, Anlage B 27, dort unter I. und unter explizitem Hinweis auf Nachlasspflegschaften). Auch im Rahmen der Gesellschafterversammlung vom 10.09.2019 hat sich der Beklagte gegen die Vorwürfe verwahrt. Es mag sein, dass der Beklagte dies – wie die Kläger betonen – pauschal tat. Damit hat er jedoch die wesentliche Auskunft erteilt, dass es Schattenmandate, die an der Kanzlei vorbei geführt worden seien und separat abgerechnet würden, nicht gebe. Die inkriminierte Aktenführung – nämlich die Ablage in einer körperlichen Handakte (vgl. Anlagen B 39ff.) statt in elektronischer Form – rechtfertigt nicht den Ausschluss zwei Monate vor Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist für die Kläger.

36

Wie im Hinweisbeschluss ausgeführt, bilden die Fortsetzung der Kooperation nach Abmahnung (falls eine solche stattgefunden haben sollte) bzw. die Weigerung der Abgabe einer Erklärung, die Kooperation mit Herrn B. künftig zu unterlassen, vor dem Hintergrund der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls keinen hinreichenden Grund für einen Ausschluss des Beklagten. Der Senat ist sich bewusst, dass eine personalistisch strukturierte Gesellschaft auf eine enge und vertrauensvolle Abstimmung der Gesellschafter angewiesen ist und deshalb den Informationspflichten und der Beachtung von Zustimmungserfordernissen grundsätzlich eine hohe Bedeutung zukommt. Gleichwohl rechtfertigt die Weigerung zur Abgabe einer Unterlassungserklärung und eine – mögliche – Fortsetzung der Kooperation mit Herrn B. in der verbleibenden Zeit von zwei Monaten vor dem Ende der – nicht nur völlig zerrütteten, sondern bereits gekündigten – Sozietät den Ausschluss nicht. Der Senat hat dabei sowohl den Vorwurf gewürdigt, Herr B. habe Schriftsätze vorbereitet – wobei der Beklagte mit seiner Unterschrift die volle juristische Verantwortung übernimmt –, als auch den möglichen Reputationsverlust wegen der Verdachtsmomente gegen Herrn B. im Jahr 1997 (also 20 Jahre vor dem Ausschluss des Beklagten). Beide Aspekte adressiert das Abmahnschreiben; beide Aspekte tragen jedoch nach Überzeugung des Senats vor dem Hintergrund der Beendigung der Sozietät Ende des Jahres nicht.

37

Wenn der Senat im Hinweisbeschluss auf Seite 7 unten anführt, die Kläger hätten eine Einstellung der Kooperation – nicht nur eine Unterbrechung bis zum Jahresende verlangt –, handelt es sich ausdrücklich um eine lediglich ergänzende Anmerkung. Der Senat muss sich daher nicht dazu verhalten, ob der Umstand, dass die Kläger eine überschießende Forderung stellten, Auswirkungen auf die Beurteilung des Umstandes hat, dass der Beklagte auf das Abmahnschreiben nicht förmlich reagierte.

38

4. Auch die behauptete eigenmächtige Mitnahme von Akten durch den Beklagten kann die Ausschließung am 23.10.2019 nicht rechtfertigen. Zwar haben die Kläger am 15.10.2019 die Rückgabe verlangt (Anlage K19). Im Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 16.10.2019 ist jedoch von einer Rückgabe keine Rede mehr. Geregelt ist vielmehr die weitere Abholung von Akten des Beklagten. Insofern trifft es zu, dass die Kläger zu diesem Zeitpunkt bereit waren, über die eigenmächtige Verschaffung der Akten hinwegzusehen. Überdies können die Kläger dem Beklagten schwerlich vorhalten, wenn er vor diesem Hintergrund keinen Anlass sah, die Akten bis zum 23.10.2019, dem Tag des Ausschlusses, zurückzubringen. Hinzu kommt, dass Einigkeit bestand (und zwar sowohl am 16.10. als auch am 23.10.2019), dass der Beklagte die Aktenbearbeitung sollte fortsetzen dürfen. Ein wichtiger Grund für einen Ausschluss des Beklagten liegt hierin jedenfalls nicht.

39

5. Außerhalb der Abwägung der Interessen im eigentlichen Sinn merkt der Senat an, dass der zeitliche Ablauf zu seiner Überzeugung belegt, dass es den Klägern mit dem Ausschluss des Beklagten darum ging, ihre Entscheidung zu revidieren, die Gesellschaft ordentlich zu kündigen; nicht aber ging es ihnen darum, einen untragbaren Zustand schnellstmöglich – zwingend noch vor dem 31.12.2019 – zu beenden.

40

Sie haben, wie sie letztlich selbst einräumen, den Sozietätsvertrag in der Erwartung gekündigt, auch der Beklagte werde kündigen, so dass die Kanzlei liquidiert werde. Offenbar trauten sie dem Beklagten eine Fortführung der Kanzlei wirtschaftlich nicht zu (vgl. die Ausführungen in der Gegenerklärung zu den Untermietverhältnissen). Der Beklagte kündigte jedoch wider Erwarten nicht.

41

Folgt man den Klägern, dass sie im Juli 2019 von Schattenmandaten sowie von einer Bearbeitung durch den 1997 der Untreue verdächtigen Herrn B. erfuhren und deshalb ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter für Nachlasssachen beim Amtsgericht München am 24.07.2019 hatten (vgl. Klageschrift S. 5-6, bestätigt durch die Anlagen K12 vom 24.07.2019 und K13 vom 19.07.2019), wäre unverzügliches Handeln geboten gewesen, wenn es den Klägern wirklich darauf angekommen wäre, einen ihnen unzumutbaren Zustand – der nach der zu diesem Zeitpunkt von ihnen anerkannten Kündigung ohnehin am 31.12.2019 enden würde – schnellstmöglich zu beenden. Das aber geschah nicht. Schon Ende Juli kannten sie die wesentlichen Umstände (Schattenmandate, Anzahl der Nachlasspflegschaften beim AG München; sie kannten aufgrund der Rückläufer sogar konkrete Namen jedenfalls von zwei der drei Nachlasspflegschaften, die nicht ordnungsgemäß elektronisch registriert waren; sie kannten die Zusammenarbeit mit B.). Jedenfalls eine Abmahnung mit kurzer Fristsetzung hätte unverzüglich ausgesprochen werden können, wenn es auf die sofortige Unterbindung des vorgeworfenen Fehlverhaltens wirklich angekommen wäre. Die Abmahnung erfolgte erst mit Anwaltsschreiben vom 03.09.2019 – mehr als einen Monat später. Auch nach Ablauf der dort gesetzten Frist am 13.09.2019 (und nach Ablehnung einer seitens des Beklagtenvertreters wegen Urlaubs am 23.09.2019 bis zum 27.09.2019 beantragten Fristverlängerung, Anlagen K 52 und K 53) warteten die Kläger mit der Einladung zur Gesellschafterversammlung bis zum 08.10.2019 (Anlage K18). Die Gesellschafterversammlung wurde dabei auf den 16.10.2019 – etwa drei Monate nach Bekanntwerden der Vorwürfe – angesetzt. In der Zwischenzeit hatten – am 12.08.2019 und am 10.09.2019 (B 29 und B 30) – bereits weitere Gesellschafterversammlungen mit anderen TOPs stattgefunden.

42

Mit anderen Worten: Den Klägern ging es mitnichten um die unverzügliche Beendigung eines für sie als unzumutbar empfundenen Zustands, der nicht (auch noch) bis zum 31.12.2019 hätte geduldet werden können; es ging ihnen beim Ausschluss um die Revision der von ihnen getroffenen Entscheidung für eine ordentliche Kündigung. Wie im Hinweisbeschluss ausgeführt, räumen die Kläger im Ergebnis selbst ein, dass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Beklagten bis zum 31.12.2019 grundsätzlich möglich erschien.

43

6. Die Kläger stellen sich in der Gegenerklärung erstmals auf den Standpunkt, in Wirklichkeit sei der Beklagte bereits aufgrund Beschlussfassung in der Gesellschafterversammlung am 16.10.2019 mit sofortiger Wirkung aus der Sozietät ausgeschieden, weil er dort den Kanzleischlüssel abgegeben und sich verpflichtet habe, die Kanzlei nicht mehr betreten. Darauf bezieht sich der Hilfsantrag der Kläger. Über diesen ist schon aus formellen Gründen nicht zu entscheiden, denn neue Anträge in der Berufung geraten mit Zurückweisung der Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO in Wegfall (analog § 524 Abs. 4 ZPO). Folgte man dem Antrag, wäre im Übrigen ie Klage im Hauptantrag – jedenfalls in Ziff. 1 – erst recht unbegründet, denn die Ausschließung ginge ins Leere.

44

Dessen ungeachtet trifft die Sichtweise der Kläger nicht zu.

45

Die Parteien haben dem Beschluss vom 16.10.2019 selbst bis jetzt eine solche konstitutive Bedeutung nicht beigemessen; diese (bis jetzt) übereinstimmende Sichtweise aller Gesellschafter bindet bei der Auslegung des Beschlusses. Die nunmehr eingenommene Sichtweise passt auch nicht zum Wortlaut des Protokolls der Versammlung (Anlage K20): Danach wurde über eine Ausscheidensvereinbarung diskutiert; die Parteien seien bestrebt, eine solche zu treffen (mit rückwirkendem Datum). Eine abschließende Vereinbarung sei nicht zustande gekommen. Genau dies hält auch Ziff. 7 des Protokolls fest. Es gab das Bestreben – aber auch nicht mehr –, auf der Basis der besprochenen Punkte eine Einigung über eine Ausscheidensvereinbarung zu erzielen. Daraus ist ersichtlich, dass eine abschließende Einigung nicht erzielt war. Dementsprechend wurde die Versammlung mit dem bewusst aufrechterhaltenen Tagesordnungspunkt Ausschluss des Beklagten vertagt. Die Beschlüsse zum Betreten der Kanzleiräume sind dementsprechend als Regelung eines Schwebezustandes bis zu einer erwarteten konstitutiven Regelung zu verstehen. Auch der Entwurf der so betitelten „Ausscheidens- und Abfindungsvereinbarung“ (Anlage K 22) – keineswegs nur eine Abfindungsvereinbarung, wie die Kläger nunmehr glauben machen wollen – regelt in Ziff. 1 konstitutiv das Ausscheiden. Erst diese Vereinbarung – zu der es aber nicht gekommen ist – hätte zum Ausscheiden des Beklagten geführt. Es wäre im Übrigen erstaunlich, wenn der Beklagte ein wesentliches Druckmittel in den Verhandlungen vorzeitig aus der Hand gegeben hätte.

