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OLG Stuttgart, Urteil vom 04.07.2023 – 6 U 92/20

Dienstag, 4. Juli 2023

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persönliche Haftung
Gesellschafter I persönliche Erfüllung

§ 93 InsO

1. Soweit den Gesellschafter eine persönliche HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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für die vertraglich begründeten Verbindlichkeiten der Gesellschaft trifft, kann der Vertragspartner diese Ansprüche im Falle der Insolvenz der Gesellschaft gemäß § 93 InsO nicht durchsetzen. Die Vorschrift gilt auch für die unbeschränkt persönlich haftenden Gesellschafter einer GbR und bewirkt, dass die persönliche HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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eines Gesellschafters für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft während der Dauer des Insolvenzverfahrens nur vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden kann.

2. Der Gesellschafter kann dem Vertragspartner die Durchsetzungssperre nach § 93 InsO jedoch nicht entgegenhalten, wenn er nach Rechtsscheingrundsätzen persönlich für die Erfüllung des Vertrages einzustehen hat.

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 09.01.2020 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Dieses sowie das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Streitwert des Berufungsverfahrens: bis 6.000 €

Gründe

I.

Von der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird gemäß wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

1.

Die Klägerin nimmt die Beklagte zu Recht persönlich wegen der Restschuld aus dem Leasingvertrag vom 25.09.2013 in Anspruch.Randnummer4

Dabei kann zugunsten der Beklagten als wahr unterstellt werden, dass zum Zeitpunkt des Abschlusses des streitgegenständlichen Leasingvertrages die Gaststätte A. von der Y. & T. GbR betrieben wurde. Unabhängig davon haftet die Beklagte persönlich für die Erfüllung des Vertrages, ohne dass dem das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft entgegenstehen würde.

a)

Unterstellt, die Gesellschaft bestand im September 2013 bereits, ist der Leasingvertrag nach den Auslegungsgrundsätzen zur personellen Zuordnung unternehmensbezogener Rechtsgeschäfte allerdings nicht mit der Beklagten, sondern mit der Gesellschaft zustande gekommen.Randnummer6

Ob eine Willensklärung gemäß § 164 Abs.1 BGB in Vertretung eines anderen oder in eigenem Namen abgegeben ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei spricht die Tatsache, dass ein Geschäft unternehmensbezogen ist, im Zweifel dafür, dass das Geschäft mit dem Inhaber des jeweiligen Unternehmens abgeschlossen wird (BGH, Teilurteil vom 18.12.2007 – X ZR 137/04, Rn. 11; MüKoBGB/Schubert, 8. Aufl. 2018, BGB § 164 Rn. 120 m. w. N.). Wie die Beklagte zutreffend geltend macht, gilt das auch dann, wenn der Handelnde bei Abgabe seiner Willenserklärung aus objektiver Sicht des Erklärungsempfängers erklärt, alleiniger Inhaber des in Bezug genommenen Unternehmens zu sein und damit zum Ausdruck bringt, es liege keine rechtsgeschäftliche Vertretungssituation, sondern ein Handeln in eigenem Namen vor. Entscheidend für das Vorliegen eines unternehmensbezogenen Geschäfts ist, dass der Handelnde den Vertrag erkennbar für das Unternehmen und nicht für sich selbst abschließen wollte. Ob die andere Seite ihn für den Inhaber des Unternehmens, in dessen Rahmen das Geschäft geschlossen wurde, und damit als seinen Vertragspartner ansehen durfte, ist für das Vorliegen eines unternehmensbezogenen Geschäfts ohne Bedeutung (BGH, Urteil vom 18. März 1974 – II ZR 167/72BGH, Urteil vom 24. Juni 1991 – II ZR 293/90 –, Rn. 5, juris).Randnummer7

Angesichts der eindeutigen Bezugnahme des Leasingantrags auf das unter der Bezeichnung A. geführte Unternehmen wurde die Gesellschaft als Trägerin des Unternehmens Leasingnehmerin. Dass die Beklagte als Rechtsform ihres Unternehmens „Einzelfirma“ angegeben hat, steht dem nicht entgegen.

b)

Soweit die Beklagte als Gesellschafterin eine persönliche HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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für die vertraglich begründeten Verbindlichkeiten der Gesellschaft trifft (§ 705 BGB i. V. m. § 128 HGB analog), könnte die Klägerin diese Ansprüche wegen der Insolvenz der Gesellschaft gemäß § 93 InsO nicht durchsetzen. Die Vorschrift gilt auch für die unbeschränkt persönlich haftenden Gesellschafter einer GbR (Schmidt in: Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 10. Aufl., § 93, Rn. 6) und bewirkt, dass die persönliche HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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eines Gesellschafters für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft während der Dauer des Insolvenzverfahrens nur vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden kann.

c)

Die Beklagte kann der Klägerin die Durchsetzungssperre nach § 93 InsO jedoch nicht entgegenhalten, weil sie nach Rechtsscheingrundsätzen persönlich für die Erfüllung des Leasingvertrages einzustehen hat.

aa)

Neben der vertraglichen Haftung des Unternehmens aufgrund der personellen Zuordnung eines unternehmensbezogenen Rechtsgeschäfts kommt zusätzlich die persönliche HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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desjenigen in Betracht, der selbst einen Rechtsschein für die Stellung als Vertragspartner gesetzt hat (BGH vom 31. Juli 2012 – X ZR 154/11 –, Rn. 12).

Die Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, dass diese bereits in der Hinweisverfügung vom 16.09.2021 zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs insofern eine andere Sachverhaltsgestaltung betrifft, als der dort nach Rechtsscheingrundsätzen haftende handelnde Vertreter nicht Gesellschafter der das Unternehmen tragenden Gesellschaft war. Die Grundsätze der Rechtsscheinhaftung sind nach der Rechtsprechung aber nicht auf diese Fallgestaltung beschränkt, sondern gelten allgemein. Hat der für das Unternehmen Handelnde durch sein Verhalten den Eindruck erweckt, er selbst sei dessen Inhaber, so hat er für die Vertragserfüllung bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen einer Rechtsscheinhaftung schon aus diesem Grunde persönlich einzustehen (BGH, Urteil vom 24. Juni 1991 – II ZR 293/90 –, Rn. 7, juris) und muss sich gegenüber dem auf den damit zurechenbar gesetzten Schein gutgläubig Vertrauenden so behandeln lassen, als entspräche der Schein der Wirklichkeit (BGH, Urteil vom 15. Januar 1990 – II ZR 311/88 –, Rn. 14, juris).

bb)

Die Beklagte hat zurechenbar den Rechtsschein gesetzt, sie selbst sei als Einzelunternehmerin Inhaberin der Gaststätte A.Randnummer13

Bereits durch die Unterzeichnung des Leasingantrags, in dem das Unternehmen als „Einzelfirma“ bezeichnet ist, hat die Beklagte den Anschein erweckt, alleinige Inhaberin des A. zu sein. Hinzukommt, dass sie mit der Klägerin unter der Bezeichnung „G.Y., A.“ bereits im Jahr 2009 einen Leasingvertrag als Einzelunternehmerin geschlossen hatte. Ohne Hinweis auf die geänderte Rechtsform des Unternehmens durfte die Klägerin davon ausgehen, dass sich daran nichts geändert hatte.

cc)

Es steht nicht fest, dass die Beklagte diesen Rechtsschein im Rahmen der Vertragsverhandlungen mit der Klägerin korrigiert hat. Zwar stand der Beklagten der Nachweis offen, dass der Klägerin die wahren Verhältnisse bekannt waren (vgl. BGH, Urteil vom 15. Januar 1990 – II ZR 311/88 –, juris). Diesen Beweis hat sie aber nicht geführt.

(1)

Die Vernehmung des Zeugen T. hat die Behauptung der Beklagten, der Zeuge habe den Verhandlungsgehilfen der Klägerin, den Zeugen M., über die Hintergründe des Geschäfts im Sinne eines Leasingvertrages mit der GbR als Betreiberin der genannten Gaststätte vollumfänglich aufgeklärt, nicht bestätigt. Der Zeuge hat vielmehr erklärt, es sei nicht darüber gesprochen worden, dass anders als bei dem vorausgegangenen Leasingvertrag die Gesellschaft Leasingnehmerin werden solle.Randnummer16

Die Vernehmung hat auch nicht ergeben, dass vor dem Abschluss des streitgegenständlichen Leasingvertrages eine Gewerbeanmeldung übergeben wurde, aus der sich unter Umständen ergeben hätte, dass das Unternehmen von der Gesellschaft geführt wurde.Randnummer17

Soweit der Zeuge bekundet hat, M. habe bei jedem Leasingvertrag eine Bilanz verlangt, kann aufgrund der Angaben des Zeugen T. nicht festgestellt werden, ob gegebenenfalls im September 2013 übergebene Unterlagen einen hinreichend deutlichen Hinweis auf die Gesellschaft als Inhaberin des Unternehmens enthalten haben. Entgegen der im Schriftsatz der Beklagten vom 23.06.2023 geäußerten Auffassung war demnach bei Schluss der mündlichen Verhandlung nicht bereits bewiesen, dass der Unternehmensbezug durch Vorlage einer Bilanz offen gelegt wurde.

(2)

Soweit sich die Beklagte zum Beweis ihrer Behauptung, es sei bei den Vertragsverhandlungen offen gelegt worden, dass die Gaststätte von der Gesellschaft betrieben werde, auf den Zeugen M. berufen hat, hat sie im Termin vom 23.05.2023 gemäß § 399 ZPO auf dessen Vernehmung zu dieser Frage verzichtet.

(3)

Der ergänzende Vortrag der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, wonach dem Zeugen M. bei Abschluss des streitgegenständlichen Leasingvertrages eine Bilanz von 2012 übergeben worden sei, aus der sich ergebe, dass die Lokale von einer GbR betrieben worden seien, und der damit verbundene Antrag, die Zeugen M. und H. zu dieser Behauptung zu hören, verhilft der Berufung nicht zum Erfolg.

(a)

Die bloße Aushändigung der von der Beklagten mit Schriftsatz vom 23.06.2023 vorgelegten Bilanz aus dem Jahr 2012 wäre nicht geeignet gewesen, den bestehenden Rechtsschein, die Beklagte schließe den Vertrag als Einzelunternehmerin, auszuräumen. Die Bilanz zum 31.12.2012 betrifft nach dem Vortrag der Beklagten die „T. Y. GbR Gastronomie S.“. Ihr konnte nicht entnommen werden, was Gegenstand dieses Unternehmens war. Insbesondere ging aus ihr nicht hervor, dass diese Gesellschaft auch die Gaststätte A. betreibt. Selbst wenn die Klägerin die Bilanz zur Kenntnis genommen hätte, wäre aus ihrer Sicht ohne ergänzende klarstellende Erläuterung nicht ausgeschlossen gewesen, dass die Bilanz lediglich zum Nachweis weiterer Einnahmequellen der Beklagten dienen sollte, die Beklagte das A. aber weiterhin als Einzelunternehmerin führt, und darauf hätte die Klägerin ohne die hier unterbliebene mündliche Erläuterung durch die Beklagte oder den Zeugen T. weiterhin vertrauen dürfen.

(b)

Unterstellt, die bloße Aushändigung der Bilanz würde genügen, den von der Beklagten veranlassten Rechtsschein zu beseitigen, ist das diesbezügliche Vorbringen gemäß §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO als verspätet zurückzuweisen.Randnummer22

Die Beklagte hat erst in der mündlichen Verhandlung vom 23.05.2023 aufgrund der Aussage des Zeugen T. die Behauptung aufgestellt, bei den Vertragsgesprächen sei eine Bilanz übergeben worden, die die Gesellschaft als Unternehmensträgerin des A. ausgewiesen habe.Randnummer23

Sie wäre gehalten gewesen, diesen Vortrag bereits innerhalb der Berufungsbegründungsfrist (§§ 530, 296 Abs. 1 ZPO) in den Prozess einzuführen. Die Beklagte hat das Urteil des Landgerichts mit der Begründung angegriffen, entgegen der Auffassung des Landgerichts sei für die Klägerin erkennbar gewesen, dass der Leasingvertrag von der Beklagten im Namen der die Gaststätte A. betreibenden GbR geschlossen werden sollte. Dies ergebe sich aus den Vertragsunterlagen und daraus, dass dem Verkaufsberater M. bei den Verhandlungen erklärt worden sei, dass das Restaurant A. von der Gesellschaft betrieben werde. Der Berufungsführer hat gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 ZPO innerhalb der Frist zur Berufungsbegründung die Umstände zu bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt, ferner konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Danach wäre die Beklagte gehalten gewesen, innerhalb der Berufungsbegründungsfrist nach § 520 ZPO vollständig zu den Umständen vorzutragen, aus denen sich ergeben konnte, dass der Bezug zur Gesellschaft dem Zeugen M. bei den Vertragsverhandlungen offen gelegt wurde.Randnummer24

Die Zulassung des neuen Vorbringens würde den Rechtsstreit verzögern. Die Beklagte hat den neuen Vortrag der Beklagten zur Vorlage einer Bilanz bei den Vertragsgesprächen, durch die die Gesellschaft als Unternehmensträger ausgewiesen worden sei, im nachgelassenen Schriftsatz vom 13.06.2023 wirksam bestritten. Die Berücksichtigung des Vorbringens der Beklagten würde deshalb einen weiteren Termin zur Beweisaufnahme durch Vernehmung der Zeugen M. und H. erforderlich machen.Randnummer25

Nachdem die Klägerin den Vortrag der Beklagten zur Vorlage einer Bilanz bei den Vertragsgesprächen bereits im Termin als verspätet gerügt hat und die Möglichkeit einer Zurückweisung des Vorbringens mit den Parteien erörtert worden ist, wäre es Sache der Beklagten gewesen darzulegen, warum der Berufungsvortrag verspätet erfolgt ist. Gründe, die den nicht fristgerechten Berufungsvortrag entschuldigen könnten, sind jedoch nicht dargetan. Insbesondere würde es die Beklagte nicht entlasten, sollte sie von der Darstellung des Verlaufs der Vertragsgespräche und der dabei erfolgten Übergabe einer Bilanz durch den Zeugen T. erst bei seiner Vernehmung erfahren haben. Die Parteien haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände wahrheitsgemäß und vollständig abzugeben (§ 138 Abs. 1 ZPO). Deshalb oblag es der Beklagten den Sachverhalt, soweit er in ihren eigenen Verantwortungsbereich fällt, aufzuklären und sich bei dem von ihr als Verhandlungsgehilfen eingeschalteten Zeugen T. zu erkundigen, um vollständig vortragen zu können.Randnummer26

Die Voraussetzungen für eine Zurückweisung des neuen Vorbringens der Beklagten gemäß §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO sind danach gegeben.

dd)

Da die Beklagte in der Vergangenheit bereits als Einzelunternehmerin einen Leasingvertrag mit der Klägerin geschlossen hatte und durch Unterzeichnung des Leasingantrags vom 25.09.2013 die Angabe, sie sei Einzelunternehmerin, aus Sicht der Klägerin bestätigt hat, durfte die Klägerin darauf vertrauen, den Vertrag mit der Beklagten persönlich geschlossen zu haben. Dieses Vertrauen hat die Klägerin durch die gerichtliche Geltendmachung vertraglicher Erfüllungsansprüche gegen die Beklagte betätigt.

ee)

Folge der Rechtsscheinhaftung ist, dass sich die Klägerin keine Beschränkungen bei der Rechtsverfolgung entgegenhalten lassen muss, die nicht bestünden, entspräche der veranlasste Rechtsschein der Wirklichkeit. Die Beklagte muss sich deshalb so behandeln lassen, als entspräche der von ihr gesetzte Rechtsschein, den Vertrag als Einzelunternehmerin geschlossen zu haben, der Wirklichkeit. Sie kann der Klägerin nicht unter Hinweis auf ihre lediglich akzessorische Haftung als Gesellschafterin die Durchsetzungssperre nach § 93 InsO entgegenhalten.Randnummer29

Die Haftung der Beklagten aufgrund Rechtsscheins begründet auch nicht lediglich eine subsidiäre Ausfallhaftung. Wenn der wirkliche Unternehmensträger neben demjenigen, der den Rechtsschein zurechenbar verursacht hat, für die Verbindlichkeit einzustehen hat, haften beide dem Vertrauenden gleichrangig als Gesamtschuldner (BGH, Urteil vom 15. Januar 1990 – II ZR 311/88 –, juris).Randnummer30

Einer Inanspruchnahme der Beklagten wegen einer Haftung nach Rechtsscheingrundsätzen steht § 93 InsO nicht entgegen. Die Vorschrift bezieht sich auf Ansprüche aus der gesetzlichen akzessorischen Gesellschafterhaftung und kann nicht auf andere Fälle gesamtschuldnerischer Haftung übertragen werden (BGH, Urteil vom 4. Juli 2002 – IX ZR 265/01 –; BGH, Beschluss vom 20. Juni 2013 – IX ZR 221/12 –, Rn. 2, juris; Schmidt in: Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 10. Aufl., § 93, Rn. 14).

2.

Das Landgericht hat die Höhe der Hauptforderung mit 5.124,52 € sowie die der Nebenforderungen gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bindend festgestellt. Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen sind nicht gegeben. Die Berufung zeigt solche nicht auf und erhebt insoweit auch keine Einwände.

3.

Die Schriftsätze der Klägerin vom 13.06.2023 und der Beklagten vom 23.06.2023 geben keinen Anlass, die Verhandlung wiederzueröffnen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.Randnummer34

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 ZPO sind nicht gegeben.

Schlagworte: Ausfallhaftung der verbleibenden Gesellschafter, Ausgleichshaftung, persönliche Haftung Gesellschafter

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OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.10.2022 – 20 W 16/22

Donnerstag, 13. Oktober 2022

§ 53 Abs 1 Nr 5 Halbs 2 GKG, § 148 AktG

Für die Bemessung des Streitwerts eines Klagezulassungsverfahrens gem. § 148 AktG ist – innerhalb der von § 53 Abs. 1 Nr. 5, Halbs. 2 GKG vorgegebenen Obergrenzen – grundsätzlich der volle Wert der beabsichtigten Ersatzanspruchsklage maßgeblich.

Tenor

1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Festsetzung des Streitwerts im Beschluss der 31. Kammer für Handelssachen – Commercial Court – des Landgerichts Stuttgart vom 15.10.2021 (31 O 73/20 KfH) wird zurückgewiesen.

2. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Der Antragsteller hat als Aktionär der … AG (im Folgenden: Streithelferin) die Zulassung gem. § 148 AktG zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber dem Antragsgegner zu 1 (einem Aufsichtsratsmitglied der Streithelferin) und dem Antragsgegner zu 2 (dem Vorstand der Streithelferin) im Zusammenhang mit dem Abschluss und der Durchführung von Beratungsverträgen begehrt.Randnummer2

In seiner ursprünglich gegen die jetzige Streithelferin als Antragsgegnerin gerichteten Antragsschrift vom 28.10.2020 (S. 2; GA 2) hatte der Antragsteller zunächst beantragt, zuzulassen, dass er folgende Ansprüche der Gesellschaft im eigenen Namen geltend mache: Zahlungsansprüche gegen den jetzigen Antragsgegner zu 1 i.H. von bis zu 488.000,00 €, zumindest aber 180.000,00 €, sowie gegen den jetzigen Antragsgegner zu 2 in noch festzustellender Höhe. Nachdem das Landgericht mit Beschluss vom 25.11.2020 (GA 12 ff.) den Streitwert vorläufig auf 480.000,00 € festgesetzt hatte, hatte der Antragsteller mit Schriftsatz vom 03.12.2020 (GA 17 f.) seine Antragstellung dahingehend „präzisiert“, dass Antragsgegner nunmehr H.-Jo. H. und H.-Jü. D. sowie „Beigeladene“ die Streithelferin seien. Zuletzt hatte der Antragsteller mit weiterem Schriftsatz vom 10.05.2021 (S. 1 f.; GA 113 f.) beantragt zuzulassen, dass er Zahlungsansprüche der Streithelferin gegen die Antragsgegner zu 1 und zu 2 als Gesamtschuldner i.H. von 452.059,00 € zuzüglich Zinsen geltend mache, hilfsweise festzustellen, dass die an den Antragsgegner zu 1 geleisteten Zahlungen i.H. von 452.059,00 € für erbrachte Beratungsleistungen rückforderbar seien sowie dass der Antragsgegner zu 1 diese an ihn geleisteten Zahlungen i.H. von 452.059,00 € zurückzuerstatten habe.Randnummer3

Hinsichtlich des Streitwerts hatte der Antragsteller sodann mit weiterem Schriftsatz vom 20.08.2021 (S. 7 f.; GA 173 f.) maßgeblich darauf abgestellt, dass er mit rund 10 % an der Streithelferin beteiligt sei, weswegen der Streitwert auf 10 % der zuletzt „maximal einzuklagenden beantragten“ Summe von 452.059,00 €, mithin auf 45.205,90 €, festzusetzen sei, hilfsweise – bei Zugrundelegung der Auffassung von Jäckel (in: BeckOK Kostenrecht, Stand: 01.07.2022, § 53 GKG Rn. 18) – höchstens auf die Hälfte jener Summe, d.h. auf 222.029,50 €.Randnummer4

Das Landgericht hat die (Klagezulassungs-) Anträge des Antragstellers mit – diesem am 07.12.2021 zugestellten – Beschluss vom 15.10.2021 (31 O 73/20 KfH; GA 179 ff.) als unzulässig zurückgewiesen und den Streitwert des Verfahrens auf 488.000,00 € festgesetzt.Randnummer5

Zur Begründung seiner Streitwertfestsetzung hat das Landgericht in diesem Beschluss im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Wie sich aus der Verweisung in § 53 Abs. 1 Nr. 5 GKG auf § 3 ZPO ergebe, richte sich die Streitwertfestsetzung im Klagezulassungsverfahren im Ausgangspunkt nach dem mit dem Antrag verfolgten wirtschaftlichen Interesse des Antragstellers, welches sich an dem angekündigten Streitwert der beabsichtigten Klage – hier: 488.000,00 € – orientiere. Soweit die beabsichtigte Klage in ihrer ursprünglichen Fassung bezüglich der Inanspruchnahme des Vorstands unbeziffert gewesen sei, ergäben sich aus der Antragsbegründung keine Anhaltspunkte dafür, dass gegenüber dem Vorstand Beträge über 488.000,00 € hinaus im Raum stehen könnten. Die spätere Reduzierung des Betrages der Hauptforderung auf 452.059,00 € habe wegen § 40 GKG nicht zu einer Ermäßigung des Streitwerts geführt. Ein Abschlag von dem Betrag i.H. von 480.000,00 € sei auch nicht im Hinblick auf den „Vorschaltcharakter“ des Klagezulassungsverfahrens geboten. Denn der „summarische Charakter“ des Klagezulassungsverfahrens beziehe sich lediglich maßgeblich darauf, dass ein auf Tatsachen gestützter Verdacht ausreiche und noch keine Gewissheit über das Bestehen der Ansprüche gefordert werde. Vielmehr habe der Gesetzgeber eine bewusste Entscheidung gegen weitere Erleichterungen für die Minderheitsaktionäre getroffen, um „Fehlanreize“ zu vermeiden, welche darin lägen, dass die Erfolgsaussichten einer Klage für den jeweiligen Antragsteller ohne Kostenrisiken „ausgetestet“ werden könnten (BT-Drucks. 15/5092, S. 23). Anders als bei anderen dem aktienrechtlichen Minderheitenschutz dienenden Verfahren (vgl. etwa § 15 SpruchG) gebe es beim Klagezulassungsverfahren in Bezug auf die potentielle Belastung mit Kosten der Antragsgegnerseite keine den betreffenden Antragsteller begünstigende Sonderregelung. Für eine Analogie sei mangels Regelungslücke kein Raum. Soweit vorgeschlagen worden sei, für die Streitwertfestsetzung im Klagezulassungsverfahren entweder auf einen dem prozentualen Anteil des Antragstellers am Grundkapital entsprechenden Prozentsatz an der geltend gemachten Schadenssumme abzustellen oder aber einen nahezu willkürlich festgelegten Bruchteil anzusetzen, überzeugten beide Ansätze nicht. Insbesondere spreche gegen eine Bewertung des Klagezulassungsantrags entsprechend der individuellen Beteiligungsquote des jeweiligen Antragstellers bereits der Umstand, dass sich dann bei mehreren Zulassungsanträgen verschiedener Antragsteller trotz wirtschaftlicher Identität des verfolgten Anspruchs und trotz erforderlicher Verfahrensverbindung (analog § 148 Abs. 4 Satz 4 AktG) unterschiedliche Streitwerte ergeben würden. Nach alledem entspreche der Streitwert im Klagezulassungsverfahren grundsätzlich dem Streitwert der Klage, um deren Zulassung es gehe, also regelmäßig dem geltend gemachten Anspruch, wobei in einem zweiten Schritt zu berücksichtigen sei, dass der Streitwert gem. § 53 Abs. 1 Nr. 4 GKG grundsätzlich 1/10 des Grundkapitals, höchstens jedoch 500.000 EUR, nicht übersteigen dürfe, sofern nicht die Bedeutung der Sache für die Parteien höher zu bewerten sei. Das im Handelsregister eingetragene Grundkapital der Streithelferin belaufe sich seit der Kapitalherabsetzung von 2012 auf 41.700.000,00 €; 10 % hieraus wären 4,17 Mio. €. Mit dem nun endgültig auf 488.000,00 € festgesetzten Streitwert werde insbesondere auch die Obergrenze von 500.000,00 € nicht über-, sondern unterschritten. Wegen weiterer Einzelheiten der Begründung wird auf den landgerichtlichen Beschluss vom 15.10.2021 Bezug genommen.Randnummer6

Der Antragsteller hatte mit Schriftsatz vom 21.12.2021 (GA 183) sofortige Beschwerde „gegen den Beschluss des Landgerichts Stuttgart zum Aktenzeichen 31 0 73/20 KfH vom 15.10.2021“ eingelegt, welche beim Oberlandesgericht Stuttgart unter dem Aktenzeichen 20 W 15/22 geführt wurde. In weiterer Folge hatte der Antragsteller sein Rechtsmittel mit Schriftsatz vom 21.02.2022 (GA 196 ff.) begründet und im Zuge dessen auf S. 17 f. jenes Schriftsatzes (GA 212 f.) unter „III. Kostenentscheidung“ ausgeführt, dass die Kostenentscheidung des Landgerichts ebenfalls zur Überprüfung gestellt werde; insbesondere sei es sachgerecht, der „verminderten Anforderung des Klagezulassungsverfahrens“ dadurch Rechnung zu tragen, dass der Wert der Sache reduziert werde.Randnummer7

Mit Beschluss vom 24.05.2022 (GA 215 ff.) hat das Landgericht der sofortigen Beschwerde des Antragstellers gegen seinen Beschluss vom 15.10.2021 nicht abgeholfen und die Akten dem Oberlandesgericht Stuttgart zur Entscheidung vorgelegt, ohne in den Gründen auf die Streitwertfrage speziell einzugehen. In weiterer Folge hat der Antragsteller dem Senat mit Schriftsatz vom 08.06.2022 (BA 1) mitgeteilt, dass seine Ausführungen im obenerwähnten Schriftsatz vom 21.02.2022 auf S. 17 f. als Beschwerde über den Streitwert zu verstehen seien, welcher entsprechend der dortigen Argumentation herabgesetzt werden solle.Randnummer8

Mit Schriftsatz vom 13.09.2022 (BA 8 ff.) zum Aktenzeichen 20 W 15/22 hat der Antragsteller schließlich seine sofortige Beschwerde gegen den landgerichtlichen Beschluss vom 15.10.2021 zurückgenommen, die Beschwerde gegen die Festsetzung des Streitwerts nach § 68 GKG hingegen ausdrücklich aufrechterhalten und – soweit diese unter anderem Aktenzeichen geführt werde – um „entsprechende Zuordnung“ gebeten. Hinsichtlich seiner Streitwertbeschwerde hat der Antragsteller in jenem Schriftsatz vom 13.09.2022 ergänzend Folgendes ausgeführt: Da es sich bei der Norm des § 53 Abs. 1 Nr. 5 GKG u.a. deswegen um einen offensichtlichen Fehler des Gesetzgebers handele, weil es bei § 148 AktG um einen „übertragenden oder formwechselnden Rechtsträger“ nicht gehe, sei vorliegend allenfalls der Rechtsgedanke jener erstgenannten Norm anwendbar. Dieser gehe dahin, das Kostenrisiko des Antragstellers zu begrenzen und das Interesse der Parteien auch in die Bemessung des Streitwerts einzubeziehen. Nicht zu überzeugen vermöge das Argument des Landgerichts, dass eine Ausrichtung des Streitwerts am individuellen Interesse dazu führen würde, dass es bei mehreren Antragstellern zu unterschiedlichen Streitwerten kommen würde, da dies weder der Rechtsordnung noch dem Aktienrecht fremd sei. So komme es in aktienrechtlichen Spruchverfahren regelmäßig für alle Antragsteller zu unterschiedlicher Wertfestsetzung. Auch die Norm des § 247 Abs. 2 AktG kenne eine divergierende Streitwertfestsetzung, die an individuellen Kriterien ausgerichtet sei.Randnummer9

Wegen weiterer Einzelheiten des Beteiligtenvortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen. Das Landgericht hat mit Beschluss vom 25.08.2022 (BA 16 f.) der Streitwertbeschwerde – unter Verweis auf seine Begründung der Streitwertfestsetzung im Beschluss vom 15.10.2021 – nicht abgeholfen.

II.

Die gem. § 68 Abs. 1 GKG zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen die Festsetzung des Streitwerts im Beschluss der 31. Kammer für Handelssachen – Commercial Court – des Landgerichts Stuttgart vom 15.10.2021 (31 O 73/20 KfH; GA 179 ff.) hat in der Sache keinen Erfolg.Randnummer11

Entgegen der Auffassung des Antragstellers hat das Landgericht zu Recht den Streitwert auf 488.000,00 € festgesetzt.

1.

Hinsichtlich des Klagezulassungsverfahrens bestimmt sich der Streitwert gem. § 53 Abs. 1 Nr. 5, Halbs. 1 GKG grundsätzlich nach § 3 ZPO, dem zufolge das Gericht den Wert nach freiem Ermessen festsetzt, wobei der Streitwert allerdings 1/10 des Grundkapitals der Gesellschaft, höchstens jedoch 500.000,00 €, nur insoweit übersteigen darf, als die Bedeutung der Sache für die Parteien höher zu bewerten ist (§ 53 Abs. 1 Nr. 5, Halbs. 2 GKG). Soweit in § 53 Abs. 1 Nr. 5, Halbs. 2 GKG auf das Grundkapital „des übertragenden oder formwechselnden Rechtsträgers“ abgestellt wird, handelt es sich um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers (vgl. T. Bezzenberger/Schmolke in: Großkomm.z.AktG, 5. Aufl., § 148 Rn. 366 Fn. 932; vgl. auch Rieckers/Vetter in: Kölner Komm.z.AktG, 3. Aufl., § 148 Rn. 630 f. zur Vorgängernorm des § 53 Abs. 1 Nr. 4 GKG a.F.).

2.

Was der zutreffende Maßstab zur Bestimmung des Streitwerts innerhalb des Rahmens des § 53 Abs. 1 Nr. 5 GKG ist, ist umstritten.

a)

Nach einer Auffassung entspricht der Streitwert des Klagezulassungsverfahrens deswegen nicht ohne Weiteres der Höhe des in Rede stehenden Anspruchs der Gesellschaft i.S. von § 147 Abs. 1 AktG, da dieses Verfahren nur eine Vorstufe zur eigentlichen Haftungsklage darstelle (Jäckel in: BeckOK Kostenrecht, 38. Edition, Stand: 01.07.2022, § 53 GKG Rn. 18; Dörndorfer in: Binz/Dörndorfer/Zimmermann, GKG, FamGKG, JVEG, 5. Aufl., § 53 GKG Rn. 6b). Vielmehr komme es auf das Interesse der antragstellenden Aktionäre an, welches sich zunächst auf die Zulassung der Haftungsklage beschränke. Daher sei es gerechtfertigt, nur einen Bruchteil der behaupteten Schadenssumme zugrunde zu legen, wobei als angemessene Größe 1/2 (so Jäckel in: BeckOK Kostenrecht, 38. Edition, Stand: 01.07.2022, § 53 GKG Rn. 18) bzw. 1/10 (so Rieckers/Vetter in: Kölner Komm.z.AktG, 3. Aufl., § 148 AktG Rn. 634 f.) erscheine.Randnummer15

Allerdings erscheinen die genannten Bruchteile von 1/2 bzw. 1/10 gegriffen. So wird der Ansatz von 1/2 von Jäckel (aaO) nicht näher begründet, sondern lediglich als „angemessene Größe“ bezeichnet. Der Ansatz von 1/10 wird von Rieckers/Vetter (aaO) ebenso wenig nachvollziehbar damit gerechtfertigt, dass „als gesetzlicher Anhaltspunkt … die 10 %-Grenze des § 53 GKG herangezogen“ werden könne, die sich „dort allerdings systematisch unzutreffend … auf die Grundkapitalziffer“ beziehe.

b)

Nach einer weiteren Auffassung kann jedenfalls in Fällen, in denen die Bedeutung der Sache für beide Parteien (vgl. § 53 Abs. 1 Nr. 5, 2. Halbs. GKG) besonders hoch ist, eine „angemessene“ Vervielfachung des sich nach der Beschränkung des Wertes auf 10 % des Grundkapitals ergebenden Wertes gerechtfertigt sein (OLG Köln, Beschl. v. 27.02.2019 – 18 W 53/17, juris Rn. 14).Randnummer17

Ob dieser Auffassung in derartigen Fällen zu folgen ist, kann hier dahingestellt bleiben. Denn im vorliegenden Fall liegt der Streitwert der intendierten Klage jedenfalls weit unterhalb von 10 % des im Handelsregister eingetragenen Grundkapitals der Streithelferin (4,17 Mio. €).

c)

Nach einer dritten Auffassung entspricht das zugrunde zu legende Antragstellerinteresse einem der Beteiligung des betreffenden Antragstellers am Grundkapital korrespondierenden Bruchteil der Höhe des in Rede stehenden Ersatzanspruchs, welcher nach § 53 Abs. 1 S. 2 GKG auf 500.000,00 € begrenzt sei (Tretter in: Schüppen/Staub, Münchener Anwaltshandbuch Aktienrecht, 3. Aufl., § 41 Rn. 67; Mock in: BeckOGK AktG, Stand: 01.07.2022, § 148 Rn. 121; Lochner in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl., § 148 AktG Rn. 33; Schmolke, ZGR 2011, 398, 408; Meilicke/Heidel, DB 2004, 1479, 1482).Randnummer19

Hiergegen spricht jedoch, dass das Antragsziel, die Verfolgung des Ersatzanspruchs der Gesellschaft in voller Höhe im eigenen Namen zu ermöglichen, und die Belastung des Antragstellers durch das Verfahren von dessen Beteiligungsquote unabhängig sind (Rieckers/Vetter in: Kölner Komm.z.AktG, 3. Aufl., § 148 Rn. 632; T. Bezzenberger/Schmolke in: Großkomm.z.AktG, 5. Aufl., § 148 Rn. 367; Arnold in: MünchKommAktG, 5. Aufl., § 148 Rn. 111; Schröer, ZIP 2005, 2081, 2088).

d)

Diesen letztgenannten Gedanken greift eine vierte Auffassung auf, welche maßgeblich darauf abstellt, dass gegenüber dem auf eine Geltendmachung zugunsten der Gesellschaft gerichteten Interesse des Antragstellers dessen gegebenenfalls geringeres Eigeninteresse – wie auch sonst im Falle der Prozessstandschaft – unberücksichtigt zu bleiben habe. Maßgebend sei vielmehr der nach dem Vortrag des Klägers denkbare Schaden der Gesellschaft, wobei der so ermittelte Wert des Hauptprozesses zur Vermeidung eines unverhältnismäßigen Kostenrisikos für den Antragsteller gem. § 53 Abs. 1 Nr. 5, Halbs. 2 GKG begrenzt sei auf 10 % des Grundkapitals, höchstens jedoch 500.000,00 €, soweit nicht ausnahmsweise die Bedeutung der Sache für die Parteien einen höheren Wertansatz rechtfertige. Der Umstand, dass mit dem Klagezulassungsverfahren eine gerichtliche Geltendmachung der Ersatzansprüche überhaupt erst ermöglicht werden solle, rechtfertige keinen Abschlag (Fölsch/Hofmann-Hoeppel/Kreutz/Kurpat/Luber/Schäfer in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Aufl., § 53 GKG Rn. 41; Schneider/Volpert/Fölsch in: Schneider/Volpert/Fölsch, aaO, § 3 ZPO Rn. 117; Spindler in: Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl., § 148 Rn. 54; Grigoleit/Rachlitz in: Grigoleit, AktG, 2. Aufl., § 148 Rn. 31; Arnold in: MünchKommAktG, 5. Aufl., § 148 Rn. 111; G. Bezzenberger/T. Bezzenberger in: Großkomm.z.AktG, 4. Aufl. [Vorauflage], § 148 Rn. 264; Holzborn/Jänig in: Bürgers/Körber/Lieder, AktG, 5. Aufl., § 148 Rn. 21; Schröer, ZIP 2005, 2081, 2088; vgl. auch LG München I, Beschl. v. 29.03.2007 – 5 HK O 12931/06, juris Rn. 37).

3.

Der Senat schließt sich dieser letztgenannten Auffassung an. Der hiergegen erhobene Einwand, dass nur ein erheblicher Abschlag vom Wert des Ersatzanspruchs dem Anliegen des Gesetzes entspreche, Kostenhürden für die Antragstellung im Klagezulassungsverfahren abzubauen (so T. Bezzenberger/Schmolke in: Großkomm.z.AktG, 5. Aufl., § 148 Rn. 367; Rieckers/Vetter in: Kölner Komm.z.AktG, 3. Aufl., § 148 AktG Rn. 633), erweist sich als nicht tragfähig. So hat der Gesetzgeber zwar darauf abgestellt, dass das Klagezulassungsverfahren der Minderheit die Möglichkeit verschaffen solle, einen ex ante aussichtsreichen prozess in die Wege zu leiten, ohne das Risiko tragen zu müssen, im (späteren) Rechtsstreit mit dessen Kosten belastet zu werden; andererseits hat der Gesetzgeber allerdings zugleich darauf rekurriert, dass aussichtslose oder zu missbräuchlichen Zwecken betriebene Klagen von vornherein ausgeschaltet werden sollten. § 148 Abs. 1 Satz 1 AktG sehe „dementsprechend vor, dass die Geltendmachung der Ersatzansprüche von Aktionären beantragt werden“ könne, „deren Anteile im Zeitpunkt der Antragstellung zusammen den einhundertsten Teil des Grundkapitals oder einen Börsenwert von 100 000 Euro“ erreichten (BT-Drucks. 15/5092, S. 20). Abgesehen davon führt die Streitwertbegrenzung des § 53 Abs. 1 Nr. 5 GKG auf den Betrag von 500.000,00 € – wie Rieckers/Vetter (aaO) einräumen – „in vielen Fällen zu einer akzeptablen Begrenzung des Kostenrisikos“. Wie die Parallele zum Streitwert bei Erlass eines Grundurteils zeigt, gebietet der Umstand, dass das Klagezulassungsverfahren nur eine Vorstufe zur Haftungsklage darstellt und auf seiner Grundlage allein noch kein Schadensersatz gefordert werden kann, nicht die Vornahme eines Abschlags beim Streitwert (Arnold in: MünchKommAktG, 5.Aufl., § 148 Rn. 111; Schröer, ZIP 2005, 2081, 2088). Da bereits das Klagezulassungsverfahren regelmäßig unter vollem Einsatz aller Beteiligten betrieben wird, drängt sich auch unter dem Gesichtspunkt des tatsächlich anfallenden Aufwands keine – ohnehin nicht rational bemessbare – Reduzierung des Streitwerts auf (Arnold in: MünchKommAktG, 5. Aufl., § 148 Rn. 111; Schröer ZIP 2005, 2081, 2088; G. Bezzenberger/T. Bezzenberger in: Großkomm.z.AktG, 4. Aufl. [Vorauflage], § 148 Rn. 264).

4.

Mithin ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der Streitwert des vorliegenden Klagezulassungsverfahrens demjenigen der beabsichtigten Klage – hier: 488.000,00 € – entspricht. Soweit die beabsichtigte Klage in ihrer ursprünglichen Fassung bezüglich der Inanspruchnahme des Vorstands unbeziffert gewesen ist, hat das Landgericht (LGB 38) zu Recht angenommen, dass sich aus der Antragsbegründung vom 28.10.2020 (GA 1 ff.) keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass gegenüber dem Vorstand Beträge über 488.000,00 € hinaus im Raum stehen könnten. Des Weiteren ist das Landgericht (LGB 38 i.V.m. LGB 42) zu dem rechtlich nicht zu beanstandenden Ergebnis gelangt, dass im Hinblick auf § 40 GKG die spätere Reduzierung des Betrages der Hauptforderung auf 452.059,00 € nicht zu einer Ermäßigung des Streitwerts geführt hat und dass mit dem auf 488.000,00 € festgesetzten Streitwert die in § 53 Abs. 1 Nr. 5, 2. Halbs. GKG festgelegten Obergrenzen nicht überschritten werden.Randnummer23

Nach alledem war die Streitwertbeschwerde des Antragstellers zurückzuweisen.

III.

Die Entscheidung ergeht gem. § 68 Abs. 3 Satz 1 GKG gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet (§ 68 Abs. 3 Satz 2 GKG).Randnummer25

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 68 Abs. 2 Satz 7, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Schlagworte: Klagezulassungsverfahren

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OLG Stuttgart, Urteil vom 12.10.2022 – 20 U 25/22

Mittwoch, 12. Oktober 2022

Grundsätze der fehlerhaften Genossenschaft

§ 15b Abs 2 GenG, § 134 BGB, § 139 BGB

1. Eine im Zuge der Beitrittserklärung zu einer Genossenschaft getroffene Stundungs-/ Ratenzahlungsvereinbarung betreffend Einzahlungen auf weitere (freiwillige) Geschäftsanteile ist wegen Verstoßes gegen § 15b Abs. 2 GenG nach § 134 BGB nichtig.

2. Die Nichtigkeit dieser Stundungs-/Ratenzahlungsvereinbarung führt über § 139 BGB zwar grundsätzlich zur Gesamtnichtigkeit des Beitritts des betreffenden Mitglieds, hat jedoch regelmäßig die Anwendung der Grundsätze über die fehlerhafte GenossenschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
fehlerhafte Genossenschaft
Genossenschaft
zur Folge, wenn der Beitritt durch seine Zulassung vollzogen ist.