46

Anders als die Kläger meinen, ergibt sich aus einer bloßen – überdies bewusst vage gehaltenen – Absichtserklärung (“Bestreben, eine Einigung zu erzielen“), eine konstitutive Regelung zum 30.09.2019 zu finden, gerade keine Verpflichtung zum Abschluss einer solchen Regelung. Schutzwürdiges Vertrauen auf einen Abschluss einer solchen Vereinbarung konnten die Kläger vor diesem Hintergrund nicht entwickeln und haben sie auch nicht entwickelt, wie die Vertagung unter Aufrechterhaltung des Tagesordnungspunktes Ausschluss zeigt. Im Übrigen zeichnet sich die Interimsregelung keineswegs durch einseitiges, sondern durch wechselseitiges Nachgeben aus (etwa kein Betreten der Kanzleiräume, aber elektronischer Zugang).

47

Davon getrennt zu beurteilen ist die Frage, ob das Verhalten des Beklagten Einfluss auf die Interessenabwägung beim Ausschluss hat. Auch diese Frage ist im Ergebnis zu verneinen. Für den Ausschluss bedarf es eines wichtigen Grundes, der im Verhalten des Beklagten gesucht werden muss. Der Umstand, dass sich der Beklagte nicht auf ein freiwilliges Ausscheiden eingelassen ist, kann einen solchen wichtigen Grund nicht begründen. Ob dies anders zu beurteilen wäre, wenn die Kläger auf ein freiwilliges Ausscheiden hätten schutzwürdig vertrauen dürfen, bedarf keiner Entscheidung. Denn ein solches schutzwürdiges Interesse bestand weder am 16.10.2019 (s.o.) noch konnte sich ein solches innerhalb der Woche bis zum 23.10.2019 bilden. Vielmehr hatten die Kläger, wie bereits ausgeführt, mit der Vertagung des Tagesordnungspunktes Ausschluss des Beklagten bewusst Dispositionen für den Fall getroffen, dass es zu keiner Einigung kommt.

48

Der Vergleich, den die Kläger auf Seite 24 der Gegenerklärung zu einem Arbeitnehmer anstellen, hinkt aus zwei Gründen: zum einen berücksichtigt es nicht, dass ein Ausscheiden des Beklagten ausdrücklich – für Rechtsanwälte erkennbar und klägerseits auch erkannt – noch nicht konstitutiv beschlossen war, weil es an einer Ausscheidensvereinbarung noch fehlte; zum anderen ist die Folge des „Rückziehers“ des Beklagten vorliegend nicht, dass die Zusammenarbeit fortgesetzt würde, sondern dass – vorbehaltlich eines wirksamen Ausschlusses des Beklagten, wie nicht – die ordentliche Kündigung der Kläger ihre Wirksamkeit behält, somit die Kläger die Gesellschaft zum 31.12.2019 verlassen würden. Es ist deshalb im vorliegenden Fall nicht treuwidrig im Sinne von § 242 BGB, wenn der Beklagte an seiner Absichtserklärung nicht festhält.

49

Soweit der Senat in seinem Hinweisbeschluss thematisiert, dass dem Fortsetzungsbeschluss der Kläger vom Dezember 2019 möglicherweise – mehr hat er nicht gesagt – nicht die Wirkung beizumessen sein könnte, dass die Gesellschaft zu Dritt, d.h. zwischen beiden Klägern und dem Beklagten, fortgesetzt werde, hat das für den vorliegenden Rechtsstreit keine Auswirkungen. Der Senat hat nicht etwa angenommen, dass der Beklagte aufgrund eigenen Verhaltens aus der bisherigen Partnerschaft ausgeschieden sei. Er hat allein – wiederum als bloße Möglichkeit, die im Rahmen von Vergleichsverhandlungen hilfreich sein könnte – die Frage aufgeworfen, ob der Beschluss der beiden Kläger zur Fortsetzung der Gesellschaft den wirksamen Ausschluss des Beklagten gleichsam zur „Geschäftsgrundlage“ (im untechnischen Sinne) haben könnte und daher der Beschluss dann, wenn der Ausschluss des Beklagten wider Erwarten der Kläger unwirksam sein sollte, dahin zu verstehen sein könnte, dass die beiden Kläger in diesem Fall eine eigene Gesellschaft ohne den Beklagten (wenn auch fehlerhaft unter der Bezeichnung der bisherigen Partnerschaft) gründen wollten.

III.

Der Senat sieht sich nicht veranlasst, eine mündliche Verhandlung allein zum Zwecke von Vergleichsverhandlungen zwischen den Parteien anzusetzen. § 278 Abs. 1 ZPO findet im Berufungsverfahren keine Anwendung, § 525 Satz 2 ZPO. Die Parteien haben bereits ausführlich versucht, die Angelegenheit vergleichsweise zu regeln, sind aber gescheitert. Der Beklagte hat auch im vorliegenden Verfahren nicht zu erkennen gegeben, dass sich an seinen Standpunkten etwas geändert haben könnte. Den Parteien ist unbenommen, nach Klärung der Unwirksamkeit des Ausschlusses des Beklagten durch den vorliegenden Senatsbeschluss auf dieser Basis die Folgen einvernehmlich zu regeln, woran – wie im Hinweisbeschluss näher ausgeführt – allseitiges Interesse bestehen sollte. Die möglichen Folgen der Unwirksamkeit des Ausschlusses für die wechselseitigen Rechtsbeziehungen und die Rechtsbeziehungen zu Dritten zu erfassen, zu bewerten und ggf. einer vergleichsweisen Lösung zuzuführen, sprengt den Rahmen des hiesigen Verfahrens und einer mündlichen Verhandlung. Der Senat hat im Hinweisbeschluss den aus seiner Sicht sachgerechten Ansatz für eine vergleichsweise Lösung – nämlich ein Ausscheiden des Beklagten zum 31.12.2019 – kundgetan und auf die Risiken hingewiesen, die sich ohne Einigung für die Parteien ergeben. Sich hierauf einzulassen – ggf. bei zusätzlicher Zahlung einer pauschal bemessenen Ausgleichssumme durch die Kläger – oder den Ansatz zu verwerfen, ist nunmehr Sache der rechtskundigen und wirtschaftlich erfahrenen Parteien. Es ist jedenfalls nicht Aufgabe des Senats, den Beklagten zu einem vom ihm nicht gewünschten Vergleich zu drängen, mag dieser aus Sicht des Senats auch vernünftig oder sogar dringlich angeraten sein. Bei Interesse stehen den Parteien außergerichtlich die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Mediation oder einer sonstigen Vermittlung (§ 73 Abs. 2 Nr. 2 BRAO) offen.

IV.

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 708 Nr. 10, § 711, § 713 ZPO.

52

Die Höhe des Streitwerts stützt sich auf § 48 GKG und folgt in Übereinstimmung mit dem Landgericht der – von Beklagtenseite unbeanstandeten – Streitwertangabe der Kläger sowohl in erster als auch in zweiter Instanz (vgl. Klageschrift, S. 1; Berufungsbegründung, S. 2, Bl. 195 d.A.).

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OLG München, Urteil vom 20.09.2023 – 7 U 321/22

Mittwoch, 20. September 2023

Handelsvertretervertrag

§ 177 Abs. 1 BGB; §§ 86, 87 Abs. 2 HGB; Art. 4 Abs. 1 lit. f) Rom I VO

Tenor

1. Das Versäumnisurteil des Senats vom 8.3.2023 (Az.: 7 U 321/22) wird aufrechterhalten.

2. Von den weiteren Kosten des Berufungsverfahrens haben die Beklagte zu 1) 81% und die Beklagte zu 2) 19% zu tragen.

3. Dieses Urteil und das Teilurteil des Landgerichts München I vom 30.12.2021 (Az.: 14 HK O 15782/15), soweit es noch Bestand hat, sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

A.

1

Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Handelsvertreterverhältnis.

2

Die Klägerin ist eine GmbH deutschen Rechts, die Beklagten sind Gesellschaften türkischen Rechts. Die Parteien (die drei Beklagten dabei vertreten durch ihren damaligen Mitarbeiter K.) schlossen unter dem 15./18.8.2014 den als Anlage K 1 vorliegenden Handelsvertretervertrag, auf dessen Wortlaut Bezug genommen wird. Nach Ziffer 1 betraut die W. Firmengruppe, bestehend aus den drei Beklagten, die Klägerin mit ihrer Alleinvertretung als Bezirksvertreter für die Bundesrepublik Deutschland und Österreich. Ziffer 5 enthält eine Auskunfts- und Vertragsstrafenregelung zugunsten der Klägerin. Nach Ziffer 7 beträgt die Provision 5% vom Rechnungsbetrag für alle direkten und indirekten Geschäfte mit Abnehmern des in Ziffer 1 angegebenen Bezirks. Nach Ziffer 11 sollte das Vertragsverhältnis vom 1.9.2014 bis 31.8.2019 dauern und sich mangels schriftlicher Kündigung sechs Monate vor Vertragsablauf um den selben Zeitraum verlängern. Nach Ziffer 12 wurde die Geltung des Rechts am Sitz des Handelsvertreters (also deutsches Recht) vereinbart.

3

Mit der Klageschrift hat die Klägerin Anträge auf Buchauszug, weitere Auskünfte, Provision (unbeziffert), Vertragsstrafe (unbeziffert) sowie vorgerichtliche Kosten angekündigt. Im Termin vom 14.11.2016 vor dem Landgericht hat die Klägerin davon die Anträge auf Buchauszug und Auskunft gestellt; hierüber erging Versäumnisurteil, das in der Folgezeit rechtskräftig wurde.

4

Die Klägerin beauftragte sodann die Wirtschaftsprüferkanzlei R. und PartnerBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Partner
und Partner
mit der Erstellung eines Buchauszuges im Wege der Ersatzvornahme für die Zeit vom Vertragsbeginn bis zum 30.9.2019. Ein solcher Buchauszug liegt den Gerichten nicht vor.

5

Den schon in der Klage unbeziffert angekündigten Antrag auf Vertragsstrafe hat die Klägerin erstinstanzlich mit Schriftsatz vom 1.9.2017 ausdrücklich aufrechterhalten und mit Schriftsatz vom 29.12.2020 auf die Zeiträume bis 30.9.2019 präzisiert. In mündlicher Verhandlung gestellt wurde der Antrag erstinstanzlich nicht. Mit Schriftsatz vom 29.12.2020 hat die Klägerin ferner Auskunftsansprüche für die Zeit ab Erlass des Teilversäumnisurteils bis 30.9.2019 angekündigt; auch diese wurden in der Folgezeit nicht in mündlicher Verhandlung gestellt. Nicht in mündlicher Verhandlung gestellt wurde erstinstanzlich auch der mit der Klageschrift angekündigte Antrag auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten.

6

Mit Schriftsatz vom 26.2.2021 hat die Klägerin ihre in der Klageschrift unbeziffert angekündigten Ansprüche auf Provisionszahlung gegen die Beklagten zu 1) und zu 2) für die Zeit bis zum 30.9.2019 beziffert. Diese Anträge wurden im Termin vom 18.10.2021 vor dem Landgericht gestellt.

7

Die Klägerin hat beantragt,

a) die Beklagte zu 1) zu verurteilen, an die Klägerin EUR 781.197,65 nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz EZB ab 01.10.2019 zu zahlen.

b) die Beklagte zu 2) zu verurteilen, an die Klägerin EUR 163.563,77 nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz EZB seit 01.10.2019 zu zahlen.

8

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Durch das angegriffene Teilurteil hat das Landgericht die Beklagte zu 1) zur Zahlung von 529.925,50 € und die Beklagte zu 2) zur Zahlung von 110.17,52 € (jeweils nebst anteiligen Zinsen) verurteilt; die weitergehenden bezifferten Zahlungsanträge hat es abgewiesen. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Teilurteils vom 30.12.2021 wird Bezug genommen.

10

Mit ihrer zulässigen, insbesondere form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Zahlungsbegehren weiter, soweit ihm nicht entsprochen wurde. Mit ihren zulässigen, insbesondere form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufungen begehren die Beklagten die Abweisung der bezifferten Zahlungsklage.

11

Während des laufenden Berufungsverfahrens hat die Klägerin die erstinstanzliche Klage mit Schriftsätzen vom 20.7.2022 und 20.4.2023 um Ansprüche auf Buchauszug, weitere Auskünfte und Provisionszahlung (unbeziffert) für die Zeit nach dem 30.9.2019 erweitert.

12

Im Termin vom 8.3.2023 erging Versäumnisurteil gegen die Beklagten zu 1) und zu 2) gemäß den klägerischen Zahlungsbegehren. Das Versäumnisurteil wurde den Beklagten am Mittwoch, 22.3.2023 zugestellt. Mit Schriftsatz vom Mittwoch, 5.4.2023, eingegangen beim Oberlandesgericht am selben Tag haben die Beklagten zu 1 und zu 2 Einspruch gegen das Versäumnisurteil eingelegt.

13

Die Beklagten zu 1) und zu 2) beantragen,

das Versäumnisurteil des Senats vom 8.3.2023 sowie das Teilurteil des Landgerichts München I vom 30.12.2021 (Az.: 14 HK O 15782/15) aufzuheben und die bezifferte Zahlungsklage abzuweisen.

14

Die Klägerin beantragt,

das Versäumnisurteil des Senats vom 8.3.2023 aufrechtzuerhalten.

15

Mit Schriftsätzen vom 29.8.2023 und 5.9.2023 hat die Klägerin die erstinstanzlichen Anträge auf Auskunft und Vertragsstrafe (jeweils bis 30.9.19) sowie auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten zurückgenommen.

B.

16

Bei der anlässlich des Versäumnisurteils vorgenommenen Rubrumsberichtigung hatte es im Grundsatz zu verbleiben; es war lediglich klarzustellen, dass auch die Beklagte zu 1) nunmehr eine Anonim Sirketi (A.S.) ist.

17

Aus der von der Klagepartei vorgelegten Auskunft der türkischen Handelskammer ergibt sich, dass die Beklagte zu 1 mit der in der Klageschrift und im Rubrum des angegriffenen Urteils genannten Firma G. O. S. … unter der Nummer …64 ins türkische Handelsregister eingetragen war. Aus den in türkischer Sprache mit beglaubigter deutscher Übersetzung vorgelegten Veröffentlichungen im Handelsregisterblatt der Türkei vom 26.4.2019 und 5.4.2022 ergibt sich, dass unter der Nummer …64 sodann zwischenzeitlich eine Firma G. O. S. … Anonim Sirketi eingetragen war und nunmehr eine Firma W. O. S. … Anonim Sirketi eingetragen ist (die insoweit hinsichtlich der Firma in der vorgelegten Übersetzung enthaltene offenbare Unrichtigkeit kann auch ohne türkische Sprachkenntnisse durch schlichte Inaugenscheinnahme des Originals festgestellt werden). Aufgrund dieser Umstände ist der Senat davon überzeugt, dass die Beklagte zu 1) nunmehr wie im aktuellen Rubrum genannt firmiert.

18

Aus den von der Klagepartei in türkischer Sprache mit beglaubigter deutscher Übersetzung vorgelegten Veröffentlichungen im Handelsregisterblatt der Türkei vom 26.4.2019 und 5.4.2022 ergibt sich ferner, dass die Beklagte zu 2) mit der in der Klageschrift und im Rubrum des angegriffenen Urteils genannten Firma T. M. A. … unter der Nr. …65 eingetragen war und dort unter dieser Nummer nunmehr die Firma W. M. A. S. … Anonim Sirketi eingetragen ist. Aufgrund dieser Umstände ist der Senat davon überzeugt, dass die Beklagte zu 2) nunmehr wie im aktuellen Rubrum genannt firmiert.

C.

19

Auf zulässigen, insbesondere form- und fristgerecht eingelegten Einspruch der Beklagten gegen das Versäumnisurteil des Senats vom 8.3.2023 war über die wechselseitigen Berufungen der Parteien zu entscheiden (§ 342 ZPO). Die Berufung der Beklagten hat insoweit keinen Erfolg; als begründet erweist sich hingegen die Berufung der Klägerin. Damit erweist sich das Versäumnisurteil als zutreffend und war folglich aufrechtzuerhalten (§ 343 S. 1 ZPO).

I.

20

Das angegriffene Teilurteil hätte zwar nach der Sachlage bei Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht nicht ergehen dürfen, weil hierdurch die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen begründet wurde. Eine Zurückverweisung an das Landgericht nach § 538 Abs. 1 Nr. 7 ZPO kam hierwegen unter den Umständen des Falles aber nicht in Betracht.

21

1. Nach § 301 ZPO ist ein Teilurteil nur zulässig, wenn es über einen aussonderbaren, einer selbständigen Entscheidung zugänglichen Teil des Verfahrensgegenstandes ergeht und der Ausspruch über diesen Teil unabhängig von demjenigen über den restlichen Verfahrensgegenstand getroffen werden kann, so dass die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen ausgeschlossen ist. Der Erlass eines Teilurteils setzt neben der Teilbarkeit des Streitgegenstandes oder einer Mehrheit von Streitgegenständen voraus, dass die Widerspruchsfreiheit von Teil- und Schlussurteil garantiert ist. Die Widerspruchsfreiheit ist in einem weiten Sinne zu verstehen und erfasst daher auch Fälle der Vorgreiflichkeit. Daher darf die Entscheidung über den weiter rechtshängigen Streit nicht eine Vorfrage umfassen, die bereits für die erledigte Teilentscheidung erheblich war. Da einzelne Urteilselemente, tatsächliche Feststellungen und rechtliche Folgerungen, auf denen eine Entscheidung aufbaut, grundsätzlich nicht von der Rechtskraft erfasst werden, besteht sonst die Gefahr einer unterschiedlichen Beantwortung der Vorfrage, wenn das Verfahren durch den Erlass eines Teilurteils aufgespaltet wird. Dabei ist der Erlass eines Teilurteils bereits dann unzulässig, wenn sich die Gefahr durch die abweichende Beurteilung eines Rechtsmittelgerichts im Instanzenzug ergeben kann (vgl. BGH, Urteil vom 11.1.2012 – XII ZR 40/10, Rz. 19).