3. Nach den Grundsätzen der fehlerhaften Genossenschaft sind die Einzahlungen auf die weiteren Geschäftsanteile mit Vollzug des fehlerhaften Beitritts in voller Höhe fällig geworden.

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn vom 07.04.2022 (Aß 2 O 190/21) wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Dieses Urteil wie auch das in Ziff. 1 genannte Urteil des Landgerichts Heilbronn sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 19.257,00 € festgesetzt.

Gründe

A.

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der … Wohnbaugenossenschaft eG, welcher die Beklagte gem. Beitrittserklärung vom 25.04.2015 (Anlage K 2) als Genossin beigetreten war. In ihrer Beitrittserklärung hatte die Beklagte einen Pflichtanteil von 100,00 € und weitere 199 Geschäftsanteile zu je 100,00 € an der späteren Insolvenzschuldnerin gezeichnet, d.h. insgesamt 200 Geschäftsanteile zu je 100,00 €. Unter Ziff. 3 der ebenfalls am 25.04.2015 von ihr unterzeichneten „Tariferklärung“ (Anlage K 3) war ursprünglich ein „Stundungsbetrag“ i.H. von 18.657,00 € vorgesehen, welcher in 75 monatlichen Raten zu je 250,00 € beglichen werden sollte. Der monatliche Ratenbetrag ist handschriftlich in 100,00 € abgeändert. Als Ratenzahlungsbeginn ist in Ziff. 5 der „Tariferklärung“ der 01.08.2015 vorgesehen. Die Beklagte leistete auf ihren Beitritt hin an die Insolvenzschuldnerin einen Betrag i.H. von insgesamt 4.400,00 €, von welchem seitens der Insolvenzschuldnerin ein Teilbetrag i.H. von 100,00 € auf den – nach § 33 Abs. 2 Satz 3 ihrer Satzung in der Fassung vom 01.10.2014(Anlage K 1) sofort fälligen – Pflichtanteilsbetrag sowie weitere Teilbeträge i.H. von 3.657,00 € auf die Abschlussgebühr und i.H. von 643,00 € auf die weiteren Geschäftsanteile verrechnet wurden (vgl. S. 11 der Anspruchsbegründungsschrift des Klägers vom 30.07.2021; GA 20 i.V.m. LGU 3).Randnummer2

Mit seiner Klage macht der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf restliche Zahlung i.H. von insgesamt 19.257,00 € auf die übernommenen weiteren Anteile geltend, dessen Stundung er wegen Verstoßes gegen § 15b Abs. 2 GenG für gem. § 134 BGB nichtig erachtet. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils des Landgerichts vom 07.04.2022 (Aß 2 O 190/21) Bezug genommen.Randnummer3

Mit diesem im schriftlichen Verfahren ergangenen Urteil hat das Landgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt, an den Kläger 19.257,00 € zuzüglich Zinsen i.H. von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 12.08.2021 zu bezahlen.Randnummer4

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Landgericht im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:Randnummer5

Die zulässige Klage sei begründet. Der Kläger habe als Insolvenzverwalter der Insolvenzschuldnerin (§ 80 InsO) gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung in der zugesprochenen Höhe bezüglich der noch ausstehenden Beträge für die von dieser übernommenen 200 „Geschäftsanteile“ zum Nennwert von insgesamt 20.000,00 €. Dieser Anspruch ergebe sich aus §§ 12 Abs. 1b der Satzung der Insolvenzschuldnerin (Anlage K 1) i.V.m. der Beitrittserklärung vom 25.04.2015 (Anlage K 2).Randnummer6

Der Fälligkeit dieser ausstehenden Einlagezahlungen stehe auch nicht etwa die gem. Ziff. 3 der „Tariferklärung“ vom 25.04.2015 (Anlage K 3) abgeschlossene Stundungsvereinbarung entgegen, da diese gegen § 15b Abs. 2 GenG verstoße und somit gem. § 134 BGB nichtig sei. § 15b Abs. 2 GenG fordere bei freiwilliger gleichzeitiger Übernahme mehrerer Anteile, wie sie hier gegeben sei, zum Schutz der Gläubiger zwingend die Volleinzahlung aller vorhergehenden Geschäftsanteile. Hiergegen verstoße die gem. Ziff. 3 der „Tariferklärung“ vereinbarte Stundungsabrede, da danach die Beteiligung zwar sofort und unbedingt erfolge, die Zahlungspflicht jedoch gestundet sei. In der Beitrittserklärung vom 25.04.2015 (Anlage K 2) fänden sich sowohl unter Ziff. 3 und 4 als auch in dem Absatz auf Blatt 1 links oben (unterhalb des Wortes „Beitrittserklärung“) Erklärungen, die auf eine sofortige Wirksamkeit des Beitritts schließen ließen. Ein anderes ergebe sich insbesondere auch nicht aus der als Anlage B 1 vorgelegten Mitgliedsurkunde der Beklagten, da diese – ebenso wie die AGB der Insolvenzschuldnerin (Anlage B 2) – nicht maßgebend für den Umfang des Beitritts seien, sondern vielmehr lediglich die zuvor genannten Erklärungen (Anlagen K 2 und K 3), aus denen sich Gegenteiliges ergebe.Randnummer7

Die Nichtigkeit des Genossenschaftsbeitritts führe nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschl. v. 16.03.2009 – II ZR 138/08) zur Anwendung der Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft bzw. Genossenschaft. Eine Ausnahme hiervon sei vorliegend nicht gegeben. Weder sei der Genossenschaftszweck Sittenwidrig und verstoße gegen § 138 BGB noch gebiete der Grundsatz von Treu und Glauben oder ein sonstiger rechtlicher Gesichtspunkt hier ein anderes Ergebnis. Die Beklagte sei daher wie eine Genossin mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten zu behandeln; insbesondere sei sie zur Leistung ihrer Einlage verpflichtet, soweit diese noch nicht vollständig erbracht sei. Mangels Wirksamkeit der Stundungsabrede bestehe diesbezüglich eine sofort fällige Zahlungspflicht der Beklagten. Zwar stehe die Beklagte nunmehr tatsächlich schlechter da, als es bei wirksamer Ratenzahlungsvereinbarung der Fall gewesen wäre, und auch schlechter, als wenn sie die Beitrittserklärung gar nicht abgegeben hätte. Dem stehe jedoch das Interesse der Belange Dritter – hier insbesondere der Gläubiger der Genossenschaft – gegenüber, die im Hinblick auf das Volleinzahlungsgebot gem. § 15b GenG auf den Bestand der nach außen hin in Vollzug gesetzten, wenn auch fehlerhaften Genossenschaft vertraut hätten.Randnummer8

Auch könne die Beklagte gem. § 22 Abs. 5 GenG gegen die geschuldete Einzahlung nicht mit etwaigen Schadenersatzansprüchen aufrechnen, wie sie hier auf der Grundlage der behaupteten arglistigen Täuschung (§ 242 BGB) und der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) geltend gemacht würden. Dem stehe auch nicht etwa das Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB) entgegen. Denn wäre der Zahlungsanspruch des Klägers durch die ausnahmsweise Zulassung der Aufrechnung gem. § 242 BGB – entgegen § 22 Abs. 5 GenG – nicht durchsetzbar, so würden die oben dargelegten Erwägungen zum Gläubigerschutz ausgehöhlt und damit ad absurdum geführt.Randnummer9

Wegen weiterer Einzelheiten der Begründung wird auf das vorerwähnte landgerichtliche Urteil verwiesen, gegen welches die Beklagte Berufung eingelegt hat.Randnummer10

Mit ihrem Rechtsmittel verfolgt die Beklagte ihren erstinstanzlich gestellten, auf Klagabweisung gerichteten Antrag (vgl. LGU 3) vollumfänglich weiter.Randnummer11

Zur Begründung ihrer Berufung rügt die Beklagte im Wesentlichen Folgendes:Randnummer12

Zu Unrecht habe das Landgericht angenommen, dass die Beklagte mit 200 Geschäftsanteilen und nicht lediglich mit 7 Geschäftsanteilen Mitglied der Insolvenzschuldnerin geworden sei. Wie sich aus Ziff. 4 der Beitrittserklärung vom 25.04.2015 (Anlage K 2) erschließe, habe die Insolvenzschuldnerin neben ihrer Satzung (Anlage K 1) auch ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen (Anlage B 2) in den Beitritt mit einbezogen und zum Gegenstand der vertraglichen Grundlagen gemacht. Aus diesen Allgemeinen Geschäftsbedingungen ergebe sich i.V.m. der in Ziff. 4 der Beitrittserklärung außerdem in Bezug genommenen Mitgliedsurkunde der Beklagten (Anlage B 1), dass sich bei einer Stundungsvereinbarung die Höhe der Anteile nach den jeweiligen Einzahlungen richte. Entsprechend den Angaben des Klägers wie auch der Berechnung des Landgerichts im Tatbestand seines Urteils habe die Beklagte einen Pflichtanteil gezeichnet sowie 643,00 € auf weitere freiwillige Anteile gezahlt, so dass sie – weil der Bruchteil eines Anteils nicht möglich sei – lediglich einen Pflichtanteil und 6 weitere freiwillige Anteile, mithin 7 Anteile, gezeichnet habe. Wenn dann die Insolvenzschuldnerin in der „Tariferklärung“ vom 25.04.2015 (Anlage K 3) von „Stundung“ spreche, gehe diese fehlerhafte Wortwahl im Hinblick auf das vorher Gesagte zu Lasten des Verwenders. Indem das Landgericht die Beitrittserklärung vom 25.04.2015 (Anlage K 2) nicht unter Zugrundelegung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Insolvenzschuldnerin (Anlage B 2) und der Mitgliedsurkunde der Beklagten (Anlage B 1) ausgelegt habe, habe es materielles Recht verletzt.Randnummer13

Des Weiteren habe das Landgericht in rechtlich zu beanstandender Weise die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft/Genossenschaft angewendet, indem es die vom Bundesgerichtshof in dessen Urteil vom 21.03.2005 (II ZR 140/03) genannten Ausnahmen von einer Anwendbarkeit dieser Grundsätze – insbesondere die Unvereinbarkeit des Gesellschaftszwecks mit den guten Sitten – zu Unrecht für abschließend erachtet habe. Hierbei verkenne das Landgericht, dass vorliegend nicht der Genossenschaftszweck im Zeitpunkt der Gründung der Genossenschaft in Rede stehe, sondern vielmehr das Verhältnis der Genossenschaft (Insolvenzschuldnerin) zu der Beklagten am Tage des Beitritts, wobei die Beklagte insoweit auf den 27.05.2015 als das Datum ihrer Eintragung in die Mitgliederliste der Insolvenzschuldnerin abstellt, wie dieses in der Mitgliedsurkunde (Anlage B 1) vermerkt ist. In dem Strafverfahren gegen den vormaligen Vorstand der Insolvenzschuldnerin J. M. sei das Landgericht Stuttgart, wie die Beklagte erstinstanzlich mit – entgegen der Auffassung der hiesigen erkennenden Einzelrichterin sehr wohl nachgelassenem – Schriftsatz vom 24.03.2022 vorgetragen habe, in seinem Urteil vom 01.03.2021 (6 KLs 165 Js 11011/19; S. 15 f.) zu dem Ergebnis gelangt, dass das Geschäftsmodell der Insolvenzschuldnerin jedenfalls Ende 2014 einem „Ponzi-Schema“ – im „normalen Sprachgebrauch“ auch als „Schneeballsystem“ bezeichnet – ähnele und dass zumindest für die Neukunden ab 2015 ein realisierbarer Anspruch auf Bereitstellung der versprochenen sehr hohen Renditen systemtypisch nur noch auf dem Papier bestanden habe. Damit sei der eigentliche satzungsmäßige Zweck der Genossenschaft („Immer sicher wohnen“) nicht mehr gelebt worden. Die fehlerhafte GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
fehlerhafte Gesellschaft
Gesellschaft
sei nicht bereits bei der Gründung der Genossenschaft/Insolvenzschuldnerin gegeben gewesen, sondern im Verhältnis zwischen der Insolvenzschuldnerin und der Beklagten eben im Mai 2015 entstanden. Zu diesem Zeitpunkt sei der Zweck der Genossenschaft lediglich das Fortführen des oben beschriebenen sittenwidrigen „Ponzi-Systems“ gewesen.Randnummer14

Schließlich habe das Landgericht zu Unrecht im vorliegenden Fall keine Ausnahme nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) von der in § 22 Abs. 5 GenG postulierten Regel des Ausschlusses der – beklagtenseits höchst vorsorglich erklärten (GA 31) – Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen in Höhe der Klageforderung angenommen. Die Berufung auf das Aufrechnungsverbot sei als unzulässige Rechtsausübung zu würdigen, da – wie oben bereits dargestellt – die Anwerbung weiterer Mitglieder der Insolvenzschuldnerin allein dem Zweck gedient habe, das „Ponzi-System“ aufrecht zu erhalten und die Vertriebskosten zu decken. Wie seitens der Beklagten bereits im erstinstanzlichen Klageerwiderungsschriftsatz vom 06.09.2021 (S. 5; GA 33) ausgeführt worden sei, sei auch die Tatsache der Insolvenzschuldnerin zuzurechnen, dass tausendfach Stundungsvereinbarungen, die allesamt nichtig gewesen seien, durch die Insolvenzschuldnerin mit den beigetretenen Mitgliedern abgeschlossen worden seien, ohne sich über die eindeutige Gesetzeslage zu informieren. Dass die Insolvenzschuldnerin hierdurch auch noch einen Vorteil zugunsten ihrer Gläubiger erlange, wäre im höchsten Maße unbillig. Wenn sich die Insolvenzschuldnerin über die Gesetzeslage nicht informiere und zu ihrem Vorteil eine Stundungsvereinbarung – wenn es denn eine gäbe – nichtig sei, dann würde für diese dann plötzlich offenen Gesamtbeträge das Berufen auf das Aufrechnungsverbot eine unzulässige Rechtsausübung darstellen. Denn erst durch die Ignorierung und Nichtanwendung des Verbotsgesetzes habe die Insolvenzschuldnerin letztendlich Einlageforderungen geschaffen. Im Übrigen gebe es kein Aufrechnungsverbot bei einem Anspruch aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung bzw. vorsätzlicher Vertragsverletzung (§ 823 Abs. 2 i.V.m. § 263 StGB).Randnummer15

Die Beklagte stellt den Berufungsantrag (BA 51 i.V.m. BA 19),Randnummer16

unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Heilbronn vom 07.04.2022, Geschäftszeichen Aß 2 O 190/21, die Klage abzuweisen.Randnummer17

Der Kläger stellt den Gegenantrag (BA 51 i.V.m. BA 32),Randnummer18

die Berufung zurückzuweisen.Randnummer19

Der Kläger verteidigt das landgerichtliche Urteil und führt u.a. ergänzend Folgendes aus: Entgegen der Auffassung der Beklagten könne nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sehr wohl eine Anwendung der Grundsätze zur fehlerhaften Genossenschaft nur dann abgelehnt werden, wenn der Genossenschaftszweck selbst gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) verstoße oder der Zweck selbst (grob) Sittenwidrig sei (§ 138 BGB). Der in § 2 der Satzung der Insolvenzschuldnerin (Anlage K 1) definierte Zweck der Genossenschaft sei jedoch nicht Sittenwidrig, sondern üblich. Der Zweck habe sich auch nicht durch das Fehlverhalten Einzelner geändert. Was die Aufrechnung der Beklagten mit Schadenersatzansprüchen betreffe, so verkenne die Berufung, dass ein (von den Grundsätzen zur fehlerhaften Gesellschaft) unabhängiger Schadensersatzanspruch bei einer Genossenschaft ausgeschlossen sei, was dem Schutz der Mitgenossen und Genossenschaftsgläubiger diene. Das Aufrechnungsverbot des § 22 Abs. 5 GenG verstoße im vorliegenden Fall insbesondere auch nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Bei einem fehlerhaften Genossenschaftsbeitritt könne sich der (faktische) Genosse nicht auf den Einwand der Arglist berufen oder die Aufrechnung mit einem Schadensersatzanspruch erklären, da dies gegen die Grundsätze der Kapitalerbringung/und -erhaltung verstoßen würde.Randnummer20

Wegen weiterer Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

B.

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

I.

Zu Recht ist das Landgericht (LGU 4 ff.) zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Kläger als Insolvenzverwalter über das Vermögen der … Wohnbaugenossenschaft eG der tenorierte Anspruch auf Zahlung der noch ausstehenden Einlagezahlungen i.H. von insgesamt 19.257,00 € zusteht, welcher aus der Beitritts- und Tariferklärung der Beklagten i.V.m. §§ 15, 15b GenG i.V.m. § 33 Abs. 3 der Satzung der Insolvenzschuldnerin in der Fassung vom 01.10.2014 (Anlage K 1) i.V.m. den Grundsätzen über die fehlerhafte GenossenschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
fehlerhafte Genossenschaft
Genossenschaft
resultiert.

1.

Die Vereinbarung, die Einzahlungen auf die freiwilligen Geschäftsanteile in Raten zahlen zu können, und damit der Beitritt der Beklagten zur Insolvenzschuldnerin sind wegen eines Verstoßes gegen § 15b Abs. 2 GenG nichtig.Randnummer24

Die Beklagte hat am 25.04.2015 sowohl eine Beitrittserklärung (Anlage K 2) unterschrieben, in welcher sie einen Pflichtanteil von 100,00 € und weitere 199 Geschäftsanteile zu je 100,00 € an der späteren Insolvenzschuldnerin gezeichnet hat, als auch zusätzlich eine „Tariferklärung“ (Anlage K 3), in deren Ziff. 3 und 5 sie sich verpflichtet hat, einen „Stundungsbetrag“ i.H. von 18.657,00 € in 75 monatlichen Raten, beginnend ab dem 01.08.2015, zu zahlen, wobei der ursprünglich vorgesehene monatliche Ratenbetrag i.H. von 250,00 € handschriftlich in 100,00 € abgeändert worden war.Randnummer25

Entgegen der Auffassung der Berufung läuft diese Stundungs-/Ratenzahlungsvereinbarung der Vorschrift des § 15b Abs. 2 GenG zuwider und ist deshalb wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz nach § 134 BGB nichtig. Nach der erstgenannten Vorschrift darf die Beteiligung mit weiteren Geschäftsanteilen, außer bei einer Pflichtbeteiligung (§ 7a Abs. 2 Satz 1 GenG), nicht zugelassen werden, bevor alle Geschäftsanteile des Mitglieds bis auf den zuletzt neu übernommenen voll eingezahlt sind. Der zuletzt neu übernommene Geschäftsanteil ist dabei derjenige, auf den sich die Beteiligungserklärung bezieht. Werden – wie im vorliegenden Fall – gleichzeitig mehrere Geschäftsanteile übernommen, so müssen auch von den neuen Anteilen alle bis auf den letzten voll eingezahlt sein (Beuthien, GenG, 16. Aufl., § 15b Rn. 6; Holthaus/Lehnhoff in: Lang/Weidmüller, GenG, 40. Aufl., § 15b Rn. 9; Althanns in Althanns/Buth/Leißl, Genossenschafts-Handbuch, 2. Aufl., § 15b Rn. 6; Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, § 15b Rn. 3; a.A. noch Müller, GenG [1991], § 15b Rn. 6; vgl. Brandenburgisches OLG, Hinweisbeschl. v. 18.08.2021 – 7 U 68/21, S. 3 des Umdrucks; Anlage K 43; Brandenburgisches OLG, Hinweisbeschl. v. 23.08.2022 – 7 U 41/22, S. 2 des Umdrucks; Anlage K 50; LG Bielefeld, Urt. v. 07.04.2021 – 9 O 117/20, juris Rn. 36; vgl. auch schon RGZ 73, 402, 404 f.).

a)

Ohne Erfolg moniert die Berufung (BA 20 f.) in diesem Zusammenhang, dass das Landgericht zu Unrecht angenommen habe, dass die Beklagte mit 200 Geschäftsanteilen und nicht lediglich mit 7 Geschäftsanteilen Mitglied der Insolvenzschuldnerin geworden sei.

aa)

Anders als der Kläger wohl meint, rügt die Berufung damit nicht eine unrichtige tatbestandliche Feststellung. Vielmehr macht die Berufung (BA 20 f.) in diesem Zusammenhang ausdrücklich eine materielle Rechtsverletzung geltend, welche darin liege, dass das Landgericht bei der Auslegung der Beitrittserklärung der Beklagten vom 25.04.2015 (Anlage K 2) die einbezogenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Insolvenzschuldnerin (Anlage B 2) und die der Beklagten ausgestellte Mitgliedsurkunde (Anlage B 1) nicht berücksichtigt habe. Aus diesen Dokumenten ergebe sich, dass sich „bei einer Stundungsvereinbarung … die Höhe der Anteile nach den jeweiligen Einzahlungen“ – hier: 100,00 € auf den Pflichtanteil sowie 643,00 € auf weitere freiwillige Anteile – richte. Nach Auffassung der Beklagten ergibt sich speziell aus der in der Mitgliedsurkunde enthaltenen „Eingrenzung“ („*bei einer Stundungsvereinbarung richtet sich die Höhe der Anteile nach den jeweiligen Einzahlungen“), dass „hinsichtlich dieser weiteren Anteile aufgrund der vereinbarten Stundungsvereinbarung die anteilsmäßige (weitere) Mitgliedschaft sich immer nur entsprechend der Einzahlungen erhöht“. Dies stelle – so die Beklagte weiter – eine aufschiebende Bedingung, jeweils bezogen auf die Zulassung des Vorstands, dar, welche immer dann erfüllt werde, wenn für einen (weiteren) Anteil 100,00 € eingezahlt worden seien. Das bedeute letztendlich, dass die Insolvenzschuldnerin im Einklang mit § 15b Abs. 2 GenG gem. der Mitgliedsurkunde (Anlage B 1) der Beklagten nur bei jeweils eingezahltem vollem Wert eines Anteils die Mitgliedschaft habe sukzessive gewähren wollen und dass die Beklagte nur im Hinblick auf die tatsächlichen Einzahlungen (also mit 7 Anteilen) Mitglied bei der Insolvenzschuldnerin geworden sei. Damit verstoße – wie die Beklagte weiter meint – die Stundungsvereinbarung auch nicht gegen das GenG, weil die Anteile „gem. der Regelung der …-AGB nicht vor Eintritt der Bedingungen erworben werden und aufgrund des Hinweises auf der Mitgliedsurkunde nur jeweils bei Einzahlung der vollen 100,00 € ‚aktiviert‘ worden wären“ (vgl. zum Ganzen S. 2 f. der Klageerwiderung der Beklagten vom 06.09.2021: GA 30 f.).Randnummer28

Dieser sich maßgeblich auf die Anlagen B 1 und B 2 stützenden Argumentation der Beklagten kann jedoch nicht gefolgt werden.

(1)

Vielmehr erschließt sich aus der Mitgliedsurkunde (Anlage B 1), welche die Eintragung der Beklagten in die Mitgliederliste mit 200 Genossenschaftsanteilen am 27.05.2015 bestätigt, dass die Insolvenzschuldnerin (bzw. deren Vorstand) die Übernahme auch der weiteren 199 Geschäftsanteile konkludent zuließ (vgl. OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022 – 13 U 2405/21, S. 4 des Umdrucks; Anlage K 46).Randnummer30

Ein anderes ergibt sich insbesondere auch nicht aus der in der Mitgliedsurkunde enthaltenen Fußnote „*bei einer Stundungsvereinbarung richtet sich die Höhe der Anteile nach den jeweiligen Einzahlungen“. Denn das eingangs der Fußnote angebrachte Sternchen findet im Haupttext der Urkunde keine Entsprechung, so dass der Bezugspunkt nicht gekennzeichnet ist. Es bleibt daher unklar, was mit „Höhe der Anteile“ gemeint ist. Dies kann sich sowohl auf die Anzahl der Genossenschaftsanteile bzw. die Beteiligungshöhe als auch auf den Gesamtwert beziehen. Der objektive Adressat einer solchen Mitgliedsurkunde musste daher ungeachtet der unklaren Fußnote den Inhalt der Mitgliedsurkunde dahin verstehen, zur Übernahme aller 200 Geschäftsanteilen zugelassen zu sein und diese damit wirksam erworben zu haben. Eine Einschränkung, dass die Zulassung unter der Bedingung der Einzahlung der Geschäftsanteile stehe, enthält die Mitgliedsurkunde nach dem Empfängerhorizont nicht (vgl. OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022, aaO).

(2)

Nicht zuletzt stellt sich die Mitgliedsurkunde auch deswegen als Zulassung des Beitritts hinsichtlich aller 200 übernommenen Geschäftsanteile dar, weil der Beklagten eine Ablehnung der Zulassung mit den nicht eingezahlten Anteilen nach § 15b Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 15 Abs. 2 Satz 2 GenG unverzüglich mitzuteilen gewesen wäre. Eine solche Mitteilung ist indes nicht ersichtlich und ergibt sich insbesondere auch nicht aus der Fußnote auf der Mitgliedsurkunde (vgl. OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022, aaO).

(3)

Auch aus den beklagtenseits vorgelegten „Allgemeinen Geschäftsbedingungen für die Bundesrepublik Deutschland – Fassung für Altfälle vor dem 01.05.2012 – Stand: 17.08.2012“ der „G.. eG Wohnbaugenossenschaft“ (Anlage B 2) ergibt sich nicht, dass, wie die Beklagte behauptet, auf deren Grundlage Anteile „nicht vor Eintritt der Bedingungen“ erworben werden dürften. Es ist schon nicht schlüssig vorgetragen, dass diese Allgemeinen Geschäftsbedingungen einbezogen worden sind, denn die Beklagte hat ihren Beitritt erst 2015 erklärt, und es liegt kein sogenannter „Altfall vor dem 01.05.2012“ vor, für den dieses Regelwerk Geltung beansprucht. Aber selbst wenn in den Beitritt der Beklagten gleichlautende Bedingungen einbezogen worden wären, würde sich daraus nichts für den Standpunkt der Beklagten ergeben. Es heißt dort unter „B: Mitgliedschaft und Beteiligung“:Randnummer33

„1. …

2. Die Mitgliedschaft in der G.. wird durch die Zulassung, Eintragung in die Mitgliederliste und Zusendung der Mitgliedsurkunde begründet, wozu es der Erfüllung aller Voraussetzungen und eines Beschlusses des Vorstands bedarf. …Randnummer35

3. Voraussetzung für eine Mitgliedschaft ist ein ordnungsgemäß und in geeigneter Form gestellter Antrag auf Mitgliedschaft, die Entrichtung des Pflichtanteils von EUR 100,00 sowie der allfälligen Abschlussgebühr an die die Mitgliedschaft vermittelnde Organisation. …Randnummer36

4. Ein Genossenschaftsanteil beträgt EUR 100,00. Der erste Anteil ist der Pflichtanteil. Jedes Mitglied kann über den Pflichtanteil hinaus bis zu 3999 weitere Genossenschaftsanteile übernehmen.Randnummer37

5. …“

Für einen sukzessiven Beitritt mit diesen weiteren Anteilen je nach Stand der Einzahlung ergibt sich daraus kein Anhaltspunkt.

bb)

Dass für die Würdigung einer sukzessiven Anteilsübernahme kein Raum ist, erschließt sich zum einen aus der zwischen der Insolvenzschuldnerin und der Beklagten getroffenen Stundungsabrede, die als solche das Bestehen eines Anspruchs zwingend voraussetzt. D.h. die Parteien sind ersichtlich vom Bestehen der Schuld in voller Höhe und folglich von einer einmaligen und sofortigen Anteilsübernahme ausgegangen, wie diese sich letztendlich in der angenommenen Beitrittserklärung der Beklagten manifestiert hat (vgl. OLG CelleBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Celle
, Hinweisbeschl. v. 24.02.2022 – 9 U 144/21, S. 4 des Umdrucks; Anlage K 44; OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022 – 13 U 2405/21, S. 2 f. des Umdrucks; Anlage K 46; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschl. v. 03.05.2022 – 9 U 8/22, S. 5 des Umdrucks; Anlage K 47).Randnummer40

Die Beitrittserklärung kann auch deswegen nicht dahingehend ausgelegt werden, dass sie hinsichtlich der weiteren Geschäftsanteile unter der aufschiebenden Bedingung der Einzahlung des jeweils vorherigen Geschäftsanteils stünde, da eine solche Erklärung unwirksam wäre, nachdem die Beitrittserklärung nach § 15b Abs. 1 Satz 1 GenG unbedingt sein muss (vgl. OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022 – 13 U 2405/21, S. 3 f. des Umdrucks; Anlage K 46; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschl. v. 03.05.2022 – 9 U 8/22, S. 6 des Umdrucks; Anlage K 47). Dementsprechend bezieht sich auch die konkludente Zulassungsentscheidung hinsichtlich der unbedingten, sofortigen, auf alle weiteren Geschäftsanteile bezogenen Beitrittserklärung ebenso wie diese auf alle weiteren Geschäftsanteile.

b)

Die im Zuge der Beitrittserklärung in der „Tariferklärung“ getroffene Vereinbarung der Stundung von insgesamt 18.657,00 € wie auch der Zahlung von 75 Raten zu ursprünglich je 250,00 € (handschriftlich abgeändert in 100,00 €) verstößt gegen § 15b Abs. 2 GenG und ist gem. § 134 BGB nichtig (vgl. Saarländisches OLG, Urt. v. 19.05.2021 – 1 U 85/20, S. 7 des Umdrucks, sowie Urt. v. 26.05.2021 – 1 U 85/20, S. 6 des Umdrucks; jeweils Anlagenkonvolut K 42; Brandenburgisches OLG, Hinweisbeschl. v. 18.08.2021 – 7 U 68/21, S. 3 des Umdrucks; Anlage K 43; Brandenburgisches OLG, Hinweisbeschl. v. 23.08.2022 – 7 U 41/22, S. 2 des Umdrucks; Anlage K 50; OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022 – 13 U 2405/21, S. 4 f. des Umdrucks; Anlage K 46; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschl. v. 03.05.2022 – 9 U 8/22, S. 4 des Umdrucks; Anlage K 47; LG Bielefeld, Urt. v. 07.04.2021 – 9 O 117/20, juris Rn. 35 ff.; vgl. auch die weiteren Nachweise landgerichtlicher Entscheidungen bei Blazek/Scheffler, ZIP 2021, 2170, 2171 Fn. 21).Randnummer42

Für die Eigenschaft als Verbotsgesetz nach § 134 BGB spricht zunächst der Wortlaut des § 15b Abs. 2 Satz 1 GenG, der mit der Formulierung „darf nicht“ eine unabdingbare Anordnung ausspricht, den Beitritt mit weiteren Anteilen vor Volleinzahlung der vorigen Anteile nicht zuzulassen. Damit ist aber auch eine auf eine solche Zulassung gerichtete Beitrittserklärung ebenso wenig zulässig wie eine Satzungsregelung, die § 15b Abs. 2 Satz 1 GenG widerspricht. Der Gesetzgeber nimmt in der Gesetzesbegründung zu § 15b Abs. 2 GenG konkret Bezug auf das neu eingeführte Kreditgewährungsverbot, indem dort ausgeführt wird, dass im Hinblick auf § 15b Abs. 2 GenG „auch zu berücksichtigen“ sei, dass „der neue § 22 Abs. 4 Satz 2 … die vielfach gebräuchliche Kreditgewährung zur Beschaffung fälliger Einzahlungen“ verbiete (vgl. BT-Drucks 7/97, S. 19). Durch diese Bezugnahme wird ersichtlich, dass sowohl § 15b Abs. 2 GenG als auch § 22 Abs. 4 Satz 2 GenG denselben Zweck verfolgen, nämlich sicherzustellen, dass der Genossenschaft freiwillig versprochene Einlagen auch sofort und dauerhaft effektiv zur Verfügung stehen, was nicht zuletzt auch in der identischen Wortwahl („darf … nicht“) zum Ausdruck kommt. Die Vorschrift des § 22 Abs. 4 GenG hat der Bundesgerichtshof als Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB gewürdigt und dies zu Recht damit begründet, dass bei einer Kreditgewährung zur Erfüllung der Einzahlungspflicht das Eigenkapital der Genossenschaft hierdurch „zumindest zeitweise verkürzt“ würde (vgl. BGH, Urt. v. 02.12.1982 – III ZR 90/81, juris Rn. 10). Der Gesetzgeber hat in der Gesetzesbegründung weiter klargestellt, dass er mit § 15b Abs. 2 Satz 1 GenG an der inhaltlich übereinstimmenden bisherigen Regelung in § 136 GenG festhält, für die anerkannt war, dass sie dem Schutz der Gläubiger dienen sollte, die nicht über die seinerzeit vom Registergericht geführte und für die Entstehung der Anteile konstitutive Mitgliederliste über den Umfang der Kapitalausstattung irregeführt oder im Unklaren gelassen werden sollten (s. schon RGZ 73, 402, 404 f.; RGZ 115, 148, 150 mit Verweisen auf die ursprüngliche Gesetzesbegründung). Inwieweit dieser Gedanke noch trägt, nachdem die Mitgliederliste mit nur noch deklaratorischen Eintragungen nicht mehr vom Registergericht, sondern von der Genossenschaft geführt wird (vgl. dazu Hanseatisches OLG Hamburg, Urt. v. 04.04.2008 – 11 U 208/06, juris Rn. 70), kann dahingestellt bleiben, nachdem der Gesetzgeber ungeachtet dessen an der Untersagung einer Beteiligung mit mehreren Anteilen vor Volleinzahlung der übrigen Anteile festgehalten und sie im Einklang mit der weiteren Verbotsnorm des § 22 Abs. 4 Satz 2 GenG gesehen hat.

c)

Entgegen der Auffassung der Beklagten (GA 31) steht dem Rekurs des Klägers auf die Nichtigkeit nach § 134 BGB auch nicht deswegen das Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB) entgegen, weil es sich vorliegend um einen in „einem Zeitraum von immerhin 6 Jahren“ „beanstandungsfrei durchgeführten Vertrag“ handele. Denn die seitens der Beklagten hierzu zitierte Fundstelle (Ellenberger in: Palandt, BGB, 75. Aufl., § 134 Rn. 13) zieht in diesem Zusammenhang zu Unrecht das in einem Ausnahmefall ergangene Urteil des Bundesgerichtshofs vom 01.02.2007 (III ZR 126/06, juris Rn. 11 ff.) heran, welches zu der Frage ergangen ist, ob einem Bereicherungsanspruch auf Rückerstattung von ärztlichen Honoraren für Wahlleistungen der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegengesetzt werden kann, wenn die zugrunde liegenden Wahlleistungsvereinbarungen zwar wegen Verstoßes gegen die Unterrichtungspflicht nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BPflV unwirksam gewesen waren, diese Leistungen jedoch über einen langen Zeitraum abgerufen, beanstandungsfrei erbracht und honoriert worden sind. Diese Erwägungen sind auf die vorliegende Fragestellung nicht übertragbar.

d)

Die Nichtigkeit der Ratenzahlungsvereinbarung führt über § 139 BGB zur Gesamtnichtigkeit des Beitritts der Beklagten (vgl. Saarländisches OLG, Urt. v. 19.05.2021 – 1 U 85/20, S. 7 des Umdrucks, sowie Urt. v. 26.05.2021 – 1 U 85/20, S. 7 des Umdrucks; jeweils Anlagenkonvolut K 42; OLG CelleBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Celle
, Hinweisbeschl. v. 24.02.2022 – 9 U 144/21, S. 5 f. des Umdrucks; Anlage K 44; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschl. v. 03.05.2022 – 9 U 8/22, S. 5 des Umdrucks; Anlage K 47; Brandenburgisches OLG, Hinweisbeschl. v. 18.08.2021 – 7 U 68/21, S. 3 des Umdrucks; Anlage K 43; Brandenburgisches OLG, Hinweisbeschl. v. 23.08.2022 – 7 U 41/22, S. 2 des Umdrucks; Anlage K 50; LG Hamburg, Urt. v. 16.10.2020 – 322 O 162/20, juris Rn. 17).Randnummer45

Was den für die Anwendbarkeit des § 139 BGB erforderlichen Einheitlichkeitswillen anbetrifft, so ist dieser ist nicht nur dann anzunehmen, wenn die Beitrittserklärung und die Vereinbarung über die Ratenzahlung – anders als hier – in einem Formular zusammengefasst sind (vgl. BGH, Beschl. v. 16.03.2009 – II ZR 138/08, juris Rn. 9; LG Aachen, Urt. v. 01.09.2020 – 10 O 172/20, juris Rn. 42). Maßgeblich für die Annahme der Gesamtnichtigkeit ist vielmehr in allgemeiner Hinsicht, dass in dem konkret zu entscheidenden Fall nicht anzunehmen ist, dass das in Rede stehende – teilbare – Rechtsgeschäft auch ohne den unwirksamen Teil vorgenommen sein würde. Hier sind keine Tatsachen vorgetragen, die dafür sprechen würden, dass die Beklagte der Insolvenzschuldnerin auch ohne Vereinbarung einer Ratenzahlung bzw. Stundung beigetreten wäre (vgl. BGH, Beschl. v. 16.03.2009, aaO; LG Aachen, Urt. v. 01.09.2020, aaO).

2.

Die Nichtigkeit des Beitritts hat allerdings nicht zur Folge, dass die Zahlungsverpflichtung der Beklagten entfällt, sondern sie führt zur Anwendung der Grundsätze über die fehlerhafte GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
fehlerhafte Gesellschaft
Gesellschaft
, welche auch auf einen fehlerhaften Beitritt zu einer Genossenschaft anwendbar sind (vgl. BGH, Beschl. v. 16.03.2009 – II ZR 138/08, juris Rn. 10; Blazek/Scheffler, ZIP 2021, 2170, 2171; jeweils m.w.N.), wenn – wie vorliegend – der Beitritt der Beklagten bereits in Vollzug gesetzt wurde (vgl. Saarländisches OLG, Urt. v. 19.05.2021 – 1 U 85/20, S. 5 f. und 7, S. 7 des Umdrucks, sowie Urt. v. 26.05.2021 – 1 U 85/20, S. 7 des Umdrucks; jeweils Anlagenkonvolut K 42; OLG CelleBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Celle
, Hinweisbeschl. v. 24.02.2022 – 9 U 144/21, S. 5 des Umdrucks; Anlage K 44; OLG KoblenzBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Koblenz
, Hinweisbeschl. v. 02.03.2022 – 6 W 53/22, S. 2 des Umdrucks; Anlage K 45; OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022 – 13 U 2405/21, S. 4 des Umdrucks; Anlage K 46; Brandenburgisches OLG, Hinweisbeschl. v. 17.05.2022 – 7 U 68/21, S. 3 des Umdrucks; Anlage K 48; LG Aachen, Urt. v. 01.09.2020 – 10 O 172/20, juris Rn. 43; LG Bielefeld, Urt. v. 07.04.2021 – 9 O 117/20, juris Rn. 39; Geibel in: Henssler/Strohn, GesR, 5. Aufl., § 15b GenG Rn. 1; Wiese in: Düsing/Martinez, Agrarrecht, 2. Aufl., § 15b GenG Rn. 7 [bei beck-online]; Beuthien in Beuthien/Wolff/Schöpflin, GenG, 16. Aufl., § 15 Rn. 23; Blazek/Scheffler, ZIP 2021, 2170, 2172; vgl. auch Fandrich in: Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 4. Aufl., § 15b Rn. 3).

a)

Insbesondere ist der Beitritt der Beklagten von einem tatsächlichen – wenn auch rechtlich fehlerhaften – Willen der Vertragschließenden getragen, wobei die nach § 15 Abs. 1 GenG erforderliche Zulassung des Beitritts auch konkludent erfolgen kann (vgl. Saarländisches OLG, Urt. v. 19.05.2021 – 1 U 85/20, S. 6 des Umdrucks, sowie Urt. v. 26.05.2021 – 1 U 85/20, S. 6 des Umdrucks; jeweils Anlagenkonvolut K 42 m.w.N.; Brandenburgisches OLG, Hinweisbeschl. v. 18.08.2021 – 7 U 68/21, S. 3 des Umdrucks; Anlage K 43; OLG KoblenzBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Koblenz
, Hinweisbeschl. v. 02.03.2022 – 6 W 53/22, S. 3 des Umdrucks; Anlage K 45; OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022 – 13 U 2405/21, S. 4 des Umdrucks; Anlage K 46; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschl. v. 03.05.2022 – 9 U 8/22, S. 4 und 6 des Umdrucks; Anlage K 47 m.w.N.; LG Hamburg, Urt. v. 16.10.2020 – 322 O 162/20, juris Rn. 19; Beuthien in Beuthien/Wolff/Schöpflin, GenG, 16. Aufl., § 15 Rn. 28). Diese Zulassung liegt hier in der Übersendung der Mitgliedsurkunde mit der Bestätigung der Eintragung der 200 Anteile in die Mitgliederliste (s.o.).

b)

Zu Unrecht moniert die Berufung (BA 21 ff.), dass das Landgericht in rechtlich zu beanstandender Weise die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft/Genossenschaft angewendet habe, indem es die vom Bundesgerichtshof in dessen Urteil vom 21.03.2005 (II ZR 140/03) genannten Ausnahmen von einer Anwendbarkeit dieser Grundsätze für abschließend erachtet und in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt habe, dass das Geschäftsmodell der Insolvenzschuldnerin seit Ende 2014 – und damit jedenfalls zum Zeitpunkt des Beitritts der Beklagten – einem „Ponzi-Schema“ geähnelt habe.

aa)

Mit Ausnahme des Beitritts Minderjähriger oder Geschäftsunfähiger sowie des Verstoßes des Zwecks der Genossenschaft oder der Beteiligung speziell des betreffenden Genossen gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) oder die guten Sitten (§ 138 BGB) geht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urt. v. 21.03.2005 – II ZR 140/03, juris Rn. 17; vgl. hierzu auch Urt. v. 19.11. 2013 – II ZR 383/12, juris Rn. 12 sowie EuGH-Vorlage v. 05.05.2008 – II ZR 292/06, juris Rn. 12) stets davon aus, dass der Vollzug der Gesellschaft bzw. des fehlerhaften Beitritts zur Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts führt, welches nur für die Zukunft durch Kündigung aufgelöst werden kann (zustimmend OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022 – 13 U 2405/21, S. 4 f. des Umdrucks; Anlage K 46; vgl. auch LG Aachen, Urt. v. 01.09.2020 – 10 O 172/20, juris Rn. 43; Wiese in: Düsing/Martinez, Agrarrecht, 2. Aufl., § 15b GenG Rn. 7 [bei beck-online]). In den genannten Ausnahmefällen hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Anwendung der Grundsätze über die fehlerhafte GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
fehlerhafte Gesellschaft
Gesellschaft
bzw. den fehlerhaften Beitritt deshalb abgelehnt, weil die Nichtanwendung der allgemeinen Regeln über Anfechtung und Nichtigkeit zu Ergebnissen führen würde, die mit höherrangigen rechtlich geschützten Interessen der Allgemeinheit nicht vereinbar sind bzw. den nach der Rechtsordnung gebotenen Schutz bestimmter Personengruppen verfehlen (vgl. BGH, EuGH-Vorlage vom 05.05.2008, aaO, m.w.N.). Keiner dieser Ausnahmefälle ist hier gegeben.

bb)

Ob – wie die Berufung (BA 23) meint – der Vortrag der Beklagten in deren Schriftsatz vom 24.03.2022 (GA 156 ff.) betreffend das „Ponzi-Schema“ noch von dem ihr gewährten Schriftsatznachlass gedeckt war, kann dahingestellt bleiben.Randnummer51

Denn eine Ausnahme von der Anwendbarkeit der Grundsätze über die fehlerhafte GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
fehlerhafte Gesellschaft
Gesellschaft
ist jedenfalls nicht dann gegeben, wenn ein Beitritt zu einer Genossenschaft durch eine arglistige Täuschung bewirkt worden ist (BGH, Urt. v. 16.03.2009 – II ZR 138/08, juris Rn. 14). Wie der Bundesgerichtshof an anderer Stelle (Urt. v. 19.11.2013, aaO) nochmals betont hat, findet die rechtliche Anerkennung der fehlerhaften Gesellschaft nur da ihre Grenze, wo – anders als hier – gewichtige Interessen der Allgemeinheit oder besonders schutzbedürftiger Personen entgegenstehen.