22

Vorliegend bestand nach diesen Grundsätzen die Gefahr eines Widerspruchs zwischen Teil- und Schlussurteil. Erstinstanzlich waren im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Urteilsverkündung noch unbezifferte Ansprüche auf Vertragsstrafe, diesbezügliche Auskunft sowie die Erstattung vorgerichtlicher Kosten anhängig. Vorfrage für eine eventuelle Vertragsstrafe (und die Erstattung vorgerichtlicher Kosten) ist ebenso wie für die gegenständlichen Zahlungsansprüche, ob der Handelsvertretervertrag zwischen den Parteien gemäß Anlage K 1 wirksam zustande gekommen und wirksam geblieben ist, insbesondere ob die Beklagten bei Vertragsschluss wirksam vertreten wurden und ob der Vertrag wegen wirksamer Anfechtung oder Sittenwidrigkeit nichtig ist (zu diesen Fragen vgl. unten II.1.). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass – etwa im Falle eines Richterwechsels bei der zuständigen Kammer des Landgerichts oder auch beim erkennenden Senat – diese Rechtsfragen im Stadium des Schlussurteils anders beantwortet werden als vorliegend, was dann zu einer Widersprüchlichkeit zwischen Teil- und Schlussurteil führen würde.

23

2. Die hiernach bestehende Unzulässigkeit des angegriffenen Teilurteils war vom Senat ohne Rüge der Berufungsführer von Amts wegen zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 11.5.2011 – VIII ZR 42/10, Rz. 19 m.w.Nachw.). Damit wäre an sich die Möglichkeit der Zurückverweisung an das Landgericht ohne Antrag der Parteien eröffnet (§ 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 7, S. 3 ZPO). Nach Auffassung des Senats verbietet sich aber unter den Umständen des Falles eine Zurückverweisung.

24

a) Die Klägerin hat mit Schriftsätzen vom 29.8.2023 und 5.9.2023 die erstinstanzliche Klage hinsichtlich der Auskunfts- und Vertragsstrafenanträge für die Zeiträume bis 30.9.2019 sowie hinsichtlich der Erstattung vorgerichtlicher Kosten zurückgenommen. Die Klagerücknahme ist grundsätzlich in jedem Verfahrensstadium möglich; sie bedurfte vorliegend auch nicht der Zustimmung der Beklagten (§ 269 Abs. 1 ZPO), da ausweislich der vorliegenden Sitzungsprotokolle die zurückgenommenen Anträge nie in mündlicher Verhandlung gestellt wurden, also nicht über sie verhandelt wurde (§ 137 Abs. 1 ZPO).

25

Damit sind diese Anträge als nie anhängig geworden anzusehen (§ 269 Abs. 3 ZPO), so dass im Hinblick auf diese Anträge die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen rückwirkend entfallen ist und damit der im Erlass des Teilurteils liegende Verfahrensfehler geheilt wurde.

26

b) Nichts anderes ergibt sich daraus, dass in erster Instanz nach wie vor Anträge auf Buchauszug, Auskunft, unbezifferte Provisionen und unbezifferte Vertragsstrafe für die Zeiträume ab 1.10.2019 anhängig sind. Denn diese Anträge wurden erst mit Schriftsätzen vom 20.7.2022 bzw. 20.4.2023 und damit nach Erlass des angegriffenen Teilurteils angekündigt. Sie vermögen daher die Unzulässigkeit des Teilurteils wegen der Gefahr widersprechender Entscheidungen nicht zu begründen; zwar besteht diese Gefahr insoweit, das Landgericht hat aber nicht verfahrensfehlerhaft gehandelt, weil es diese Anträge denknotwendig noch nicht berücksichtigen konnte.

II.

27

In der Sache erweist sich das Versäumnisurteil des Senats als zutreffend, so dass es aufrechtzuerhalten war. Die Beklagten schulden der Klägerin für die Zeiträume bis 30.9.2019 Provisionen in der verlangten Höhe, so dass die Berufung der Beklagten zu Recht zurückgewiesen wurde und die Berufung der Klägerin Erfolg hatte.

28

1. Zwischen den Parteien bestand im streitgegenständlichen Zeitraum ein wirksames Handelsvertreterverhältnis.

29

a) Der Vertrag vom 15./18.8.2014 (Anlage K 1) scheitert nicht an mangelnder Vertretungsmacht des für die Beklagten bei Vertragsschluss handelnden Herrn K.

30

aa) Der Handelsvertretervertrag unterliegt kraft Rechtswahl (vgl. Anlage K 1, Ziff. 12) deutschem Recht (Art. 3 Abs. 1 Rom I VO). Die Wirksamkeit der Rechtswahl wird von den Parteien nicht bezweifelt. Ohne wirksame Rechtswahl ergäbe sich nach Art. 4 Abs. 1 lit. f) Rom I VO ebenfalls die Anwendbarkeit deutschen Rechts.

31

Das Vertragsstatut nach der Rom I VO gilt allerdings nicht für die Frage der ordnungsgemäßen Vertretung bei Vertragsschluss (Art. 1 Abs. 2 lit. g) Rom I VO). Die Frage, ob Herr K. wirksam bevollmächtigt war, beurteilt sich vielmehr nach türkischem Recht (Art. 8 Abs. 3 EGBGB).

32

Nicht nach dem Vertretungsstatut, sondern nach dem Vertragsstatut, also vorliegend nach deutschem Recht beurteilt sich aber gegebenenfalls die Frage, ob das Geschäft eines vollmachtlosen Vertreters wirksam genehmigt wurde (BGH, Urteil vom 8.10.1991 – XI ZR 64/90, Rz. 15; Urteil vom 17.11.1994 – III ZR 70/93, Rz. 2; Grüneberg / Thorn, BGB, 82. Aufl., Art. 8 EGBGB Rz. 6).

33

bb) Hiernach wäre an sich zunächst nach türkischem Recht zu klären, ob Herr K. bei Vertragsschluss Vertretungsmacht für die Beklagten hatte. Dass er Organ der Beklagten ist, behauptet auch die Klägerin nicht. Damit käme nur eine rechtsgeschäftliche Vollmacht in Betracht. Eine ausdrückliche Bevollmächtigung vermag die Klägerin nicht vorzutragen. Damit käme nur in Betracht, dass sich eine Vollmacht des Herrn K. aus den Umständen, etwa entsprechend den deutschen Grundsätzen für eine Anscheins- oder Duldungsvollmacht ergibt. Ob und unter welchen Voraussetzungen entsprechende Rechtsfiguren auch im türkischen Recht existieren, wäre ohne Einholung eines Rechtsgutachtens nicht zu klären. Daher kann nach derzeitigem Sachstand nicht davon ausgegangen werden, dass Herr K. Vertretungsmacht hatte.

34

cc) Die Frage kann jedoch offen bleiben. Folge fehlender Vertretungsmacht ist (nach deutschem Recht als Vertragsstatut) die zunächst schwebende Unwirksamkeit des Handelsvertretervertrages (§ 177 Abs. 1 BGB). Diese wäre jedoch geheilt durch Genehmigung seitens des Herrn T., der unstreitig vertretungsberechtigtes Organ der Beklagten ist.

35

Die Genehmigung ist ein einseitiges Rechtsgeschäft, das gegenüber dem Vertreter oder dem Vertragspartner erklärt werden kann (§§ 182, 184 BGB). Zwar ist eine ausdrückliche Genehmigung nicht vorgetragen; die Genehmigung eines schwebend unwirksamen Rechtsgeschäfts kann jedoch auch konkludent erklärt werden. Entscheidend ist daher, ob die Klägerin in Person des Zeugen H. L. das Verhalten des Herrn T. dem Zeugen gegenüber nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte als Genehmigung des Handelsvertretervertrages verstehen durfte (Lehre vom objektiven Empfängerhorizont).

36

Die Klagepartei hat diesbezüglich unbestritten vorgetragen, dass Herr T. bei einem persönlichen Treffen mit Herrn L. am 19.9.2014 (also rund eineinhalb Monate nach Vertragsschluss) am Messestand der W.-Gruppe auf der Automobilmesse in F. detaillierte Kenntnis vom Inhalt des Handelsvertretervertrages zeigte, die weitere Zusammenarbeit besprach und Herrn L. gegenüber Geschäftspartnern als Handelsvertreter für Deutschland vorstellte; ferner sei bei dieser Gelegenheit die Gestaltung einer Visitenkarte für Herrn L. besprochen worden; wenig später seien der Klägerin entsprechende Visitenkarten übersandt worden. – Auf dem als Anlage K 13 vorgelegten Exemplar einer solchen Visitenkarte sind die (damaligen) Firmen aller drei Beklagten sowie „H. L. Verkaufsniederlassung“ aufgedruckt.

37

Nach Auffassung des Senats musste sich dem Zeugen L. aus der Gesamtschau der vorstehenden unstreitigen Umstände der Eindruck aufdrängen, dass Herr T. mit dem Inhalt des Handelsvertretervertrages vertraut war und diesen namens der Beklagten billigte. Damit wurde der Handelsvertretervertrag, sollte er zunächst schwebend unwirksam gewesen sein, jedenfalls rückwirkend auf seinen Abschluss wirksam.

38

b) Der Vertrag von 15./18.8.2014 (Anlage K 1) ist nicht wirksam angefochten. Als Anfechtungsgrund wird erstinstanzlich nur die behauptete mangelnde Vertretungsmacht des Herrn K. angeführt. Dieser Gesichtspunkt lässt sich weder unter §§ 119, 120 BGB noch unter § 123 BGB subsumieren.

39

c) Der Vertrag vom 15./18.8.2014 (Anlage K 1) ist nicht nach § 138 BGB wegen Sittenwidrigkeit nichtig. Ein auffälliges Missverhältnis zwischen den vertraglichen Rechten und Pflichten der Vertragsparteien lässt sich nicht feststellen.

40

Eine Provisionshöhe von 5% der Vertragssumme ist nach der Kenntnis des regelmäßig mit Handelsvertretersachen befassten Senats nicht ungewöhnlich. Dass diese auch bei Geschäften anfallen kann, die die Klägerin nicht vermittelt hat, ist eine Folge der vereinbarten Bezirksvertretung (§ 87 Abs. 2 HGB). Diese Möglichkeit der Vertragsgestaltung ist vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen und vermag daher das Verdikt der Sittenwidrigkeit nicht zu begründen.

41

Nicht nachvollziehbar ist, warum das Fehlen von Kundenlisten zur Sittenwidrigkeit des Vertrages führen soll. Dass der Kreis von Kunden, für die Provision verlangt werden kann, nur territorial auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und Österreichs begrenzt ist, ergibt sich aus der vertraglich vereinbarten Stellung der Klägerin als Bezirksvertreterin Dass der Vertrag einseitig formuliert ist und nur Pflichten der Beklagten enthält, mag sein. Das hat aber nicht zur Folge, dass die Klägerin keine Pflichten treffen; vielmehr folgen mangels vertraglicher Regelung die Pflichten der Klägerin aus dem Gesetz (insbesondere § 86 HGB). Soweit die Beklagten Schadensersatzregelungen zu ihren Gunsten vermissen, gelten für den Fall von Pflichtverletzungen auf Seiten der Klägerin die §§ 280 ff. BGB.

42

Die strenge Vertragsstrafenregelung vermag eine Sittenwidrigkeit des Gesamtvertrages ebenfalls nicht zu begründen. Denn selbst wenn Ziffer 5 des Vertrages unwirksam wäre, ließe dies nach § 14 des Vertrages die übrigen Vertragsklauseln unberührt.

43

d) Der Vertrag wurde im streitgegenständlichen Zeitraum bis 30.9.2019 nicht wirksam gekündigt. Behauptet wird nur eine Kündigungserklärung vom 1.11.2021. Diese hätte im Falle ihrer Wirksamkeit den Vertrag frühestens mit ihrem Zugang bei der Klägerin und damit keinesfalls vor dem 30.9.2019 beendet.

44

2. Die Ansprüche auf Zahlung von Provision bestehen in der von der Klägerin geltend gemachten Höhe und nicht nur in dem vom Landgericht zuerkannten Umfang.

45

a) Zu Recht hat das Landgericht den klägerischen Vortrag zu den provisionspflichtigen Geschäften als unstreitig behandelt. Die Klägerin hat die nach ihrer Ansicht provisionspflichtigen Vorgänge durch Vorlage der Rechnungslisten als Anlage zum Schriftsatz vom 23.8.2021 (Bl. 229 ff. der Akten) schlüssig dargelegt. Diese enthalten das Rechnungsdatum, die Rechnungsnummer, den Kunden sowie den (wohl verbuchten) Betrag in Lire sowie den Rechnungsbetrag in Euro. Nach dem Grundsatz der abgestuften Darlegungs- und Beweislast hätten sich die Beklagten dem gegenüber nicht mit pauschalem Bestreiten begnügen dürfen, sondern hätten konkrete Einwendungen gegen die einzelnen von der Klägerin vorgebrachten provisionspflichtigen Vorgänge erheben müssen; hierzu wären sie auch in der Lage gewesen, da die Klägerin diese Angaben mit Hilfe der Wirtschaftsprüferkanzlei R. und PartnerBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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aus den Büchern der Beklagten gewonnen hat. Damit sind die schlüssigen und konkreten Ausführungen der Klägerin zu den provisionspflichtigen Vorgängen nicht hinreichend bestritten. Hiernach spielt es keine Rolle, dass der im Wege der Ersatzvornahme erstellte Buchauszug dem Senat nicht vorliegt.

46

b) Als Provision geschuldet werden 5% vom jeweiligen Rechnungsbetrag (vgl. Vertrag, Ziff. 7). Die Rechnungen der Klägerin an ihre deutschen und österreichischen Kunden lauteten auf Euro. Hiervon ist der Senat aufgrund der im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens vorgelegten Rechnungen überzeugt (vgl. Anlage K-ZV 4). Geschuldet ist also die Provision in Euro aus dem Rechnungsbetrag in Euro. Damit stellt sich das vom Landgericht gesehene Umrechnungsproblem nicht; vielmehr sind die vom Wirtschaftsprüfer ermittelten und in der Rechnungsliste angegebenen Euro-Beträge zugrunde zu legen.

D.

47

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens folgt aus §§ 91, 92, 97, 100 ZPO. Die Entscheidung über die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens war nach dem Grundsatz der Einheit der Kostenentscheidung dem landgerichtlichen Schlussurteil vorzubehalten, weil erstinstanzlich noch die nach Erlass des angegriffenen Urteils angekündigten Anträge für die Zeiträume ab 1.10.2019 anhängig sind.

48

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10 ZPO.

49

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Zulassungsvoraussetzungen (§ 543 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Zu würdigen waren vielmehr die Umstände des Einzelfalles.

Löffler I www.K1.de I www.gesellschaftsrechtskanzlei.com I Gesellschaftsrecht I GmbH-Recht I Gesellschafterstreit I Erfurt I Thüringen I Sachsen I Sachsen-Anhalt I Hessen I Deutschland 2023

Schlagworte: Anscheinsvollmacht, Duldungsvollmacht, Handelsvertretervertrag

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OLG München, Hinweisbeschluss vom 21.08.2023 – 14 U 1250/21

Montag, 21. August 2023

Geschäftschancenlehre GbR

Tenor

A.- Hinweis:

Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 05.02.2021, Az. 23 O 868/18, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.

Entscheidungsgründe

B.- Hintergrund ist folgende Einschätzung des Senats:

I.-

Die Klägerin beantragt in der Berufung:

auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Kempten vom 05.02.2021, AZ 23 O 868/18, abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 56.198 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2018 zu bezahlen.

Das entspricht dem erstinstanzlichen Antrag (vergleiche EU Seite 2).

II.-

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.

1.-

Als unstreitig behandelt hat das Landgericht folgenden Sachverhalt:

Der Beklagte ist Inhaber einer Einzelfirma mit dem Namen „Immobilien N…“.

Im März 2017 unterzeichneten die Parteien einen schriftlichen Vertrag (K1) der als „BGB-Gesellschaftsvertrag“ überschrieben war. Zweck der BGB-Gesellschaft sollte die Vermittlung von Immobilien sein.

Im Juni 2017 erteilte die Einzelfirma des Beklagten der Klägerin eine Reihe von Rechnungen, mit denen der Beklagte jeweils Werbekostenbeteiligungen abrechnete.

Im November 2017 stellte die Klägerin gegenüber der Einzelfirma des Beklagten „bzw“ direkt gegenüber diesem (EU S. 2 ohne Klarstellung, was „bzw“ hier heißen soll) jeweils 50 % derjenigen Maklerprovisionen in Rechnung, die der Beklagte vereinnahmt hatte (EU Seite 2, K2a bis K2 e).

Im Februar 2018 kündigte der Beklagte den Gesellschaftsvertrag (EU Seite 2, K2).

2.-

Als streitig referiert das Landgericht folgende Behauptungen der Klägerin:

Sie habe mit dem Beklagten vereinbart, dass beiden Parteien aus der gemeinsamen Tätigkeit jeweils 50 % der erzielten Provisionen zustünden und Aufwendungen hälftig geteilt würden.

Bei den jeweiligen Immobilienvermittlungen habe die Klägerin zum Teil wesentliche Arbeiten übernommen.

3.-

Als streitig referiert das Landgericht folgende Behauptungen des Beklagten:

Den BGB-Gesellschaftsvertrag hätten die Parteien lediglich abgeschlossen, um anschließend mit einem Dritten einen Lizenzvertrag abschließen zu können. Dazu sei es aber nie gekommen. Die GbR sei nie entstanden, oder sie habe jedenfalls keine geschäftliche Tätigkeit entfaltet.

Es habe auch sonst keine generelle Vereinbarung bezüglich einer Zusammenarbeit zwischen den Parteien gegeben. Zusammengearbeitet habe man lediglich bezogen auf einzelne Geschäfte. Auch Werbekosten seien lediglich fallbezogen geteilt worden, wobei jedoch niemand auf die GbR hingewiesen habe (EU Seite 3).

4.-

Das Landgericht hat die Klageabweisung im wesentlichen folgendermaßen begründet:

4.1

Die Klägerin habe aus dem BGB-Gesellschaftsvertrag (K1) keinen Anspruch auf Auskehrung von anteiligen Maklerprovisionen gegen den Beklagten.

4.1.1.

Es könne offenbleiben, ob die GbR entstanden sei. Denn jedenfalls habe sie keinerlei Tätigkeit mit Wirkung nach außen entfaltet, was sich aus der Aktenlage und den Angaben des vernommenen Zeugen ergebe (EU Seite 4). Sämtliche Geschäfte seien stets über die Einzelfirma des Beklagten abgewickelt worden. Selbst die von der Klägerin erstellten Rechnungen seien in deren eigenem Namen (noch dazu als Immobilienmaklerin freiberuflich) an die Einzelfirma des Beklagten adressiert gewesen; nicht etwa namens der GbR an den Beklagten in dessen Eigenschaft als deren Gesellschafter (EU Seite 4).

Der Zeuge habe zwar angegeben, aus seiner Sicht habe eine Zusammenarbeit zwischen den Parteien in Form einer BGB-Gesellschaft bestanden. An anderer Stelle habe der Zeuge aber angegeben, mit der Umsetzung der BGB-Gesellschaft sei es ihm nicht schnell genug gegangen, und es seien Dinge wie der Außenauftritt nicht überarbeitet worden.

Der Zeuge habe zu der Frage, ob Provisionen zwischen den Parteien geteilt werden sollten, lediglich angegeben, dieses sei „selbstverständlich gewesen“, aber eine konkrete Absprache hierzu nicht benennen können. „Selbstverständlich“ könne eine Teilung schon deshalb nicht gewesen sein, weil der Zeuge es als besonders anerkennenswert hinstellte, dass der Beklagte die Klägerin an der Provision aus einem großen Objekt beteiligt habe, das nur der Beklagte allein vermittelt hatte: Wäre das der vereinbarte Usus der Parteien gewesen, so ließe sich nicht erklären, warum der Zeuge sie ihm „hoch anrechnete“ (EU S. 5).