3.Randnummer52

Die Anwendung der Grundsätze der fehlerhaften Genossenschaft hat zur Folge, dass die Beklagte wie eine Genossin mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten behandelt wird; insbesondere ist sie zur Leistung ihrer Einlage verpflichtet, soweit sie diese noch nicht vollständig erbracht hat (vgl. OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022 – 13 U 2405/21, S. 5 des Umdrucks; Anlage K 46 m.w.N.; LG Aachen, Urt. v. 01.09.2020 – 10 O 172/20, juris Rn. 43; LG Bielefeld, Urt. v. 07.04.2021 – 9 O 117/20, juris Rn. 39; Wiese in: Düsing/Martinez, Agrarrecht, 2. Aufl., § 15b GenG Rn. 7 [bei beck-online]).

a)

Die streitgegenständlichen Zahlungsansprüche wurden bereits mit dem Invollzugsetzen des fehlerhaften Beitritts in voller Höhe fällig (vgl. Saarländisches OLG, Urt. v. 19.05.2021 – 1 U 85/20, S. 7 des Umdrucks, sowie Urt. v. 26.05.2021 – 1 U 85/20, S. 7 des Umdrucks; jeweils Anlagenkonvolut K 42; Brandenburgisches OLG, Hinweisbeschl. v. 18.08.2021 – 7 U 68/21, S. 3 des Umdrucks; Anlage K 43; OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Dresden
, Hinweisbeschl. v. 10.03.2022 – 13 U 2405/21, S. 5 und 6 des Umdrucks; Anlage K 46; Fandrich in: Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 4. Aufl., § 15b Rn. 3). Gegenteiliges ergibt sich insoweit insbesondere auch nicht aus dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 23.04.2007 (II ZR 190/06, juris Rn. 4), da diese Entscheidung laufende Mitgliedsbeiträge von Vereinsmitgliedern zum Gegenstand hat, die nach Insolvenz des in Rede stehenden Vereins aus dem Grunde nicht mehr geschuldet werden, weil die Beiträge dem Verein die finanziellen Mittel zur Verwirklichung seines Zwecks verschaffen sollen, den er nach Insolvenzeröffnung rechtlich nicht mehr dauerhaft zu verwirklichen vermag und die Mitglieder darum nicht mehr an den Vorteilen der Vereinstätigkeit teilhaben. Dies ist auf die Genossenschaft gerade nicht übertragbar, vielmehr ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, rückständige fällige Einlagen einzufordern (s. sogleich unter c)).

b)

Im Übrigen wäre die Einlagenverpflichtung auch dann sofort fällig geworden, wenn nicht anzunehmen wäre, dass § 15b Abs. 2 Satz 1 GenG ein Verbotsgesetz enthält, das zur Nichtigkeit der Stundungs- und Ratenzahlungsvereinbarung und in der Folge der auf die Begründung der Anteile der Beklagten gerichteten Beitritts- und Zulassungserklärung führt, denn es würde dann jedenfalls an einer Satzungsgrundlage hierfür fehlen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bedarf es für die Zulässigkeit einer ratenweisen Zahlung von Einlagen selbst dann einer wirksamen Satzungsgrundlage, wenn es um die Zahlung auf die Pflichteinlage geht, bei der nach § 15b Abs. 2 Satz 2 GenG eine Ratenzahlung möglich ist (BGH, Urt. v. 16.03.2009, aaO, juris Rn. 7). Ohne Satzungsgrundlage hätte eine Ratenzahlung erst recht nicht für die Zahlungen auf die freiwilligen Anteile ermöglicht werden können. Die Satzung in der für die streitgegenständliche Beteiligung geltenden Fassung mit Stand vom 01.10.2014 (Anlage K 1) enthält keine wirksame Regelung einer Ratenzahlung. Sie ist schon in sich widersprüchlich und deshalb unanwendbar, wenn sie in § 33 Abs. 3 Satz 1 zunächst in Übereinstimmung mit § 15b Abs. 2 Satz 1 GenG bestimmt, dass die Mitglieder über den Pflichtanteil hinaus weitere Anteile übernehmen können, wenn die vorhergehenden Anteile bis auf den zuletzt übernommenen voll eingezahlt sind und der Vorstand die Übernahme zugelassen hat, und wenn sie dann in den folgenden beiden Sätzen im Gegensatz dazu eine Ratenzahlung vorsieht. Unabhängig davon ist eine Satzungsregelung, die eine Ratenzahlung bei freiwilligen Anteilen vorsieht, jedenfalls gesetzwidrig und deshalb nichtig, wie der Kläger zu Recht vorbringt, weil sie mit § 15b Abs. 2 Satz 1 GenG nicht vereinbar ist.

c)

Zur Geltendmachung der noch offenen Zahlungsansprüche ist der Kläger nach § 80 InsO berechtigt, da diese Ansprüche in die Insolvenzmasse fallen (vgl. BGH, Beschl. v. 16.03.2009 – II ZR 138/08, juris Rn. 17).

4.

Entgegen der Auffassung der Berufung (BA 24 f.) ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht (LGU 7) im Hinblick auf die beklagtenseits hilfsweise zur Aufrechnung gestellten Schadensersatzansprüche keine Ausnahme nach § 242 BGB von der Regel des Ausschlusses der Aufrechnung nach § 22 Abs. 5 GenG angenommen hat.Randnummer57

Wie das Landgericht (aaO) zutreffend ausgeführt hat, würde durch eine Zulassung der Aufrechnung über § 242 BGB das Volleinzahlungsgebot nach § 15b GenG ausgehöhlt und damit ad absurdum geführt. In der Tat dient das Aufrechnungsverbot des § 22 Abs. 5 GenG, welches im Wesentlichen denjenigen in § 66 Abs. 1 Satz 2 AktG wie auch in § 19 Abs. 2 Satz 2 GmbHG entspricht (vgl. Beuthien in Beuthien/Wolff/Schöpflin, GenG, 16. Aufl., § 22 Rn. 20), der Kapitalaufbringung (vgl. Geibel in: Henssler/Strohn, GesR, 5. Aufl., § 22 GenG Rn. 11; Pöhlmann in: Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 4. Aufl., § 22 Rn. 13). Das Aufrechnungsverbot gilt während der gesamten Dauer der Mitgliedschaft, auch nach Kündigung, im Liquidationsstadium und im Insolvenzverfahren über das Vermögen der eG (vgl. Pöhlmann, aaO; Holthaus/Lehnhoff in: Lang/Weidmüller, GenG, aaO, § 22 Rn. 18; Beuthien, aaO). Insbesondere ist in diesem Zusammenhang – entgegen der Auffassung der Berufung – auch unbeachtlich, auf welchem Rechtsgrund die Forderung des Mitglieds beruht (vgl. Holthaus/Lehnhoff, aaO; Beuthien, aaO).

5.

Nach alledem steht dem Kläger als Insolvenzverwalter über das Vermögen der … Wohnbaugenossenschaft eG der seitens des Landgerichts tenorierte Anspruch auf Einzahlung der noch ausstehenden Einlagen der Beklagten i.H. von insgesamt 19.257,00 € zu.

II.

Gegen die bezüglich dieses Betrages i.H. von 19.257,00 € erfolgte – rechtlich nicht zu beanstandende – Tenorierung von (Rechtshängigkeits-) Zinsen (§§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB) i.H. von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 12.08.2021 wird in der Berufungsbegründung vom 06.07.2022 (BA 19 ff.) nichts erinnert.

C.

Eine Zulassung der Revision ist nicht veranlasst, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO). Insbesondere weicht der Senat vorliegend weder von einer höchstrichterlichen noch einer obergerichtlichen Entscheidung ab.

D.

I.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

II.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit resultiert aus §§ 708 Nr. 10 Satz 1, 713 ZPO, nachdem die Voraussetzungen, unter denen ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil stattfindet, mangels Erreichens der für die Nichtzulassungsbeschwerde geltenden Wertgrenze des § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO von 20.000,00 € unzweifelhaft nicht vorliegen.Randnummer63

Insbesondere ist hier keine den Berufungsstreitwert von 19.257,00 € erhöhende Hilfsaufrechnung gegeben, da sich der Streitwert nur insoweit um den Wert einer hilfsweise zur Aufrechnung gestellten bestrittenen Forderung erhöht, als eine der Rechtskraft fähige Entscheidung über diese Gegenforderung ergeht (§ 45 Abs. 3 GKG). Da die Hilfsaufrechnung der Beklagten mit Schadensersatzforderungen wegen des Aufrechnungsverbots des § 22 Abs. 5 GenG unzulässig ist, wurde über diese Gegenforderungen der Beklagten seitens des Senats jedoch nicht rechtskraftfähig entschieden, so dass die Beklagte hierdurch nicht zusätzlich beschwert ist (vgl. nur BGH, Beschl. v. 31.07.2001 – XI ZR 217/01, NJW 2001, 3616 m.w.N.).

Löffler I www.K1.de I Gesellschaftsrecht I Gesellschafterversammlung I M&A I Unternehmenskauf I Erfurt I Thüringen I Sachsen I Sachsen-Anhalt I Hessen I Deutschland 2023

Schlagworte: Agrarbetrieb, Agrargenossenschaft, Agrarunternehmen, fehlerhafte Genossenschaft, fehlerhafte Gesellschaft, fehlerhafter Beitritt, Genossenschaft, Genossenschaft Vermögenswert, Genossenschaftsanteil, Genossenschaftsrecht, Innenausgleich Genossen, Kauf von Agrargenossenschaft, Nichtigkeit Genossenschaftsbeitritt, Rechtsfolgen der fehlerhaften Genossenschaft, Verkauf von Agrargenossenschaft, Verteilung Vermögen an Genossen, Wertverlust Genossenschaftsanteil, Zeichnung Geschäftsanteile

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OLG Stuttgart, Urteil vom 12.04.2022 – 1 U 205/18       

Dienstag, 12. April 2022

§ 37b Abs 1 aF WpHG

Ein Kursdifferenzschaden des Käufers von Vorzugsaktien der beklagten Emittentin, einer Holdinggesellschaft, kann aufgrund einer Vorteilsanrechnung zu verneinen sein, wenn die Aktienkäufe im Rahmen eines sog. Pair Trade planmäßig und gezielt mit Leerverkäufen von Vorzugsaktien der Gesellschaft, deren Anteile das einzige substanzielle Investment der Emittentin ausmachen, kombiniert worden sind und der Kursdifferenzschaden auf Publizitätspflichtverletzungen der Emittentin gestützt wird, die ihre Grundlage in der Beteiligung der Emittentin an der anderen Gesellschaft haben, und entsprechende Risiken durch die Leerverkäufe abgesichert waren (vollständiges Hedging).

Tenor

1. Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 24.10.2018 (Az.: 22 O 348/16) wird zurückgewiesen.

2. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 24.10.2018 (Az.: 22 O 348/16) dahin abgeändert, dass die Klage in vollem Umfang abgewiesen wird.

3. Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen und die Kosten der Streithelferin tragen die Klägerin zu 1 zu 66 % und die Klägerin zu 2 zu 34 %.

4. Das vorliegende Urteil und – soweit nicht vorstehend abgeändert – das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 24.10.2018 (Az.: 22 O 348/16) sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerinnen können die Vollstreckung der Beklagten bzw. der Streithelferin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des jeweiligen Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte bzw. die Streithelferin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

Streitwert: ‭158.421.196,64 €

Im Verhältnis zur Klägerin zu 1: 104.557.978,56 €

Im Verhältnis zur Klägerin zu 2: 53.863.218,08 €

Gründe

A.

Die Klägerinnen verlangen als Käufer von Vorzugsaktien der beklagten Holdinggesellschaft Schadensersatz im Zusammenhang mit dem sog. V.-Abgasskandal.

I.

Die beiden Klägerinnen sind Fondsgesellschaften der US-amerikanischen E.-Gruppe. Die beklagte P. Automobil Holding SE ist als Holdinggesellschaft mit rund 52 % der Stimmrechte an dem Automobilhersteller V. AG, ihrer Streithelferin, beteiligt; diese Beteiligung stellt ihr einziges substanzielles Investment dar. Die Klägerinnen erwarben in den Jahren 2013 bis 2015 Vorzugsaktien der Beklagten. Sie nehmen die Beklagte im Zusammenhang mit dem Einbau einer sog. Abschalteinrichtung in Dieselfahrzeugen, bekannt als V.-Diesel- oder V.-Abgasskandal, auf Schadensersatz in Anspruch, insbesondere wegen der Verletzung kapitalmarktrechtlicher Publizitätspflichten. Die Klägerinnen machen insgesamt rund 160 Mio. € Kursdifferenzschaden geltend (26,72 € Schaden pro Vorzugsaktie bei rund 4 bzw. 2 Mio. erworbenen Vorzugsaktien). Wegen der tatsächlichen Feststellungen im Einzelnen sowie des Vorbringens und der Antragstellung in erster Instanz wird auf das angegriffene Urteil verwiesen (§ 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO).

II.

Das Landgericht hat das vorliegende Verfahren zunächst mit Beschluss vom 20.10.2017 (Bl. 347 ff.) im Hinblick auf die Aktienkäufe vom 3.6.2014 bis 6.7.2015 bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart über die im Vorlagebeschluss des Landgerichts Stuttgart vom 28.2.2017 (Az.: 22 AR 1/17 Kap) genannten Feststellungsziele ausgesetzt.

III.

Mit dem angegriffenen Urteil vom 24.10.2018 hat das Landgericht auf die mündliche Verhandlung vom 12.9.2018 (Protokoll Bl. 974 ff.) die Teilaussetzung aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin zu 1 rund 29 Mio. € sowie an die Klägerin zu 2 rund 15 Mio. € nebst Zinsen zu zahlen, und festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Klägerinnen jedweden weiteren Schaden, der ihnen im Zusammenhang mit Erwerben der Vorzugsaktie der Beklagten im Zeitraum vom 3.6.2014 bis 6.7.2015 aufgrund der Verletzung der Ad-Hoc-Publizitätspflicht durch die Beklagte im Zusammenhang mit der „Dieselgate-Betrugsaffäre“ bei der V. AG entsteht, zu ersetzen; im Übrigen hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt: Den Klägerinnen stünden Schadensersatzansprüche gemäß § 37b WpHG a.F. in der zugesprochenen Höhe zu. Für die Beklagte als Holdinggesellschaft habe eine genuine Ad-hoc-Publizitätspflicht ungeachtet derjenigen der V. AG als Beteiligungsunternehmen bestanden. Die Beklagte hafte wegen einer Insiderinformation, die im Mai 2014 in der Sphäre der V. AG entstanden sei. Die Information habe Prof. Dr. W., der damals Vorstandsvorsitzender der V. AG gewesen sei und zugleich dem Vorstand der Beklagten angehört habe, unstreitig zum 23.5.2014 erreicht. Die Beklagte sei als Holdinggesellschaft unmittelbar von den aus der Sphäre der V. AG stammenden Insiderinformationen betroffen. Im Übrigen wird auf die Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils verwiesen.

IV.

Die Klägerinnen machen mit ihrer Berufung geltend, dass die Berechnung des Schadens durch das Landgericht nicht den zutreffenden Kursdifferenzschaden abdecke und die Schäden aus Umsatzgeschäften des Jahres 2013, also vor dem 23.5.2014, zu Unrecht nicht berücksichtigt worden seien. Es hätte festgestellt werden können, dass Prof. Dr. W. schon im Jahr 2012 Kenntnis von dem Einsatz und der drohenden Entdeckung der Betrugssoftware gehabt habe und insoweit eine publizitätspflichtige Insiderinformation vorliege. Das Landgericht habe rechtsfehlerhaft angenommen, dass die Klägerinnen auf die von ihnen beantragten Zwischenstreite über die Zeugnisverweigerungsrechte verschiedener Zeugen verzichtet hätten. Ferner hätten sich nicht alle Zeugen auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen; die Ladung weiterer Zeugen sei angezeigt gewesen. Der Schadensberechnung habe das Landgericht ein zu frühes Ende des Beobachtungszeitraums zugrunde gelegt.Randnummer6

Die Klägerinnen beantragen hinsichtlich ihrer Berufung,Randnummer7

über die erstinstanzlich getroffenen Feststellungen und den den Klägerinnen zuerkannten Betrag hinaus das am 24. Oktober 2018 verkündete Urteil des Landgerichts Stuttgart (Az. 22 O 348/16) teilweise abzuändern undRandnummer8

1. die Beklagte zu verurteilen, über den der Klägerin zu 1 durch das Landgericht bereits zugesprochenen Betrag von EUR 29.047.107,27 nebst Zinsen hinaus weitere EUR 75.510.871,29 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten p.a. über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen;Randnummer9

2. die Beklagte zu verurteilen, über den der Klägerin zu 2 durch das Landgericht bereits zugesprochenen Betrag von EUR 14.789.773,68 nebst Zinsen hinaus weitere EUR 39.073.444,40 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten p.a. über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen;Randnummer10

3. festzustellen, dass die Beklagte über den durch das Landgericht bereits festgestellten Zeitraum vom 3. Juni 2014 bis zum 6. Juli 2015 verpflichtet ist, den Klageparteien jeweils jedweden weiteren Schaden, einschließlich von Schäden aufgrund einer Geldentwertung des Euros gegenüber dem US-Dollar, der den Klageparteien im Zusammenhang mit Erwerben der Vorzugsaktie der Beklagten im Zeitraum vom 29. Oktober 2013 bis 13. Dezember 2013 aufgrund der Verletzung der Ad-hoc-Publizitätspflicht durch die Beklagte im Zusammenhang mit der Dieselgate-Betrugsaffäre bei ihrer Beteiligungsgesellschaft V. AG entsteht, zu ersetzen.Randnummer11

Die Beklagte beantragt,Randnummer12

die Berufung der Klägerinnen und die weiteren Anträge der Klägerinnen im Schriftsatz der Klägervertreter vom 25.2.2019 zurückzuweisen.Randnummer13

Die Beklagte und die Streithelferin treten der Berufung der Klägerinnen entgegen.Randnummer14

Die Beklagte macht geltend, das Urteil beruhe auf Verfahrensfehlern. Dem Einzelrichter des Landgerichts falle ein willkürlicher Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zur Last, weil er von einer Vorlage der Sache an die Kammer abgesehen habe. Außerdem habe er in mehrfacher Hinsicht den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. In der Sache habe das Landgericht rechtsfehlerhaft einen Anspruch der Klägerinnen gemäß § 37b WpHG a.F. bejaht. Die Klägerinnen hätten nur „security entitlements“ nach US-amerikanischem Recht erlangt, die lediglich Derivaten auf die Vorzugsaktien der Beklagten entsprächen und für die Aktivlegitimation der Klägerinnen nicht ausreichten. Die streitgegenständlichen Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten hätte die Klägerin außerdem im Rahmen eines sog. Pair Trade mit Leerverkäufen von V.-Vorzugsaktien kombiniert und so ein vollständiges Hedging in Bezug auf Kursschwankungen der von der Beklagten gehaltenen V.-Aktien, die das wesentliche Vermögen der Beklagten ausmachten, betrieben. Die Vorteile daraus müssten sich die Klägerinnen anrechnen lassen mit der Folge, dass ein Schaden zu verneinen sei. Im Übrigen wären Ansprüche aus § 37b Abs. 1 WpHG a.F. jedenfalls gemäß § 37b Abs. 4 WpHG a.F. verjährt.Randnummer15

Die Beklagte beantragt hinsichtlich ihrer Berufung,Randnummer16

1. unter teilweiser Abänderung des Urteils des Landgerichts vom 24. Oktober 2018 – Az. 22 O 348/16 – die Klage insgesamt abzuweisen;Randnummer17

2. hilfsweise das Urteil des Landgerichts vom 24. Oktober 2018 – Az. 22 O 348/16 – insoweit aufzuheben, als die Beklagte verurteilt wurde, und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.Randnummer18

Die Klägerinnen beantragen,Randnummer19

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.Randnummer20

Die Klägerinnen treten der Berufung der Beklagten und insbesondere auch dem Vorbringen der Beklagten zur fehlenden Aktivlegitimation der Klägerinnen und zur Vorteilsanrechnung im Hinblick auf die Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien entgegen.Randnummer21

Die im Berufungsverfahren als Streithelferin auf Beklagtenseite beigetretene V. AG hat sich den Anträgen der Beklagten in der Verhandlung vom 12.9.2019 angeschlossen und ist in der Verhandlung vom 10.2.2022 nicht erschienen.Randnummer22

Wegen des Vorbringens der Parteien und der Streithelferin im Berufungsverfahren wird im Übrigen auf die Schriftsätze im Berufungsverfahren verwiesen, wegen der Ergebnisse der Senatsverhandlungen vom 12.9.2019 und 10.2.2022 auf die Protokolle.