4.1.2

Die Ansprüche der Klägerin seien auch nicht aus einem etwaigen Wettbewerbsverstoß zu begründen, da der BGB-Gesellschaftsvertrag (K1) kein Wettbewerbsverbot vorsehe.

4.1.3

Auch nach der Geschäftschancen-Lehre ergebe sich ein Anspruch der Klägerin selbst dann nicht, wenn man vom Bestand der GbR ausgehe: Auch dann habe die GbR keinen Anspruch gegenüber dem Beklagten. Denn irgendeine Geschäftschance könne nicht bestanden haben, da die Gesellschaft nie nach außen aufgetreten sei, so dass irgendeine konkrete Geschäftschancen an diese nicht habe herangetragen werden können.

4.2

Der Anspruch ergebe sich auch nicht aus einer gesonderten vertraglichen Vereinbarung.

Die Klägerin habe nicht zur Überzeugung des Landgerichts nachweisen können, dass die Parteien eine Generalvereinbarung getroffen hätten, sämtliche Provisionen hälftig untereinander zu teilen.

Vielmehr ergebe sich das Bild, dass es einzelne Projekte gab, bei denen die erzielte Provision zwischen den Parteien geteilt wurde. Nicht feststellen lasse sich aber eine generelle Absprache dahingehend, dass sämtliche Provisionen, die eine Partei vereinnahmt, zwischen beiden Parteien hälftig geteilt werden solle.

Namentlich die Aussage des Zeugen bestätige, dass eine generelle Zusammenarbeit der Parteien mit einer 50-prozentigen Beteiligung an sämtlichen Einnahmen zu dem streitgegenständlichen Zeitpunkt noch reine „Zukunftsmusik“ gewesen sei. Auch hierhin gehöre die Aussage des Zeugen, wonach der Beklagte einmal die Vermittlung eines 2,2 Millionen Objekts intendiert und sich mit Blick hierauf bereit erklärt habe, die Klägerin im Erfolgsfalle an einer etwaigen Provision zu beteiligen, was der Zeuge ihm hoch anrechne. Ein derartiger Ausspruch betreffend ein Einzelprojekt spiegele deutlich wider, dass die Parteien keine generelle Teilungsabsprache getroffen haben (EU Seite 5).

Nicht zu übersehen sei zwar, dass Hilfstätigkeiten der Klägerin hinter der überwiegenden Mehrzahl der von ihr geltend gemachten Provisionsforderungen stünden, die Klägerin also jedenfalls involviert gewesen sei. Daraus ergibt sich aber kein zwingendes Indiz dafür, was die Parteien im Innenverhältnis vereinbart gehabt hätten mit Blick auf eine dem Beklagten zufließende Provision.

Darum sei auch kein Erkenntnisgewinn daraus zu erwarten, wenn das Landgericht jene Zeugen vernehmen würde, die die Klägerin zu den einzelnen Vermittlungsvorgängen angeboten hatte (EU Seite 5). Es könne unterstellt werden, dass die Klägerin bei den einzelnen Vermittlungsvorgängen beteiligt war, etwa indem sie einen Maklervertrag handschriftlich ausfüllte oder von einem Käufer kontaktiert wurde; aus alledem ergebe sich kein Rückschluss darauf, ob die Parteien im Innenverhältnis eine wie auch immer geartete Vereinbarung getroffen haben.

Für sich genommen naheliegend sei zwar, dass die Klägerin ihre Hilfe nicht unentgeltlich zur Verfügung gestellt habe. Denn immerhin sei die Klägerin selbst als freiberufliche Immobilienmaklerin tätig gewesen (EU Seite 6). Das deute aber nicht darauf hin, dass die Parteien vereinbart haben müssten, die Klägerin werde dadurch vergütet, dass Provisionen generell zwischen den Parteien geteilt wurden. Zudem stehe nicht fest, dass die Klägerin sämtliche Hilfeleistungen für den Beklagten nur entgeltlich habe erbringen wollen. Letzteres sei deshalb zu bezweifeln, weil ohnehin eine enge freundschaftliche Beziehung der Parteien bestand, was sich aus den Angaben der Klägerin selbst und denen des Zeugen ergebe. Hierhin gehöre auch, dass die Familie der Klägerin den Beklagten in einer für diesen schwierigen Zeit unterstützt habe und dass unstreitig „die Beklagte“ (EU Seite 6, meint: die Klägerin) eine von ihr allein verdiente Provision mit dem Beklagten aus freien Stücken geteilt hat. Es sei also nicht völlig lebensfremd, dass die Klägerin den Beklagten eine Zeit lang bei dessen Projekten aus reiner Nächstenliebe unterstützt habe, um diesen wieder auf die Beine zu helfen.

IV.-

Die Berufungsbegründung bringt vor:

1.-

Die GbR der Parteien sei entstanden durch Abschluss des Gesellschaftsvertrags.

Die Erwartung einer Lizenzerteilung durch den Dritten sei keine Bedingung des Vertrags gewesen. Eine Bedingung sei auch schon deshalb nicht wirksam vereinbart, weil der Gesellschaftsvertrag eine Schriftformklausel für Nebenabreden enthalte (BerBegr Seite 3; K 1 § 15).

Dass die Gesellschaft wirksam begründet worden sei, zeige auch die Kündigung durch den Beklagten (K 2), die bei Annahme einer inexistenten GbR jeden Sinnes entkleidet gewesen wäre (BerBegr Seite 3).

Auf den Außenauftritt der GbR komme es für das Entstehen der Rechte und Pflichten der Parteien als Gesellschafter der GbR nicht an (BerBegr Seite 4). Vielmehr habe kraft Gründung der GbR eine Innengesellschaft zwischen den Parteien bestanden. Die Gesellschafter (= die Parteien) seien nach außen hin halt einstweilen im eigenen Namen aufgetreten und hätten derweil den Außenauftritt der Gesellschaft vorbereitet (BerBegr Seite 4). Das habe die Klägerin erstinstanzlich unbestritten vorgetragen; das Landgericht übergehe es.

Das Landgericht erwähne zwar die Hilfstätigkeiten der Klägerin, übergehe damit aber deren erstinstanzlichen Vortrag, dass „diverse der streitgegenständlichen provisionspflichtigen Geschäfte ausschließlich durch sie abgewickelt“ worden seien, wobei jeweils keine bloßen Hilfstätigkeiten ausgeübt wurde (BerBegr Seite 4/5).

Dass die Parteien als GbR-Gesellschafter gemeinsam tätig werden wollten und die Provisionen generell teilen wollten, ergebe sich auch daraus, wie die Parteien über die zu gestaltende Zusammenarbeit korrespondierten. Dazu habe die Klägerin dem Landgericht „umfangreiche Korrespondenz zwischen den Parteien“ vorgelegt (BerBegr Seite 5, Schriftsatz 13.1.2021 Seite 3 = Blatt 140/157 mit dort abgelichteten WhatsApp-Verläufen). Dabei sei es um die „generelle operative Geschäftstätigkeit der Parteien“ gegangen, Akquise und Abwicklung von Verkaufsaufträgen, ferner um die strategische Ausrichtung der Gesellschaft und die organisatorische Ausgestaltung. Diese Korrespondenz belege eindeutig, dass hinter der GbR-Gründung die tatsächliche Abrede der Parteien stand, gemeinsam im Rahmen der gegründeten Gesellschaft auch tätig zu werden.

Daraus folge „jedoch auch zwangsläufig“, dass die Klägerin hälftig an den Provisionserlösen zu beteiligen war (BerBegr Seite 5).

Die Aktivitäten seien auch deckungsgleich mit dem in K1 vereinbarten Unternehmensgegenstand (BerBegr Seite 5) und der prozentualen Beteiligung beider Gesellschafter (ausdrücklich 50 %) sowie der hieran anknüpfenden Zuweisung von Gewinn und Verlust sowie Auseinandersetzungsguthaben (BerBegr Seite 6, K1 § 4 Abs. 2).

Das Landgericht verkenne, dass der Gesellschaftsvertrag als Urkunde die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit für sich habe.

Soweit das Landgericht aus sonstigen Umständen „nicht feststellen“ zu können meine, dass es eine generelle Absprache zur hälftigen Provisionsteilung gab, habe es einer solchen nicht separat bedurft, da sie bereits in dem Vertrag K1 getroffen und für die Parteien als Innengesellschaft bindend geworden sei.

1.2

Zu Unrecht verwerfe das Landgericht auch die auf die „Geschäftschancenlehre“ gestützte Argumentation der Klägerin:

Auch ohne ausdrückliche Regelung eines Wettbewerbsverbots bestehe eine Treuepflicht der Gesellschafter, Geschäftschancen der GbR nicht dadurch zu vereiteln, dass sie solche gar nicht erst zur Entstehung gelangen ließen (BerBegr Seite 7/8). Der Beklagte habe als geschäftsführender Gesellschafter der GbR (K1 § 5) die Pflicht zur uneigennützigen Geschäftsführung gehabt und daher der GbR nicht durch eigene Geschäfte Konkurrenz machen dürfen.

2.-

Aber selbst bei Ausblendung des Gesellschaftsvertrags und der innergesellschaftlichen Pflichten habe das Landgericht annehmen müssen, dass die Parteien eine Abrede zur hälftigen Teilung der Provisionen getroffen haben.

Das habe der Zeuge nämlich bekundet, und den Gegenbeweis habe der Beklagte nicht erbracht (BerBegr Seite 9).

IV.-

Die Berufungserwiderung hält dagegen:

Das angegriffene Urteil sei zutreffend.

1.-

Der GbR-Vertragstext (K 1) sei ein Scheingeschäft gewesen (BerErw S. 5), was der Beklagte schon erstinstanzlich vorgetragen habe.