V.

Der Senat hat am 12.9.2019 mündlich verhandelt (siehe das Senatsprotokoll). Mit Beschluss vom 29.10.2019 hat er das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Kapitalanleger-Musterverfahren 3 Kap 1/16 des Oberlandesgerichts Braunschweig und 20 Kap 2/17 des Oberlandesgerichts Stuttgart ausgesetzt. Der Beschluss vom 29.10.2019 ist durch den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16.6.2020 (II ZB 30/19) aufgehoben worden. Wegen der prozessualen Hintergründe und der Einzelheiten zu den verschiedenen Verfahren in Stuttgart und Braunschweig im Zusammenhang mit kapitalmarktrechtlichen Ansprüchen gegen die Beklagte und die Streithelferin wird auf den Beschluss des Senats vom 29.10.2019 Bezug genommen (vgl. dort unter A. II.).Randnummer24

Durch den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16.6.2020 ist die Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens angeordnet worden. Für Schadensersatzansprüche, die auf das Unterlassen einer öffentlichen Kapitalmarktinformation gestützt würden, könne eine Entscheidung über die Feststellungsziele eines bereits eingeleiteten Musterverfahrens nur dann bindende Wirkung haben, wenn diese Feststellungsziele dieselbe öffentliche Kapitalmarktinformation beträfen. Die Aussetzung des Verfahrens könne danach nicht auf die Feststellungsziele des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Braunschweig gestützt werden, weil die Feststellungen des Oberlandesgerichts Braunschweig keine Bindungswirkung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG für mögliche, auf die Verletzung von Informationspflichten der Beklagten gestützte Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte hätten. Die Feststellungsziele im Musterverfahren beim Oberlandesgericht Braunschweig beträfen ausschließlich anspruchsbegründende oder anspruchsausschließende Voraussetzungen bzw. Rechtsfragen in Bezug auf Schadensersatzansprüche wegen öffentlicher Kapitalmarktinformationen der Streithelferin. Der erkennende Senat habe die Abhängigkeit der Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen rechtsfehlerhaft darauf gestützt, dass eine Erweiterung des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Stuttgart um weitere Feststellungsziele naheliege.Randnummer25

Die Parteien haben in der Folge ergänzend vorgetragen, insbesondere hat die Beklagte den bereits im Zusammenhang mit ihrer Berufung erwähnten Vortrag vorgebracht, dass die Klägerinnen in Anbetracht der von ihnen gehaltenen „security entitlements“ nach US-amerikanischen Recht nicht aktivlegitimiert seien und ihnen wegen des Vorliegens eines Pair Trade im Ergebnis kein Schaden entstanden sei.Randnummer26

Der Senat hat am 10.2.2022 mündlich verhandelt (siehe das Senatsprotokoll). Die Klägerinnen haben in der ihnen gewährten Schriftsatzfrist mit Schriftsatz vom 10.3.2022 zum Beklagtenschriftsatz vom 13.1.2022 Stellung genommen. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 10.3.2021 [richtig: 2022] zur mündlichen Verhandlung vom 10.2.2022 Stellung genommen. Im Übrigen wird auch hier auf die Schriftsätze der Parteien und der Streithelferin im Berufungsverfahren verwiesen.

B.

Die Berufungen beider Seiten sind zulässig. Die Berufung der Klägerinnen ist jedoch unbegründet, während die Berufung der Beklagten Erfolg hat.

I.

Das vorliegende Verfahren ist nicht nach § 8 Abs. 1 KapMuG im Hinblick auf das Musterverfahren 20 Kap 2/17 des Oberlandesgerichts Stuttgart auszusetzen. Gemäß dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16.6.2020 (II ZB 30/19 Rn. 24) hängt der Rechtsstreit im Sinne des § 8 Abs. 1 KapMuG erst dann von den Feststellungszielen des Musterverfahrens ab, wenn nur noch Tatsachen oder Rechtsfragen offen sind, die unabhängig vom Ausgang des Musterverfahrens nicht beantwortet werden können; vor der Aussetzungsentscheidung nach § 8 Abs. 1 KapMuG müssen dabei nicht nur die im Musterverfahren statthaften Feststellungsziele offenbleiben, sondern auch solche Tatsachen oder Rechtsfragen, die nur auf diese bezogen geprüft werden können. Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend keine Abhängigkeit von den Feststellungszielen des Musterverfahrens 20 Kap 2/17 des Oberlandesgerichts Stuttgart gegeben. Aufgrund des nach der mündlichen Verhandlung vom 12.9.2019 eingereichten neuen Vorbringens der Beklagten, das hinsichtlich der maßgebenden Frage eines Schadens unstreitig oder nach § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO zuzulassen ist, hat vielmehr unabhängig davon eine Entscheidung in der Sache zu ergehen.Randnummer29

Die nunmehr entscheidungserheblichen, nach der mündlichen Verhandlung vom 12.9.2019 von Beklagtenseite ergänzend vorgebrachten Gesichtspunkte der Aktivlegitimation der Klägerinnen (dazu IV. 1.) und der Schadensfeststellung (dazu IV. 2), können naturgemäß nicht Gegenstand des Musterverfahrens OLG Stuttgart 20 Kap 2/17 sein. Eine Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG wäre deshalb nur möglich bzw. für das Berufungsgericht sogar rechtlich zwingend (im Gegensatz zum Revisionsgericht, weil im Revisionsverfahren unmittelbar eine höchstrichterliche Klärung herbeigeführt werden könnte, vgl. BGH, Urteil vom 15.7.2014 – XI ZR 100/13 –, NJW 2014, 3362 Rn. 12), wenn es nur noch um die Feststellungsziele im Verfahren OLG Stuttgart 20 Kap 2/17 als Rechtsfragen und die hierfür notwendigen Tatsachenfeststellungen ginge. Gleiches dürfte im Übrigen auch für die Schadenshöhe gelten, weil nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen eine Beweisaufnahme zur Schadenshöhe (vgl. BGH, Urteil v. 9.5.2005 – II ZR 287/02 –, NJW 2005, 2450, juris Rn. 27, insoweit hätte das LG zuvor auf eine hinreichende eigene Sachkunde hinweisen müssen, vgl. BGH, Urteile vom 23.11. 2006 – III ZR 65/06 –, NJW-RR 2007, 357 Rn. 14; vom 22.2.2011 – II ZR 146/09 –, NZG 2011, 549 Rn. 25; Beschluss vom 13.1.2015 – VI ZR 204/14 –, NJW 2015, 1311 Rn. 5) erst dann durchzuführen ist, wenn eine Haftung dem Grunde nach besteht.

II.

Die von den Klägerinnen erhobene Klage ist zulässig.Randnummer31

1. Das Landgericht geht zutreffend davon aus, dass die Klägerinnen partei- und prozessfähig sind. Die Berufung der Beklagten greift die entsprechenden Ausführungen im angefochtenen Urteil auch nicht an (siehe dort Rn. 81 ff.; ferner Senatsprotokoll vom 12.9.2019, S. 3). Bei der im US-Bundesstaat Delaware gegründeten Klägerin zu 2 mit Satzungssitz in New York ist nach Art. XXV Abs. 5 S. 2 des im Verhältnis zu den USA maßgeblichen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags vom 29.10.1954 von der nach dortigem Gründungsrecht gegebenen Rechtsfähigkeit auszugehen (vgl. BGH, Urteil v. 29.1.2003 – VIII ZR 155/02 –, BGHZ 153, 353, juris Rn. 8 ff.). Nach den von der Berufung der Beklagten nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts befindet sich der effektive Verwaltungssitz (zu der außerhalb der EU anzuwendenden Sitztheorie vgl. zusammenfassend BGH, Urteile vom 29.1.2003 – VIII ZR 155/02 –, BGHZ 153, 353, juris Rn. 9; vom 12.7.2011 – II ZR 28/10 –, BGHZ 190, 242 Rn. 16) der nach dem Recht der Cayman Islands gegründeten Klägerin zu 1 im US-Bundesstaat New York, nach dessen Recht die Gründung und Sitzverlegung anerkannt wird. Das Landgericht legt im Urteil auch korrekt und unbeanstandet dar, dass die Angaben in der vorliegenden Klageschrift zur Bezeichnung der Klägerinnen ausreichend sind (siehe dort Rn. 99-103).Randnummer32

2. Die deutschen Gerichte sind international zuständig. Die Vorschriften der (deutschen) Zivilprozessordnung über die örtliche Zuständigkeit (§§ 12 ff. ZPO) regeln mittelbar auch die Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit deutscher und ausländischer Gerichte. Soweit nach diesen Vorschriften ein deutsches Gericht örtlich zuständig ist, ist es im Verhältnis zu den ausländischen Gerichten auch international zuständig (vgl. BGH, Urteil vom 5.5.2011 – IX ZR 176/10 –, BGHZ 189, 320 Rn. 7). Im sachlichen und räumlichen Anwendungsbereich der EuGVVO n.F. (VO [EU] Nr. 1215/2012) gehen deren Gerichtsstände vor (vgl. Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 32b Rn. 8). Die EuGVVO n.F. ist hier einschlägig. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist die EuGVVO n.F. auch auf einen Rechtsstreit zwischen einem Beklagten, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, und einem Kläger eines Drittstaats anwendbar (vgl. EuGH EuZW 2005, 345 Rn. 27; EuZW 2016, 558 Rn. 20). Ein solcher Fall ist vorliegend gegeben. Die zeitliche Anwendbarkeit der EuGVVO n.F. folgt aus Art. 66 Abs. 1 EuGVVO n.F., die sachliche aus Art. 1 EuGVVO n.F. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte folgt auf dieser Grundlage aus Art. 26 Abs. 1 EuGVVO n.F. (rügelose Einlassung) und auch aus Art. 4 Abs. 1, 63 Abs. 1 EuGVVO n.F. (Sitz der Beklagten) sowie Art. 7 Nr. 2 EuGVVO n.F. (Handlungsort einer unerlaubten Handlung, vgl. OLG Frankfurt EuZW 2010, 918 f.).

III.

Im Streitfall ist in erster Linie deutsches Recht anwendbar.Randnummer34

1. Das Landgericht ist zutreffend und von den Berufungen unbeanstandet davon ausgegangen, dass das anwendbare Recht für die eingeklagten Schadensersatzansprüche wegen unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen nach der deliktsrechtlichen Ausweichklausel in Art. 4 Abs. 3 ROM II-VO (VO [EG] 864/2007) und damit abweichend von der Grundregel in Art. 4 Abs. 1 ROM II-VO zu bestimmen ist und hier deutsches Recht zur Anwendung kommt, weil an das Emittentenstatut und nicht an den Marktort anzuknüpfen ist (siehe das angegriffene Urteil Rn. 162 ff.; vgl. Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, WpHR, 7. Aufl. 2019, §§ 97, 98 WpHG Rn. 175 ff. m.w.N.;zur Einordnung als deliktische Haftung Hellgardt, a.a.O. Rn. 45 ff.; zur zeitlichen Anwendbarkeit Art. 31 f. ROM II-VO). Im Übrigen geht der Senat, wie in der mündlichen Verhandlung vom 12.9.2019 dargelegt, davon aus, dass auch eine stillschweigende Rechtswahl im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ROM II-VO anzunehmen ist, weil beide Seiten – auch die in Drittstaaten ansässigen Klägerinnen – sich dezidiert auf die materiell-rechtlichen Regelungen des § 37b WpHG a.F. berufen (Senatsprotokoll vom 12.9.2019, S. 4 f., Bl. 2454 f.). Dem sind die Parteien in der Verhandlung vom 12.9.2019 nicht entgegengetreten. Vielmehr haben die Parteien ihr Vorbringen zum deutschen Recht mit ihren weiteren schadensrechtlichen Ausführungen bis zur Verhandlung vom 10.3.2022 und auch danach noch vertieft. Unter den vorliegenden Umständen ist somit davon auszugehen, dass die Parteien das Bewusstsein und den notwendigen Willen hatten, durch die Berufung auf deutsche Rechtsvorschriften das deutsche Recht als Deliktsstatut zu wählen (vgl. BGH, Urteile vom 12.12.1990 – VIII ZR 332/89 –, NJW 1991, 1292, 1293; vom 30.10.2008 – I ZR 12/06 –, NJW 2009, 1205 Rn. 19; vom 31.5.2011 – VI ZR 154/10 –, BGHZ 190, 28 Rn. 47; MüKoBGB/Junker, 8. Aufl. 2021, Art. 14 ROM II-VO Rn. 32 f., auch zu Erwägungsgrund Nr. 31 der ROM II-VO).Randnummer35

2. Unabhängig von dieser für die Haftung maßgeblichen Hauptfrage wäre die Frage einer Aktivlegitimation der Klägerinnen als Vorfrage selbständig anzuknüpfen (hierzu zusammenfassend Grüneberg/Thorn, 81. Aufl. 2022, Einl. EGBGB Rn. 29 mit Nachw. aus der Rspr.). Für diese Vorfrage haben die Parteien im Ergebnis zu Recht auf US-amerikanisches Recht (Art. 8 UCC New York) abgestellt. Da aus den nachfolgenden prozessualen Gründen von der Aktivlegitimation der Klägerinnen auszugehen ist (unten IV. 1.), kann offenbleiben, ob sich dies aus Art. 43 EGBGB ergibt, wonach bei Wertpapieren das Recht am Lageort über das Recht am Papier entscheidet (sog. Wertpapiersachstatut, Grüneberg/Thorn, a.a.O., Art. 43 EGBGB Rn. 1; das Recht aus dem Papier folgt dem jeweiligen Forderungsstatut oder Gesellschaftsstatut, vgl. Staudinger/Mansel, BGB (2015), Anh. zu Art. 43 ff. EGBGB Rn. 74; MüKoBGB/Wendehorst, 8. Aufl. 2021, EGBGB Art. 43 Rn. 200-202; nach OLG FrankfurtBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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ZEV 2011, 478, juris Rn. 31 ff. richtet sich die Übereignung von Wertpapieren in schweizerischer Sammelverwahrung bei einer Depotbank durch Abtretung des Besitzherausgabeanspruchs gegen die depotführende Bank nach schweizerischem Zivilrecht), oder aus der Sonderregelung in § 17a DepotG (dazu Staudinger/Mansel, a.a.O., Anh. zu Art. 43 ff EGBGB Rn. 64 ff.; Scherer/Rögner, DepotG, 1. Aufl. 2012, § 5 Rn. 120 ff., § 17a Rn. 23 ff.; MüKoBGB/Wendehorst, 8. Aufl. 2021, EGBGB Art. 43 Rn. 247 ff.; BT-Drs. 14/1539 S. 15 f.; zum umstrittenen Geltungsbereich des § 17a DepotG Einsele WM 2001, 2415, 2419 ff., EuZW 2018, 402, 405 ff. und MüKoHGB/Einsele, Band 6, 4. Aufl. 2019, Q. Depotgeschäft Rn. 211).

IV.

Die Klage der Klägerinnen ist in der Sache unbegründet.Randnummer37

1. Aktivlegitimation

Allerdings sind die Klägerinnen aktivlegitimiert. Die von der Beklagten mit Schriftsatz vom 31.5.2021 in neuer Form erhobene Rüge der fehlenden Aktivlegitimation ist wegen der bindenden tatbestandlichen Feststellungen des Landgerichts i.V.m. § 531 Abs. 2 S. 1 ZPO ausgeschlossen.Randnummer39

a) Gemäß § 314 S. 1 ZPO liefert der Tatbestand des Ersturteils den Beweis für das mündliche Vorbringen einer Partei im erstinstanzlichen Verfahren (siehe auch BGH, Urteil vom 10.6.2021 – III ZR 38/20 –, NJW-RR 2021, 1223 Rn. 19). Diese Beweiswirkung erstreckt sich auch darauf, ob eine bestimmte Behauptung bestritten ist oder nicht. Da sich die Beweisregel des § 314 S. 1 ZPO auf das mündliche Parteivorbringen bezieht, ist davon auszugehen, dass die Parteien dasjenige in der mündlichen Verhandlung vorgetragen haben, was der Tatbestand ausweist. Zum Tatbestand in diesem Sinne gehören auch tatsächliche Feststellungen, die sich in den Entscheidungsgründen finden. Die Beweiswirkung gemäß § 314 S. 1 ZPO kann nur durch das Sitzungsprotokoll (§ 314 S. 2 ZPO) und nicht auch durch den Inhalt der Schriftsätze entkräftet werden. Vorher eingereichte Schriftsätze sind durch den Tatbestand, der für das Vorbringen am Schluss der mündlichen Verhandlung Beweis erbringt, überholt. Bei einem Widerspruch zwischen dem Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze und der Wiedergabe des Parteivorbringens im Urteilstatbestand sind die Ausführungen im Tatbestand maßgeblich (vgl. BGH, Urteil vom 8.11.2007 – I ZR 99/05 –, NJW-RR 2008, 1566 Rn. 15).Randnummer40

b) Danach sind die Feststellungen im unstreitigen Tatbestand des angegriffenen Urteils (dort Rn. 47 f.), wonach die Klägerin zu 1 insgesamt 3.940.956 Vorzugsaktien der Beklagten gekauft hat und – bis auf die wieder veräußerten 27.858 – weiterhin im Depotbestand hält und die Klägerin zu 2 insgesamt 2.030.190 Vorzugsaktien gekauft hat und – bis auf die wieder veräußerten 14.351 – weiterhin im Depotbestand hält, hinsichtlich des tatsächlichen Vorbringens in erster Instanz bindend. Da diese Feststellungen (Kaufen und Halten der Aktien als sog. Rechtstatsachen) auch tatsächlichen Charakter haben und für die Aktivlegitimation nach § 37b Abs. 1 WpHG a.F. ausreichen, kann sich die Beklagte insoweit nicht mehr auf ein erstinstanzliches Bestreiten berufen (vgl. zu Rechtstatsachen MüKoZPO/Fritsche, 6. Aufl. 2020, § 138 Rn. 2, 29; siehe auch BGH, Urteil vom 13.3.1998 – V ZR 190/97 –, NJW 1998, 2058, 2060; nur ergänzend Klägerschriftsatz vom 13.8.2021 Rn. 68 ff.). Widersprüche innerhalb des Urteils oder zu den Verhandlungsprotokollen des Landgerichts werden nicht geltend gemacht und sind nicht ersichtlich. Eine Bezugnahme auf die Schriftsätze erfolgt im angegriffenen Urteil insoweit nur pauschal. Für die Aktivlegitimation ist anders als bei einer eventuellen Schadensberechnung keine nähere Aufschlüsselung der Käufe nach einzelnen Kaufdaten wie in Anlage K46 erforderlich (siehe ergänzend auch die Anlage B142, Bl. 2612 ff.). Dass das erstinstanzliche Verfahren und das angegriffene Urteil rechtliche Mängel aufweisen mögen, steht der Bindungskraft des Tatbestands grundsätzlich nicht entgegen (siehe auch BeckOK ZPO/Elzer, 43. Ed. 1.12.2021, § 314 Rn. 38).Randnummer41

c) Im Übrigen war das von der Beklagten geltend gemachte Bestreiten der Aktienkäufe in erster Instanz nach der Vorlage der Bankbestätigungen über die Käufe in Anlage K46 mit Klägerschriftsatz vom 14.7.2017 (Bl. 282) nicht hinreichend substantiiert.Randnummer42

aa) Nach § 138 Abs. 2 und 3 ZPO hat sich jede Partei über die vom Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären; Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, sind als zugestanden anzusehen, sofern nicht die Absicht, sie Bestreiten zu wollen, aus den übrigen Erklärungen der Partei hervorgeht. Die erklärungsbelastete Partei hat – soll ihr Vortrag beachtlich sein – auf die Behauptungen ihres Prozessgegners grundsätzlich „substantiiert“, d.h. mit näheren positiven Angaben, zu erwidern. Ein substantiiertes Vorbringen kann grundsätzlich nicht pauschal bestritten werden. Ob und inwieweit also die nicht darlegungsbelastete Partei ihren Sachvortrag substantiieren muss, lässt sich nur aus dem Wechselspiel von Vortrag und Gegenvortrag bestimmen. Je detaillierter das Vorbringen ist, desto höher sind die Substantiierungsanforderungen gemäß § 138 Abs. 2 ZPO (vgl. BGH, Beschluss vom 28.7.2020 – VI ZR 300/18 –, NJW-RR 2020, 1320 Rn. 10; Urteil vom 20.2.2018 – II ZR 272/16 –, BGHZ 217, 327 Rn. 20; BeckOK ZPO/von Selle, 43. Ed. 1.12.2021, § 138 Rn. 15 ff., 18 m.w.N.).Randnummer43