Der Dritte habe einen Lizenzvertrag mit der Klägerin alleine wegen deren ungeordneter Vermögensverhältnisse (Stichwort: „SCHUFA-Auskunft“) nicht schließen wollen, was die Parteien bewogen habe, dem Dritten eine GbR als Partnerin des Lizenzvertrages anzudienen.

Zwischen den Parteien sei klar gewesen, dass der Vertrag K1 hinfällig sei, wenn eine Lizenzpartnerschaft mit dem Dritten nicht zustande komme.

Was die Klägerin als Anlage K1 vorliege, sei auch nicht authentisch. Das Original habe die Klägerin entgegen § 420 ZPO nicht vorgelegt und sei daher beweisfällig.

Unbestritten geblieben sei in erster Instanz auch der Vortrag des Beklagten, wonach die Klägerin ihm auf Frage nach dem Verbleib des Vertrags-Schriftstückes geantwortet hätte, dieses habe sie vernichtet (BerErw S. 5 -> Schriftsatz 7.4.2020, Seite 5).

Die „Kündigung“ des Beklagten (K2) verstehe sich ausdrücklich als „höchst vorsorglich“ und erlaube daher nicht den Schluss, dass der Beklagte bei der Kündigung von einer bestehenden GbR ausgegangen sei (BerErw Seite 6).

Bereits im Kündigungsschreiben habe der Beklagte mitgeteilt, dass er nicht vom Bestehen der GbR ausgehe, sondern es bereits am gemeinsamen Willen gefehlt habe, eine GbR ins rechtsgeschäftlichen Leben zu bringen, wenn die Lizenzvereinbarung mit dem Dritten nicht zustande käme (BerErw S. 6).

Auch eine Innengesellschaft sei nicht entstanden. In Wahrheit seien die Parteien nicht durch die Absicht verbunden gewesen, mit einem gemeinsamen Zweck auf eine gewisse Dauer zusammenzuarbeiten. Eine Innengesellschaft entstehe auch nicht etwa dadurch, dass die Klägerin durch Hilfeleistungen sich an der Einzelfirma des Beklagten beteiligt habe.

2.-

Unbehelflich argumentiere die Klägerin mit einem Wettbewerbsverbot.

Das im Vertrag K1 unstreitig nicht vereinbarte Wettbewerbsverbot könne nicht auf dem Umweg über eine allgemeine Treuepflicht herbeiargumentiert werden.

Davon unabhängig führe ein (probehalber unterstelltes) Wettbewerbsverbot nicht dazu, dass sämtliche Geschäfte, die ein Gesellschafter – diesem zuwiderhandelnd – abschlösse, automatisch als Geschäfte der GbR anzusehen wären.

Ein Wettbewerbsverbot gebe es nur bei Personenhandelsgesellschaften (BerErw S. 3, § 112 Abs. 1 HGB), während die hier diskutierte GbR kein Handelsgewerbe betreibe. Im Recht der GbR gebe es kein gesetzliches spezifisch gesellschaftsrechtliches Wettbewerbsverbot.

Auch eine gesellschaftliche Treuepflicht habe den Parteien, die beide als selbstständige Immobilien Makler tätig waren und sind, nicht verboten, abseits der GbR eigene Projekte zu verfolgen. Die Klägerin behaupte ja auch nicht, dass die Parteien beabsichtigt hätten, ihre jeweiligen Immobilienmaklerbüros zusammenzuführen und als BGB-Gesellschaft weiterzuführen. Der Gesellschaftsvertrag (K 1) sei auch sonst nie in Vollzug gesetzt worden.

3.-

Die Argumentation auf der Basis der Geschäftschancen-Lehre scheitere daran, dass §§ 112, 113 HGB zwar für die OHG, nicht aber für die GbR heranzuziehen seien. Im Übrigen stehe § 112 Abs. 2 und § 113 Abs. 3 HGB entgegen: Der Klägerin sei die Wettbewerbssituation unstreitig bekannt gewesen, ferner dass der Beklagte seine Tätigkeit in eigener Firma als selbstständige Immobilienmakler führt. Zudem seien die Ansprüche, wenn man sie als bestehend unterstelle, nach § 113 Abs. 3 HGB schon verjährt (BerErw S. 4,) worauf sich die Beklagte bereits erstinstanzlich berufen habe.

Vor allem aber sehe das Landgericht richtig, dass die Geschäftschancen-Lehre an Chancen anknüpft, die der Gesellschaft zunächst konkret entstanden sein müssen, bevor der Gesellschafter sie vereitelt, indem er sie zu seinem eigenen Einzelvorteil abschöpft (BerErw S. 8). Hingegen sei der Gesellschafter (wenn ihn – wie hier – kein Wettbewerbsverbot trifft) frei darin, eigene Chancen zu suchen und zu schaffen, und nicht gehalten, dies nur für die Gesellschaft zu tun.

4.-

Nach alledem sei der Eindruck des Landgerichts richtig, dass die Parteien als Betreiber zweier Immobilienbüros nur fallweise zusammengearbeitet haben, jedoch keine Gesellschaft bürgerlichen RechtsBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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betrieben hätten und ihre getrennten Tätigkeiten nie zu einer gemeinsamen Tätigkeit zusammengelegt hätten.

Dies – und nicht die Annahmen der Klägerin – werde auch gestützt durch die Aussage des Zeugen (BerErw S. 9), die das Landgericht richtig eingeordnet habe. Der Zeuge (= Ehemann der Klägerin) habe auf suggestive Frage des Klägervertreters nach einer „Absprache zur hälftigen Teilung von Provisionen“ geantwortet, das sei „von Anfang an so praktiziert worden“. Das passe zu einem mitgebrachten Text, von dem der Zeuge zu Beginn seiner Vernehmung abgelesen habe.

Die spontanen Antworten des Zeugen hätte jedoch gezeigt, dass eine hälftige Generalteilung ersichtlich nicht gelebt wurde: Erstens sei es dem Zeugen „mit der Umsetzung der BGB-Gesellschaft nicht schnell genug“ gegangen – was zeige, dass es die GbR noch nicht gegeben habe. Zweitens habe der Zeuge keine konkrete Absprache der Parteien zur Provisionsteilung schildern können. Drittens habe er – mit dem Ton der Anerkennung gegenüber dem Beklagten – hervorgehoben, wie „generös“ es vom Beklagten sei, dass er die Klägerin an Provisionserlösen beteiligt hat, die er durch Vermittlung des allein vom Beklagten eingefädelten 2,2-Mio-Objekts erzielte; denn dieser Vorgang wäre nicht als Besonderheit hervorzuheben, wenn die Parteien sich ohnehin verpflichtet hätten, wechselseitig ihre Provisionserlöse miteinander zu teilen. Das sehe das Ersturteil völlig richtig.

IV.-

Die Berufung ist ohne Erfolgsaussicht.

Das strukturiert begründete Urteil des Landgerichts Kempten leidet nicht an Rechtsfehlem (§ 546 ZPO). Die zugrunde zu legenden Tatsachen (§ 529 ZPO) gebieten keine andere Entscheidung.

1.-

Es kann offenbleiben, ob der GbR-Vertrag (K 1) der Parteien nur pro forma vorgetäuscht und deswegen ein Scheingeschäft (§ 117 BGB) war. Dass die Anlage K 1 kein Original ist und deshalb die Beweiswirkung des § 416 ZPO nicht eintritt, spielt für sich genommen ebenfalls keine Rolle. Auch ist nicht Einzelheiten nachzugehen betreffend die Frage, wie weit die Parteien darin gediehen sind, ihre „generelle operative Geschäftstätigkeit“ zu entwerfen, „Akquise und Abwicklung von Verkaufsaufträgen“ zu regeln sowie die GbR strategisch auszurichten und organisatorisch auszugestalten.

Es kann unterstellt werden, dass hinter der GbR-Gründung die tatsächliche Abrede der Parteien stand, gemeinsam im Rahmen der gegründeten Gesellschaft irgendwann einmal tatsächlich tätig zu werden. Daraus folgt jedoch weder „zwangsläufig“, noch in sonstiger Weise, dass die Klägerin hälftig an den Provisionserlösen des Beklagten zu beteiligen wäre. Es hilft der Klägerin nicht, dass die Aktivitäten der Parteien in ihren Einzel-Unternehmen deckungsgleich mit dem in K1 vereinbarten Unternehmensgegenstand waren und dass beide GbR-Gesellschafter nach K 1 § 4 Abs. 2 entsprechend ihrer hälftigen Beteiligung an Gewinn und Verlust der GbR partizipieren sollten.

Denn mit alldem besagt der GbR-Vertrag lediglich, dass die Parteien, soweit die GbR ein Vermittlungsgeschäft abschließt und darauf von Dritten Provision kassiert, solche Provisionen teilen – was nach der Kündigung nur im Wege einer Auseinandersetzungsbilanz möglich erschiene, die die Klägerin ohnehin nicht aufgestellt hat.

Soweit die Parteien hingegen weiter auf eigene Rechnung Immobilien vermittelten und daraus Provisionen einnahmen, blieben diese ihnen jeweils allein zugewiesen. Das folgt daraus, dass den Parteien diese Tätigkeit auf eigene Rechnung nicht verboten war.

1.1

Es war in K 1 unstreitig kein Konkurrenzverbot vereinbart.

1.2

Ein Konkurrenzverbot ergab sich auch nicht im Wege der Treuepflicht daraus, dass der Beklagte geschäftsführender Gesellschafter der GbR war:

Zwar gilt allgemein, dass die geschäftsführenden Gesellschafter einer GmbH verpflichtet sind, der Gesellschaft bestimmte Geschäftschancen zu belassen und sie nicht im eigenen Interesse wahrzunehmen (BeckOK HGB/Klimke HGB § 112 Rn. 31-34 m.w.N.). Das soll auch für den geschäftsführenden Gesellschafter einer GbR gelten (MüKo-Schäfer Rn 242 zu § 705): Auch ohne ausdrückliche Vereinbarung gehe dessen Treuepflicht dahin, „im Bereich der uneigennützigen Mitgliedschaftsrechte die eigenen Interessen hinter diejenigen der Gesellschaft zurückzustellen“ und deshalb insbesondere „Geschäftschancen der Gesellschaft nicht für eigene Zwecke wahrzunehmen“, sondern „der Gesellschaft zugeordnete Geschäftschancen für diese zu nutzen“.

1.3

Das Landgericht hat vorliegend aber richtig gesehen, dass die Parteien die intendierte GbR nicht in Vollzug gesetzt haben,

– weder als Außengesellschaft (hier ist der fehlende Außenauftritt augenfällig, über dessen Vorbereitung die Parteien über Textnachrichten wenig strukturiert korrespondiert haben),

– noch auch nur als einstweilige Innengesellschaft.

Vielmehr haben die Parteien, wie das Landgericht überzeugend feststellt, ihre jeweilige angestammte Tätigkeit weitergeführt und dabei lediglich im Einzelfall zusammengearbeitet.

So hat das Landgericht – von der Berufung unangegriffen – festgestellt, dass sämtliche streitgegenständlichen Geschäfte über die Einzelfirma des Beklagten abgewickelt wurden und die Klägerin ihre Rechnungen an diese adressiert hat – ohne jeden Bezug zu einer zwischen den Parteien vorgestellten GbR (EU S. 4).

Auch ist die Rechnung des Beklagten vom 26.6.2017 über eine „Werbekostenbeteiligung 1.3.2017 – 31.7.2017“ (Anlage „ASt 10“) an die Klägerin gerichtet und in keiner Weise auf eine (auch nur im Innenverhältnis wirkende) GbR bezogen. Dasselbe gilt für eine Beteiligung der Klägerin an Werbekosten und „sonstigen Ausgaben“ aufgrund Rechnung des Beklagten vom selben Tage (Anlage „ASt 11“).

Die Schilderung des Geschäftsfreundes J… (Anlage ASt13) stützt diesen Befund, soweit darin berichtet wird, die Parteien hätten eine „gemeinsame Zusammenarbeit für den Vertrieb von Immobilien im Westallgäu“ erörtert: Eine solche Erörterung wäre überflüssig gewesen, wenn die Parteien den Vertrag K 1 einstweilen als Innengesellschaft hätten vollziehen wollen; dann nämlich wäre die „Zusammenarbeit“ für den Vertrieb von Immobilien bereits eine blanke Selbstverständlichkeit gewesen, und zwar nicht nur im „Westallgäu“, sondern überall.

Führte der Beklagte als Inhaber seiner Firma „N… Immobilen“ in einer E-mail-Nachricht (ASt 17) als weitere Geschäftsführerin (neben ihm selbst) die Klägerin auf, so indiziert das nicht den Vollzug der in K 1 beschriebenene „BGB-Gesellschaft unter der Firma N… & K… Immobilien GbR“. Es passt auch nicht restlos zur These der Klägerin, wonach die Gesellschafter (= die Parteien) nach außen hin einstweilen im eigenen Namen aufgetreten seien und derweil lediglich im Innenverhältnis als GbR gearbeitet haben: Bei einer so verstandenen Aufteilung ergäbe es keinen Sinn, die Klägerin nach außen als Mitgeschäftsführerin der Einzelfirma des Beklagten auszugeben.

Dass die Gesellschaft nicht in Vollzug gesetzt wurde, wird nicht zuletzt daran erkennbar, wie die Klägerin den hiesigen Prozess führt. Die Klägerin greift mit der Klage eine Reihe von Geschäften mit Dritten heraus und verlangt daraus einen Anteil. Das wäre per se nicht gangbar, solange man zwischen den Parteien eine bestehende und in Vollzug gesetzte GbR nach der Beschreibung K 1 annähme; denn deren Überschüsse wären unter Einbeziehung aller Geschäfte beider Parteien gemäß § 7 (K 1 Seite 4) festzustellen. Sie wären nur im Rahmen von § 9 Abs. 1 (K 1 S. 5) entnehmbar („nach Abzug aller Vorabentnahmen und der Betriebskostenrückstellung“). Und erst ein nach diesem Schema errechneter Betrag wäre dann zu verteilen (§ 9 Abs. 2). Hätte es zwischen den Parteien – vor der vorsorglichen Kündigung des Beklagten – eine in Vollzug gesetzte GbR gegeben, dann wäre diese mit einer Auseinandersetzungsbilanz aufzulösen. Die Klage unternimmt solche Berechnungen nicht, sondern zieht allein einzelne vom Beklagten betriebene Geschäfte heran und betreibt nicht die in K 1 vorgesehene gesellschaftsrechtliche Teilung.

Zusammenfassend sieht das Landgericht zutreffend: Haben die Parteien bei einzelnen Projekten gemeinsam gearbeitet und fallweise Erlöse geteilt, so ist das nicht der Vollzug einer umfassenden Zusammenarbeit als BGB-Gesellschafter, die K 1 beschreibt.

2.-

Die Berufung kann auch nicht etwa deshalb Erfolg haben, weil die Parteien – soweit K 1 als wirksam gesehen wird – immerhin als verpflichtet gesehen werden könnten, die GbR-Tätigkeit aufzunehmen und dabei nicht vorab den Außenauftritt zu bewerkstelligen, sondern vorab als einstweilige Innen GbR alle Geschäfte der beiden Einzelfirmen gedanklich in einer Art „Pool“ der GbR aufzunehmen.

Für eine so verstandene Verpflichtung bestimmt der Vertrag K 1 gleichwohl keine Frist, bis zu deren Ablauf die GbR in Vollzug zu setzen sei. Der Vertrag kann andererseits auch nicht dahin verstanden werden, es solle die GbR „sofort“ wirksam werden.

Das folgt schon daraus, dass die Parteien selbst auf die Frage, ab welchem Zeitpunkt die GbR überhaupt gegründ et sein soll, keine Sorgfalt verwendet haben. Es steht kein bestimmtes Datum fest, zu dem der GbR-Vertrag geschlossen sein soll: Das Original hat die Klägerin unstreitig vernichtet und im Prozess nicht vorgelegt. Die beiden Versionen, die nebeneinander jeweils als Gerichtsanlage (hier „Anlage 3 zur Klage“, da „K 1“) vorgelegt sind, zeigen voneinander abweichende Daten. Dahingestellt bleiben kann, dass auch der Ort („Friedrichshafen“) nach dem Vorbringen der Klägerin falsch ist, da der Vertrag K 1 in Hamburg anlässlich eines Treffens mit dem Lizenzgeber in spe unterschrieben wurde, dessen Lizenz (unstreitig zumindest) den Anstoß zu der Idee der in K 1 beschriebenen GbR geliefert hatte.

Dem Vertrag in Verbindung mit den unstreitigen Einzelumständen lässt sich auch sonst kein Zeitpunkt entnehmen, zu dem die Parteien die GbR in Vollzug zu setzen gedachten, weder bezüglich des Außenauftritts noch bezüglich der Innen-Komponente.

3.-

Da die GbR (K 1) hiernach weder zu arbeiten begonnen hat noch die Parteien sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt verpflichtet hatten, sie auch nur im Innenverhältnis in Vollzug zu setzen, konnten der GbR – wie das Landgericht zutreffend feststellt – auch keine Geschäftschancen zuwachsen, die „ihr zugeordnet“ gewesen wären. Nicht vorgetragen ist andererseits, dass jemand der GbR (als solcher) gezielt ein Angebot für ein Geschäft gemacht hätte, das erst der Beklagte vereitelt hätte. Vielmehr meint die Berufung, darauf komme es nicht an. Dem ist nicht zu folgen, da der nicht in Vollzug gesetzten GbR irgendwelche abstrakten Chancen ebensowenig winkten wie konkrete Angebote.

4.-

87

Das Landgericht hat – somit folgerichtig – geprüft, ob die Parteien außerhalb des intendierten GbR-Betriebs und der dafür getroffenen Vereinbarungen aus dem GbR-Vertrag (K 1) eine Generalabsprache hatten, alle Provisionen hälftig zu teilen, die jede/r einzelne von ihnen aus seinen auf eigene Rechnung durchgeführten Immobilienvermittlungen hatte.

88

Diese Frage hat das Landgericht überzeugend verneint.

89

Beweisbelastet war insoweit allein die Klägerin.

90

Das Landgericht musste sich insbesondere durch die Aussage des Zeugen nicht von der „Generalteilungs-These“ der Klägerin überzeugen lassen.

91

Die Angabe, die Generalteilung sei „von Anfang an praktiziert“ worden, konnte schon deshalb nicht stimmen, weil die Klägerin mit der Klage gerade geltend macht, dass die Teilung betreffend etlicher Vermittlungsprojekte des Beklagten noch nicht vollzogen ist.

92

Die Bedenken des Landgerichts sind ferner nachvollziehbar mit Blick auf die spontanen Äußerungen des Zeugen: War es großzügig vom Beklagten, die Klägerin an der Provision aus einem allein von ihm vermittelten großen Objekt zu beteiligen, so spricht das ganz entscheidend gegen die These, eine solche Beteiligung sei ohnehin generell vereinbart gewesen: Denn diesfalls wäre die Beteiligung nicht „generös“, sondern schlicht „selbstverständlich“ erschienen. Zugleich spricht dies gegen die Annahme, als ob die Parteien ab einem bestimmten Zeitpunkt die Gesellschaft in Vollzug gesetzt oder sich hierzu auf einen bestimmten Zeitpunkt verpflichtet hätten.

C.- Frist:

93

Hierzu kann sich die berufungsführende Seite, soweit noch beabsichtigt, äußern bis zum 25.9.2023

94

Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).

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