bb) Nach diesen Grundsätzen berufen die Klägerinnen sich im Schriftsatz vom 13.8.2021 (Rn. 32 ff., 54 ff., 66 ff.) mit Recht darauf, dass die Beklagte die auf Anlage K46 gestützte Behauptung des Aktienerwerbs der Klägerinnen nicht substantiiert bestritten hat. Mit der Vorlage der Anlage K46 haben die Klägerinnen ihren Vortrag bezüglich des Aktienerwerbs auf das pauschale Bestreiten der Beklagten (Klageerwiderung vom 20.2.2017 Bl. 144, S. 59 Rn. 232) substantiiert (vgl. Bl. 282 nach der Verfügung Bl. 276). Eine nähere Substantiierung des Bestreitens der Beklagten ist in der Folge ausgeblieben. An der von der Beklagten im Schriftsatz vom 31.5.2021 (Rn. 163) für ihr Bestreiten genannten Stelle des Beklagtenschriftsatzes vom 11.1.2018 (Rn. 10) ist lediglich von den „behaupteten Aktienerwerben“ der Klägerinnen die Rede.Randnummer44

cc) Der von der Beklagten im Schriftsatz vom 13.1.2022 (Rn. 155 ff.) hiergegen eingewandte Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 29.11.2018 (I ZR 5/18, MDR 2019, 242 Rn. 10) betrifft Vorgänge außerhalb der Wahrnehmung der bestreitenden Partei und ist nicht übertragbar. Denn im Streitfall lagen der Beklagten mit der Anlage K46 nähere Angaben zu den Rechtspositionen der Klägerinnen vor. Ein substantiiertes Bestreiten wäre, wie das neue Beklagtenvorbringen zeigt, möglich und aus den genannten Gründen nach § 138 Abs. 2 ZPO auch erforderlich gewesen, zumal die Beklagte in der Klageerwiderung vom 20.2.2017 (Bl. 144 S. 59 Rn. 232) speziell das Fehlen von mit Anlage 46 dann vorgelegten Bankbestätigungen beanstandet hatte.Randnummer45

dd) Entgegen dem Beklagtenschriftsatz vom 10.3.2021 [richtig: 2022] (Rn. 2) ist zwischen den Parteien nicht etwa unstreitig, dass die Klägerinnen keine Vorzugsaktien der Beklagten erworben haben; die Klägerinnen räumen in ihrem Schriftsatz vom 13.8.2021 nicht ein, lediglich Inhaber von Wertpapierberechtigungen gewesen zu sein. So tragen die Klägerinnen im Schriftsatz vom 13.8.2021 (Rn. 76) ausdrücklich vor, sie hätten Vorzugsaktien der Beklagten als Finanzinstrumente i.S.d. § 37b WpHG a.F. erworben und nicht etwa nur Derivate. Dieser Vortrag von Rechtstatsachen steht nicht in Widerspruch dazu, dass die Klägerinnen den behaupteten Erwerb und die Inhaberschaft der Vorzugsaktien – wie im Übrigen bereits aus Anlage K46 bekannt ist – auf „security entitlements“ stützen. Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der von der Beklagten weiter zitierten Randnummer 95 des Klägerschriftsatzes vom 13.8.2021.Randnummer46

d) Das neue Bestreiten der Aktivlegitimation der Klägerinnen durch den Beklagtenschriftsatz vom 13.5.2021, das in den Folgeschriftsätzen vertieft worden ist, ist nicht gemäß § 531 Abs. 2 S. 1 BGB zuzulassen. Zulassungsgründe nach dieser Vorschrift sind nicht dargetan und nicht ersichtlich, zumal sich bereits aus der mit Klägerschriftsatz vom 14.7.2017 vorgelegten Anlage K46 ergab, dass die Klägerinnen das Kaufen und Halten der Aktien als sog. Rechtstatsachen auf die bereits dort so bezeichneten „security entitlements“ gestützt haben. Das angegriffene Urteil ist erst am 24.10.2018 auf die Verhandlung vom 12.9.2018 ergangen, also lange Zeit nach Vorlage der Anlage K46. Das Vorbringen der Beklagten zum amerikanischen Recht ist auch nicht als stets zulässiges, rein rechtliches Vorbringen zu werten. Denn damit wird das in erster Instanz tatsächlich festgestellte Kaufen und Halten der Vorzugsaktien bestritten. Der Grundsatz, dass ausländische Rechtsnormen keine Tatsachen sind und die Präklusionsvorschriften nicht anzuwenden sind, ist hier nicht einschlägig (vgl. auch BGH NJW 2013, 3656 Rn. 19; Zöller/Geimer, a.a.O. Rn. 14). Denn mit dem Kaufen und Halten der Aktien ist ein Vorgang bzw. Zustand als Rechtstatsache festgestellt. Ergänzend ist anzumerken, dass die Diskussion der rechtlichen Einordnung der gemäß Art. 8 UCC als „certificated securities“ verbrieften Rechte in „bearer form“ und in „registered form“ durch intermediäre Zwischenverwahrer seit Jahrzehnten geführt wird (vgl. nur Staudinger/Mansel, BGB (2015), Anh. zu Art. 43 ff EGBGB Rn. 86; Scherer/Rögner, DepotG, 1. Aufl. 2012, § 5 Rn. 121 ff.; MüKoHGB/Einsele, Band 6, 4. Aufl. 2019, Q. Depotgeschäft Rn. 197 sowie Einsele WM 2001, 7 ff. und 2415 ff.) und für die Beklagte angesichts des klaren Wortlauts der Anlage K46 längst bekannt hätte sein können und müssen.Randnummer47

e) Im Übrigen dürfte – ohne dass es hierzu einer abschließenden Entscheidung im Berufungsverfahren bedarf – auch viel dafür sprechen, das security entitlement nach US-Recht als besondere Form des wirtschaftlichen Eigentums anzusehen (vgl. dazu MüKoHGB/Einsele, Band 6, 4. Aufl. 2019, Q. Depotgeschäft Rn. 197), zumal es sich um eine insolvenzfeste Position der Klägerinnen handelt und das Argument der Beklagten mit den Stimmrechten jedenfalls bei Vorzugsaktien ohne Stimmrecht (wie hier) schon im Ansatz nicht greift. Denn bei der Auslegung von § 37b WpHG a.F. ist ein weites Verständnis des Begriffs des Erwerbens zugrunde zu legen (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 17.12.2020 – II ZB 31/14 –, NJW-RR 2021, 430, juris Rn. 327). Auch das deutsche Recht dürfte bei der stückelosen Girosammelverwahrung von Aktien längst von einer sachenrechtlichen Betrachtungsweise abgerückt sein (vgl. dazu BeckOGK/Vatter, 1.9.2021, AktG § 10 Rn. 65 und Rn. 70), so dass es nicht gerechtfertigt erscheint, bei einer Verwahrung in einem ausländischen Depot andere Maßstäbe anzulegen.Randnummer48

2. Schaden wegen Vorteilsanrechnung zu verneinenRandnummer49

Die Klage ist sowohl bezüglich der Zahlungsanträge als auch bezüglich des Feststellungsantrags unbegründet. Denn der eingeklagte Kursdifferenzschaden durch die Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten ist zu verneinen. Den Klägerinnen stehen daher keine entsprechenden Schadensersatzansprüche gemäß § 37b Abs. 1 Nr. 1 WpHG a.F. oder sonst aus Deliktsrecht – die Klägerinnen stützen sich u.a. auf § 826 BGB – gegen die Beklagte zu. Zusätzlich zu den Käufen von Vorzugsaktien der Beklagten haben die Klägerinnen Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien getätigt (zur Absicherung bzw. zum Hedging durch Leerverkäufe auch Findeisen/Tönningsen, WM 2011, 1405 f.; Schockenhoff, WM 2020, 1349, 1350; Mülbert/Sajnovits in: Assmann/Schneider/Mülbert, WpHR, 7. Aufl. 2019, Vor Art 1 VO Nr. 236/2012 Rn. 49 ff., 53). Bei dem Kursdifferenzschaden durch die Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten sind die Vorteile aus den gleichzeitig getätigten Leerverkäufen von Vorzugsaktien der Streithelferin anzurechnen. Dies führt zum Wegfall eines möglichen Kursdifferenzschadens, weil die Klägerinnen ihre Klage auf Pflichtverletzungen der Beklagten stützen, die ihre Grundlage in der Beteiligung der Beklagten an der V. AG haben und den V.-Abgasskandal betreffen, und gerade solche Risiken durch die Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien abgesichert waren.Randnummer50

a) Zulässigkeit des Berufungsvorbringens zu den Leerverkäufen der KlägerinnenRandnummer51

Der erst nach der Senatsverhandlung vom 12.9.2019 vorgebrachte Beklagtenvortrag, dass ein Schaden der Klägerinnen wegen der Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien zu verneinen sei, ist im Berufungsverfahren gemäß § 531 Abs. 2 S. 1 ZPO zuzulassen und zwar auch, soweit er bestritten wird, was allerdings nur partiell der Fall ist. Die Klägerinnen machen erfolglos geltend, der Beklagten sei das Vorliegen eines Pair Trade seit September 2015 bekannt gewesen (vgl. Klägerschriftsatz vom 13.8.2021 Rn. 1).Randnummer52

aa) Soweit das Beklagtenvorbringen zu den Leerverkäufen von V.-Vorzugsaktien unstreitig ist, ist es ohne Weiteres zuzulassen. Denn unstreitiges und damit nicht beweisbedürftiges Vorbringen hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung nach § 529 Abs. 1 ZPO zugrunde zu legen, unabhängig davon, ob bei seiner Berücksichtigung eine Beweisaufnahme etwa auf Folgefragen erforderlich wird (vgl. BeckOK ZPO/Wulf, 43. Ed. 1.12.2021, § 531 Rn. 8; siehe auch BeckOK ZPO/Bacher, a.a.O., § 296 Rn. 11 im Hinblick auf den gerügten Verstoß gegen §§ 530, 296 ZPO). Auf die Unstreitigkeit ihres Vorbringens hat die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 13.1.2022 für den damaligen Zeitpunkt mit Recht hingewiesen. Erst im nachgelassenen Klägerschriftsatz vom 10.3.2022 ist ein partielles Bestreiten des Beklagtenvortrags zu den Leerverkäufen erfolgt.Randnummer53

bb) Soweit die Klägerinnen in ihrem Schriftsatz vom 10.3.2022 das Beklagtenvorbringen partiell Bestreiten, ist es jedenfalls gemäß § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO zuzulassen. Die Bestimmung des § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO eröffnet die Möglichkeit des Vorbringens neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel auch ohne eine Ursächlichkeit durch das Erstgericht, wenn es nicht auf Nachlässigkeit der Partei beruht. Nachlässig handelt eine Partei, wenn sie die tatsächlichen Umstände nicht vorbringt, deren Relevanz für den Rechtsstreit ihr bekannt sind oder bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt hätten bekannt sein müssen und zu deren Geltendmachung sie im ersten Rechtszug imstande ist. Für eine Nachlässigkeit reicht auch einfache Fahrlässigkeit aus. Allerdings dürfen an die Informations- und Substantiierungslast der Partei keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Grundsätzlich müssen der Partei die Umstände bekannt sein. Es besteht keine Verpflichtung, unbekannte tatsächliche Umstände zu ermitteln (vgl. BeckOK ZPO/Wulf, 43. Ed. 1.12.2021, § 531 Rn. 19).Randnummer54

Nach dem Vorbringen der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 11.6.2021 (Bl. 2732 ff.) ist eine Nachlässigkeit zu verneinen, weil die Beklagte danach im Rahmen des von ihr zur Erlangung der Klägerdokumente angestrengten US-amerikanischen Discovery-Verfahrens einen wesentlichen Teil der im Schriftsatz vom 31.5.2021 vorgelegten Unterlagen erst am 14.5.2021 in der maßgebenden Fassung erhalten hat, zum Teil sogar erst am 28.5.2021 (siehe näher Beklagtenschriftsatz vom 11.6.2021 Rn. 12). Dem sind die Klägerinnen im Schriftsatz vom 13.8.2021 (Rn. 58-61, 197 ff.) nicht näher entgegengetreten; sie legen nicht hinreichend dar, dass der Beklagten die zuletzt am 28.5.2021 erfolgte Dokumentenherausgabe anzulasten ist (Klägerschriftsatz vom 13.8.2021 Rn. 204 genügt schon zeitlich nicht). Da keine Verpflichtung besteht, unbekannte tatsächliche Umstände zu ermitteln, sehen die Klägerinnen zu Unrecht eine Nachlässigkeit der Beklagten darin, dass diese erstmals mit Antrag vom 5.4.2019 das Discovery-Verfahren eingeleitet hat (siehe Klägerschriftsatz vom 13.8.2021, Rn. 20, 59 f.).Randnummer55

Eine frühere Kenntnis der Beklagten von dem Pair Trade oder nähere Hinweise darauf legen die Klägerinnen nicht dar; dass andere Investoren eine solche Strategie verfolgt haben (vgl. den Forbes-Artikel vom 30.9.2015 Anl. B161, Bl. 2958), reicht nicht aus. Das Klägervorbringen im Schriftsatz vom 13.8.2021 (Rn. 36 ff.) trägt unter Zugrundelegung der Maßstäbe der Rechtsprechung die Annahme von Nachlässigkeit nicht (vgl. das von den Klägerinnen zitierte Urteil BGH NJW-RR 2021, 56 Rn. 15 f.). Das Stellen eines Antrags nach § 142 ZPO hätte keine hinreichende Gewähr für eine schnellere Beschaffung der durch das Discovery-Verfahren erlangten Unterlagen gegeben, zumal die Anordnung der Urkundenvorlegung nach jener Vorschrift im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts steht (vgl. BeckOK ZPO/von Selle, 43. Ed. 1.12.2021, § 142 Rn. 15).Randnummer56

b) Tatsächliche Feststellungen zum „P. Discount Trade“Randnummer57

In tatsächlicher Hinsicht ist festzustellen, dass die Klägerinnen gleichzeitig mit den Käufen von Vorzugsaktien der Beklagten jeweils Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien getätigt
haben und ein enger Zusammenhang zwischen den Käufen und den Leerverkäufen bestand, weil sie beide aufgrund des von den Klägerinnen gezielt verfolgten Investitionskonzepts des „P. Discount Trade“ erfolgt sind.Randnummer58

aa) Bereits nach dem unstreitigen Parteivortrag beider Seiten ist von folgenden Verbindungen zwischen den Käufen von Vorzugsaktien der Beklagten, auf welche die Klägerinnen ihre Schadensersatzklage stützen, und den daneben getätigten Leerverkäufen von Vorzugsaktien der Streithelferin auszugehen:Randnummer59

Die Klägerinnen Bestreiten nicht das Beklagtenvorbringen, dass den Käufen und Leerverkäufen ein einheitliches Investitionskonzept zugrunde lag, das die Klägerinnen intern als „P. Discount Trade“ bezeichnet haben und bei dem es sich um einen sog. Pair Trade handelte, mit dem die Klägerinnen auf eine Unterbewertung der Vorzugsaktien der Beklagten im Verhältnis zu den von der Beklagten gehaltenen Stammaktien der Klägerin spekuliert und auf eine Verringerung des entsprechenden Spread gesetzt haben. Der Pair Trade bestand aus einer Long-Position in Vorzugsaktien der Beklagten und einer Absicherungsposition in Vorzugsaktien der Streithelferin (Leerverkäufe, Short-Position). Damit haben sich die Klägerinnen nicht nur gegen allgemeine Marktrisiken, sondern u.a. auch gegen V.-bezogene Risiken wie solche aus Corporate-Governance- und Compliance-Defiziten absichert (vgl. Klägerschriftsätze vom 13.8.2021 Rn. 4 ff.; vom 10.3.2022 Rn. 20; Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 41). Die jeweiligen Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten und Leerverkäufe von solchen der Streithelferin beruhten also auf einer einheitlichen Investitionsentscheidung (vgl. im Übrigen die von der Beklagten zitierte Mail der Klägerseite vom 8.6.2015, Bl. 2617; der Begriff „P. Discount“ bzw. „P. Discount Trade“ wird z.B. in Anl. B149 und B151 bis B154 gebraucht, Bl. 2626 ff.); diese geht weit über eine reine Risikostreuung durch eine Portfoliodiversifikation hinaus.Randnummer60

Die Klägerinnen Bestreiten auch nicht, dass die Umsetzung des Investitionskonzepts dadurch erfolgte, dass der Kauf von Vorzugsaktien der Beklagten jeweils mit einem zeitgleichen Leerverkauf von Vorzugsaktien der Streithelferin kombiniert wurde (vgl. Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021, Rn. 42, ausführlich Rn. 54 ff. mit der Transaktionsübersicht für die Zeit vom 29.10.2013 bis 30.12.2015, jeweils mit Angabe von „B“ für Kauf und „SS“ für Leerverkauf, Bl. 2612 ff. [Anmerkung: Am Ende von Rn. 59 muss es wohl richtig 2.549.519,22 € statt 3.510.050,59 heißen. Der letztgenannte Betrag ist der US-Dollar-Betrag; hier ist man wohl in der Spalte auf Bl. 2612 verrutscht.]). Die Wertpapierorders bezüglich der Käufe und Leerverkäufe wurden einheitlich und voneinander abhängig erteilt (vgl. Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 68 ff., 82; siehe den Hinweis „trades are contingent“ in der Ordner Bl. 2619R oben; Übersetzung im Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 70; siehe rein ergänzend auch Bl. 2617R: „[…] how these trades interrelate with the corresponding V. shorts.“). Hiergegen bringen die Klägerinnen im Schriftsatz vom 10.3.2022 (Rn. 10, 12, 20 ff.) in tatsächlicher Hinsicht lediglich vor, die Käufe und Leerverkäufe seien nicht „notwendig“ verbunden gewesen und nicht im gleichen Volumen durchgeführt worden; die Anlagestrategie sei im freien Ermessen der Klägerinnen aufgrund freiwilliger Entscheidungen erfolgt. Die Klägerinnen Bestreiten auf tatsächlicher Ebene nicht, dass sie in Ausübung des ihnen zustehenden Ermessens zusammenhängende Orders in der von der Beklagten vorgetragenen Art erteilt haben.Randnummer61

Unstreitig ist ferner, dass Käufe und Leerverkäufe im internen Reporting auf Klägerseite immer zusammen und mit Bezug zueinander und der wirtschaftliche Erfolg stets als Saldo aus Long- und Shortpositionen ausgewiesen worden ist (vgl. Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 83 ff., 99 ff. mit Anl. B136, Bl. 2578, B149 ff., Bl. 2626 ff.; als „irrelevant“ bezeichnet im Klägerschriftsatz vom 10.3.2022 Rn. 11). Die Klägerinnen halten dem entgegen, für die Frage der Schadensentstehung sei im Rahmen des § 37b WpHG a.F. eine Einzelbetrachtung vorzunehmen (siehe u.a. Schriftsatz vom 10.3.2022, Rn. 11, 17). Damit machen sie aber nur eine schadensrechtliche Rechtsansicht geltend und Bestreiten nicht das im Übrigen durch Dokumente der Klägerseite gestützte tatsächliche Vorbringen der Beklagten.Randnummer62

bb) Der Senat ist über diesen unstreitigen Sachverhalt hinaus auf Grundlage des beiderseitigen Parteivorbringens und der von der Beklagten vorgelegten Dokumente/E-Mails der Klägerseite, deren Echtheit die Klägerinnen nicht Bestreiten, gemäß § 286 ZPO davon überzeugt, dass der Pair Trade „P. Discount“ von den Klägerinnen gezielt so konzipiert war, dass etwaige Verluste bei den P.-Vorzugsaktien aufgrund von Schwankungen des Werts der von der Beklagten gehaltenen V.-Stammaktien, seien sie durch V.-spezifische Vorgänge oder durch allgemeine Marktschwankungen bedingt, im Sinne eines vollständigen Hedging durch Gewinne aus den Leerverkäufen der V.-Vorzugsaktien ausgeglichen werden sollten, und dass der Pair Trade auch so umgesetzt worden ist (vgl. Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 46 ff.).Randnummer63

(1) Die Klägerinnen haben den entsprechenden Tatsachenvortrag der Beklagten aus dem Schriftsatz vom 31.5.2021, also die Angaben zum Vorliegen eines Pair Trade und seiner Ausgestaltung, in ihrem Schriftsatz vom 13.8.2021 nicht bestritten. Dort wird nur in Abrede gestellt, dass die Klägerinnen damit gegen den Ausgang eines vor dem Oberlandesgericht Celle anhängigen Gerichtsverfahrens gegen die Beklagte gewettet haben, an dem Schwestergesellschaften der Klägerinnen beteiligt sind (Schriftsatz v. 13.8.2021 Rn. 2 ff., 175; siehe auch Beklagtenschriftsatz vom 13.1.2022 Rn. 22). Die Klägerinnen haben mit dem Schriftsatz vom 13.8.2021 außerdem ein von ihnen beauftragtes Privatgutachten von Prof. Dr. K. vom August 2021 (Anl. K78, Bl. 3027 ff.) vorgelegt, in dem zum „Sachverhalt“ festgehalten wird (Bl. 3031 f.):Randnummer64

„[…] Die Klägerinnen sind Teil der Fondsfamilie der E. Investment Management L.P. („E.“). E. ist ein US-amerikanischer Hedgefondsmanager, der Gelder für Universitäten und Pensionskassen verwaltet und an den Kapitalmärkten investiert. Zu den üblichen Anlagestrategien der von E. verwalteten Fonds gehören sog. marktneutrale Strategien durch das Eingehen von Positionen, die gegen allgemeine Marktrisiken gesichert sind. Dies geschieht regelmäßig durch das Eingehen von Absicherungspositionen („Hedge-“ oder „Hedging Positionen“). Die genaue Ausgestaltung der marktneutralen Strategie variiert von Fall zu Fall.Randnummer65

Als sich die Klägerinnen im Jahr 2013 dazu entschieden, Vorzugsaktien der Beklagten zu erwerben, hielt diese eine Beteiligung in Höhe von rund 52,2% der V.-Stammaktien. Diese Beteiligung an V. war der wesentliche Vermögensgegenstand der Beklagten. Die Analysten der Klägerinnen stuften die Beklagte deshalb als eine sogenannte single asset Company ein. Sie gelangten zu der Auffassung, dass der Börsenkurs der P.-Aktien niedriger sei als ihr „wahrer“ Wert (Fundamentalwert) und dass die Aktien daher mit einem Preisabschlag (Diskont, engl. discount) gehandelt würden. Ein solcher Abschlag ist in der Regel auch bei anderen börsennotierten Holdinggesellschaften, vor allem bei single asset Companies anzunehmen. Der Abschlag der Beklagten wurde in einer Bandbreite zwischen 24-45 % je nach dem aktuellen Börsenkurs der Beklagten beziffert. Die Klägerinnen ermittelten diesen Abschlag aus der Differenz zwischen dem Nettoinventarwert (net asset value, NAV) der Beklagten und dem Börsenwert der ausgegebenen Vorzugsaktien.Randnummer66

Aufgrund des Discounts, mit dem die Vorzugsaktien der Beklagten an der Börse gehandelt wurden, entschieden sich die Klägerinnen, die bereits oben erwähnten Vorzugsaktien der Beklagten zu erwerben (im Folgenden „lange Position“ oder „Long Position“). Sie sicherten diese Erwerbe ab, indem sie Vorzugsaktien der V. AG (im Folgenden auch „V.-Aktien“ oder „V.-Vorzüge“) leerverkauften („kurze Position“ oder „Short Position“). Auf diese Weise schafften sie es, nicht nur das allgemeine Marktrisiko, sondern auch das V.-spezifische Risiko aus ihrer P.-Position zu eliminieren. Sie „wetteten“ also weder auf ein Ansteigen noch eine Reduktion des P.- oder V.-Aktienkurses, sondern einzig darauf, dass der Abstand (spread) zwischen dem NAV der Beklagten (= dem Börsenwert der V.-Vorzüge) und dem Börsenwert der P.-Vorzüge geringer wurde. Aus diesem Grund wurde die Strategie intern „P. Discount Trade“ bzw. „P. Strategy“ genannt […].Randnummer67

Der Aufbau der Short Positionen war mit Kosten für die Klägerinnen verbunden. Zum einen zahlten sie den „Verleihern“ der leerverkauften Aktien Gebühren. Zum anderen mussten sie diesen Personen marktübliche Sicherheiten für die Rückgabeverpflichtung der „geliehenen“ Aktien stellen. Daneben fielen die üblichen Handelskosten (Maklercourtage etc.) an.“Randnummer68

Der Senat geht davon aus, dass dieser im Privatgutachten dargestellte Sachverhalt, der zum unstreitigen Sachverhalt passt, zutrifft. Die Klägerinnen haben sich das von ihnen vorgelegte Privatgutachten im Schriftsatz vom 13.8.2021 (Rn. 15) vollumfänglich zu eigen gemacht, ohne den dargestellten Sachverhalt zu korrigieren oder in Frage zu stellen. Sie haben im Schriftsatz vom 13.8.2021 (Rn. 16 f., 135 ff.) bezüglich der geltend gemachten Entstehung eines Schadens und des Nichteingreifens eines Vorteilsausgleichs auch im Einzelnen auf das Gutachten Bezug genommen.Randnummer69

Erstmals in dem in der Verhandlung vom 10.2.2022 nachgelassenen Schriftsatz vom 10.3.2022 stellen die Klägerinnen den Sachverhalt bezüglich des Pair Trade zum Teil anders dar, als er von der Beklagtenseite und auch im eigenen Privatgutachten von Prof. Dr. K. vom August 2021 beschrieben wird. Sie machen nun geltend, dass die Leerverkäufe von Vorzugsaktien der Streithelferin angeblich nicht zu einer vollständigen Absicherung der Positionen in Vorzugsaktien der Beklagten, auf welche die Klage gestützt wird, geführt habe.Randnummer70

Möglicherweise ist die Klägerseite aufgrund des Beklagtenschriftsatzes vom 13.1.2022 zu der Einschätzung gelangt, dass die Rechtsfolgen des zuvor unstreitigen und im Privatgutachten von Prof. Dr. K. vom August 2021 dargestellten Sachverhalts für sie nachteilig sein könnten, etwa weil danach Einiges für einen Vorteilsausgleich sprechen könnte. In der Präambel zu dem von der Klägerseite vorgelegten Ergänzungsgutachten vom 8.3.2022 versucht nun auch Prof. Dr. K., sich von der Sachverhaltsdarstellung aus seinem ersten Gutachten zu distanzieren und den Eindruck einer bloßen Unterstellung für gutachterliche Zwecke zu erwecken, wenn er ausführt:Randnummer71

„Dabei soll – wie auch schon in meinem ersten Gutachten – für den Zweck der rechtlichen Analyse unterstellt werden, dass die „langen“ Positionen der Klägerinnen vollständig „gehedged“ waren, wenngleich damit selbstverständlich keine Tatsachenbehauptung für die Klägerseite aufgestellt werden soll.“Randnummer72

Hinweise darauf, dass es sich bei dem recht ausführlich dargestellten Sachverhalt im Gutachten von Prof. Dr. K. vom August 2021 bloß um eine Unterstellung für Zwecke der rechtlichen Analyse handeln soll, finden sich in jenem Gutachten und auch in dem sich darauf stützenden Klägerschriftsatz vom 13.8.2021 aber nicht. In dem Gutachten wird vielmehr der gesamtgesellschaftliche Nutzen von Standard-Arbitragestrategien in der Art eines Pair Trade wie beim „P. Discount“ herausgestellt (siehe Gutachten Prof. Dr. K. vom August 2021 S. 6 ff., Bl. 3032 ff.).Randnummer73

(2) Für ein vollständiges Hedging, wie im ersten Gutachten von Prof. Dr. K. dargestellt („Eliminierung“ nicht nur des allgemeinen Marktrisiko, sondern auch des V.-spezifischen Risikos) spricht bereits die Konzeption des Pair Trade, mit dem die Klägerinnen auf eine Verringerung des Spread in Form einer Unterbewertung der Vorzugsaktien der Beklagten im Verhältnis zu den von der Beklagten gehaltenen Stammaktien der Streithelferin bzw. dem NAV der Beklagten gesetzt haben (siehe im Einzelnen das Gutachten Prof. Dr. K. vom August 2021, S. 5 ff, Bl. 3031 ff.). Zu würdigen sind hier ferner die von der Beklagten vorgelegten Dokumente der Klägerinnen, nach denen das Hedging in Höhe von 100 % erfolgte (siehe zum Umfang des Hedging die im Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 92 ff. wiedergegebenen Dokumente sowie ergänzend die Anlagen B150 und B151; soweit die Klägerinnen im Schriftsatz vom 10.3.2022 Rn. 23 geltend machen, die Dokumente stellten nur eine „punktuelle Einschätzung“ dar, steht dies einer Würdigung als Indiztatsache nicht entgegen).Randnummer74

Die Absicht eines vollständigen Hedging wird auch durch die von der Beklagten vorgelegten und zitierten E-Mails der Klägerseite vom September 2015 bestätigt (siehe Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 101 ff. – mit deutscher Übersetzung – sowie Anl. B153). Daraus ergibt sich, dass die Mitarbeiter der Klägerseite davon ausgingen, dass selbst ein so gravierendes Ereignis wie das Bekanntwerden des V.-Abgasskandals am 18.9.2015 keinen Einfluss auf den „P. trade“ haben wird. So heißt es in einer einer E-Mail vom Freitag, den 18.9.2015, 19.21 Uhr, auszugsweise: „It should not have any impact on the P. trade.“ Dem entspricht die Feststellung in der E-Mail vom Montag, den 21.9.2015, 8.10 Uhr: „V. and P. open down 12 %, but the spread unch´d“ (zur Übersetzung und Erläuterung der hier auf Englisch zitierten Passagen siehe Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 104, 107).Zum zeitlichen Hintergrund: Am 18.9.2015 (Freitag) teilte die US-Bundesumweltschutzbehörde EPA der Streithelferin mit, dass Verstöße gegen den Clean Air Act festgestellt worden seien (Veröffentlichung der sog. Notice of Violation). Am 20.9.2015 räumte die Streithelferin die Verstöße gegenüber der EPA öffentlich ein. Am 22.9.2015 (Montag), folgte die im angegriffenen Urteil wiedergegebene Ad-hoc-Mitteilung der Streithelferin (siehe den unstreitigen Tatbestand des angegriffenen Urteils Rn. 43 ff.).Randnummer75

(3) Der Feststellung des Senats steht nicht entgegen, dass die Klägerinnen gemäß der vorgelegten Transaktionsliste (Anl. B142) und dem Vorbringen beider Seiten 10 % weniger Verkäufe von V.-Vorzugsaktien getätigt haben als Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten, das Leerverkaufsvolumen von V.-Vorzugsaktien sich also insgesamt nur auf 90 % des Kaufvolumens belief (siehe Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 63, 77, und Klägerschriftsatz vom 10.3.2022 Rn. 12, 20). Denn das NAV der Beklagten umfasst neben der Beteiligung an der Streithelferin, die den größten Anteil ausmacht, insbesondere noch Barmittel in Milliardenhöhe (siehe näher die unbestrittenen Angaben im Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 24 f., 34, 39, auch zu den 90 %; zum NAV auch das Gutachten von Prof. Dr. K. vom August 2021 S. 5 f.). Daher ist plausibel, dass eine volle Absicherung der Risiken aus der V.-Beteiligung der Beklagten nicht Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien im vollen Volumen der getätigten Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten erforderte. Zwar heißt es in der im Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 wiedergegebenen (Rn. 47 mit Übersetzung) und von den Klägerinnen im Schriftsatz vom 10.3.2022 (Rn. 22) angesprochenen E-Mail eines Mitarbeiters der Klägerseite vom 8.6.2015 sinngemäß, dass 94 % von P.s NAV aus der Beteiligung an V. bestehe, weshalb für jeden Kauf von Vorzugsaktien der Beklagten in Höhe eines entsprechenden Anteils Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien getätigt würden, um Kursschwankungen von V. abzusichern. Da der Pair Trade über einen Zeitraum von vielen Monaten beginnend Ende Oktober 2013 durchgeführt worden ist (siehe Anl. B142), traten im Zeitverlauf naturgemäß auch Wertschwankungen bei den V.-Aktien auf, die wiederum den Anteil der V.-Beteiligung am NAV der Beklagten und grundsätzlich auch den Absicherungsbedarf beeinflusst haben können (daher nicht durchgreifend auch das Vorbringen im Beklagtenschriftsatz vom 10.3.2022 Rn. 34-36, u.a. zu den Auswirkungen des Kursverlusts von jeweils 12 % bezüglich beider Vorzugsaktien am 21.9.2015 bei einer Absicherung von 90 %; siehe nur ergänzend auch Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 94 zu den Marktwerten der Long- und der Short-Position per Schlusskurs vom 11.9.2015).Randnummer76

(4) Im Übrigen hat die Klägerseite den Beklagtenvortrag, dass das Volumen der Leerverkäufe eben dem Umfang entsprach, den die Klägerseite ermittelt hatte, um die Position der Klägerinnen in Vorzugsaktien der Beklagten vollständig abzusichern (Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 45, 47 f., 51, 63, 97 f.), nicht substantiiert bestritten. Die Klägerinnen machen im Schriftsatz vom 10.3.2022 (Rn. 21) zwar geltend, dass ein vollständiges Hedging, das einen Schaden ausschließe, nicht erfolgt sei. Damit Bestreiten sie aber nur pauschal den Ausschluss des Schadens durch ein vollständiges Hedging, ohne substantiiert dem Beklagtenvorbringen zu dem Pair Trade und seiner Ausgestaltung entgegen zu treten und darzulegen, nach welchen Kriterien die Klägerinnen die Höhe der Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien im Verhältnis zu den getätigten Käufen von Vorzugsaktien der Beklagten festgelegt haben und inwieweit ggf. auf eine Absicherung verzichtet wurde (vgl. zu unstreitigen Absicherungsgeschäften auch OLG Stuttgart, Urteil vom 26.3.2015 – 2 U 102/14 –, juris Rn. 259 f.; siehe dazu auch Beklagtenschriftsätze vom 31.5.2021 Rn. 159 ff., vom 13.1.2022 Rn. 144 ff.).Randnummer77

Das Vorbringen der Klägerinnen, dass die Investitionsentscheidung nach Einschätzung und freiem Ermessen der Klägerinnen erfolgte, ändert daran nichts. Der für die Klägerinnen verantwortliche US-amerikanische Hedgefondsmanager, E., hat in Ausübung seines Investitionsermessens mit dem unstreitigen Pair Trade in Form des „P. Discount“ ein wohlüberlegtes und ausgefeiltes Investitionskonzept verfolgt (siehe beispielhaft zu einzelnen Orders den Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 68 ff.). Dass die Höhe der einzelnen Transaktionen und vor allem das jeweilige Verhältnis zwischen Käufen und Leerverkäufen nicht einem Plan gefolgt, sondern nach Belieben festgelegt worden ist, erscheint daher fernliegend. Vielmehr spricht auch die von den Klägerinnen selbst angesprochene E-Mail vom 8.6.2015, 9.57 Uhr, dafür, dass die Klägerseite bis zum Ende der streitgegenständlichen Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten eine vollständige Absicherung entsprechend den von der Beklagten gehaltenen V.-Stammaktien durch Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien angestrebt hat (vgl. Klägerschriftsatz vom 10.3.2022 Rn. 22 mit Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 47; siehe nur ergänzend auch den letzten Absatz der E-Mail vom 8.6.2015, 9.17 Uhr, Bl. 2617 f.).Randnummer78

(5) Die Klägerinnen machen erfolglos geltend, dass sie auch dann von der Investition in die Vorzugsaktien der Beklagten profitieren konnten, wenn sich die anderen Vermögenswerte der Beklagten, also insbesondere die Beteiligungen an anderen Unternehmen, positiv entwickelten oder wenn die Haftungsfragen im Zusammenhang mit dem Short-Squeeze der Stammaktie der V. AG vom Oktober 2008 gelöst worden wären (siehe näher Klägerschriftsatz vom 10.3.2022 Rn. 8 ff.). Dies ändert nichts daran, dass das Risiko bezüglich der von der Beklagten gehaltenen V.-Stammaktien in der festgestellten Weise durch die Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien abgesichert wurde. Im Übrigen ist im Sachverhalt des Gutachtens von Prof. Dr. K. vom August 2021 (S. 5) ausgeführt, dass die Analysten der Klägerseite die Beklagte als sog. single asset company eingestuft hätten, weil die Beteiligung an V. der wesentliche Vermögensgegenstand der Beklagten gewesen sei (siehe ferner das Gutachten von Prof. Dr. K. vom 8.3.2022, S. 14). Danach wurden weitere Unternehmensbeteiligungen also nicht als wesentlich erachtet.Randnummer79

(6) Der im Klägerschriftsatz vom 10.3.2022 (Rn. 24) angebotene Sachverständigenbeweis zu den Behauptungen der Klägerinnen, Kursverluste bei V.-Vorzugsaktien zögen „nicht automatisch“ identische Kursverluste bei der P.-Vorzugsaktie nach sich, insbesondere nicht im Verhältnis zu dem von den Klägerinnen angenommenen Anteil am NAV, braucht nicht eingeholt zu werden. Die entsprechenden Behauptungen können unterstellt werden. Sie stehen der – sogleich näher auszuführenden – rechtlichen Würdigung, dass eine Vorteilsanrechnung vorzunehmen ist, die zum Wegfall eines eventuellen Kursdifferenzschadens führt, nicht entgegen. Denn maßgebend dafür ist die Feststellung, dass der Pair Trade „P. Discount“ von den Klägerinnen so konzipiert war und umgesetzt wurde, dass ein vollständiges Hedging erfolgte. Die Klägerinnen „eliminierten“ mit ihrem Investitionskonzept – wie ausgeführt – nicht nur das allgemeine Marktrisiko, sondern auch das V.-spezifische Risiko aus ihrer P.-Position; sie „wetten“ weder auf ein Ansteigen noch auf eine Reduktion des P.- oder V.-Aktienkurses, sondern einzig darauf, dass der Spread zwischen dem Börsenwert der P.-Vorzugsaktien und dem NAV der Beklagten (mit den von ihr gehaltenen V.-Aktien) geringer wurde. Dass die Absicherung durch die Leerverkäufe aufgrund der Unkalkulierbarkeit der Kursverläufe der beiden Vorzugsaktien, die durch den Börsenhandel bestimmt werden, nicht in jedem einzelnen Moment zu einem perfekten Verhältnis von Long- und Short-Positionen führte, stellt die umgesetzte Absicherungskonzeption des Pair Trade „P. Discount“ nicht in Frage.Randnummer80

c) Anrechnung der Vorteile aus den Leerverkäufen von V.-VorzugsaktienRandnummer81

Die vorstehenden tatsächlichen Feststellungen führen in rechtlicher Hinsicht dazu, dass ein Kursdifferenzschaden der Klägerinnen durch die streitgegenständlichen Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten, auf welche die Klägerinnen ihre Schadensersatzansprüche stützen, insgesamt zu verneinen ist. Denn nach den getroffenen Feststellungen wurde neben dem Marktrisiko auch das V.-spezifische Risiko, das den Vorzugsaktien der Beklagten wegen der von der Beklagten gehaltenen V.-Stammaktien innewohnte, durch die jeweils gleichzeitig und gezielt durchgeführten Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien abgesichert. Die Klägerinnen stützen ihre Schadensersatzansprüche auf unterlassene Ad-hoc-Mitteilungen der Beklagten im Hinblick auf ihre Beteiligung an der V. AG und den V.-Abgasskandal und damit auf ein Risiko, das entsprechend der Konzeption des Pair Trade durch die Leerverkäufe abgesichert war. Die Absicherungswirkung der Leerverkäufe (vollständiges Hedging) ist im Wege der Vorteilsanrechnung zu berücksichtigen und führt jedenfalls auf diesem Weg zum Wegfall eines eventuellen Kursdifferenzschadens (vgl. zur Geltendmachung des Kursdifferenzschadens etwa Klageschrift Rn. 166 ff.; Berufungsbegründung Bl. 1256 ff.; erstes Gutachten Prof. Dr. K. S. 34; Klägerschriftsatz vom 10.3.2022 Rn. 35 f., 40 ff.).Randnummer82

aa) Gemäß § 37b Abs. 1 WpHG a.F. ist der Emittent unter den dort näher geregelten Voraussetzungen „zum Ersatz des durch die Unterlassung entstandenen Schadens verpflichtet“. Der Anleger kann als Mindestschaden auch den im vorliegenden Fall von den Klägerinnen geltend gemachten Kursdifferenzschaden ersetzt verlangen. Hierfür muss der Anleger lediglich darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass, wäre die Ad-hoc-Mitteilung rechtzeitig erfolgt, der Kurs zum Zeitpunkt seines Kaufs niedriger gewesen wäre als er tatsächlich war (vgl. BGH, Urteil vom 13.12.2011 – XI ZR 51/10 –, BGHZ 192, 90 Rn. 49 ff., 67). Der Kursdifferenzschaden berechnet sich aus der Differenz zwischen dem tatsächlich gezahlten Transaktionspreis und dem Preis, der sich bei pflichtgemäßem Publizitätsverhalten gebildet hätte (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 – II ZB 31/14 –, Rn. 345).Randnummer83

bb) Die Absicherungswirkung der Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien ist jedenfalls im Wege der Vorteilsanrechnung zu berücksichtigen. Zwar handelt es sich bei den Vorzugsaktien der Beklagten und den V.-Vorzugsaktien um unterschiedliche Finanzinstrumente gemäß § 37b Abs. 1 S. 1 WpHG a.F. So ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bezüglich der Musterverfahren auch zwischen den Kapitalmarktinformationen der Beklagten und der Streithelferin zu unterscheiden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16.6.2020 – II ZB 30/19 –, juris Rn. 16 f.; vom 16.6.2020 – II ZB 10/19 –, juris Rn. 20 ff., 27, 30). Die prozessrechtliche Trennung der Musterverfahren lässt aber keinen Rückschluss auf die schadensrechtliche Beurteilung zu und schließt eine Anrechnung der Vorteile aus den Leerverkäufen von V.-Vorzugsaktien nicht aus (siehe nur ergänzend zu dem bereits bei der Schadensberechnung erforderlichen Gesamtvermögensvergleich BGH, Urteil vom 21.10.2021 – IX ZR 9/21 –, juris Rn. 10, zur Abgrenzung zwischen Schadensberechnung und Vorteilsausgleichung Rn. 16 f.).Randnummer84

cc) Die Voraussetzungen für eine Anrechnung der Vorteile aus den Leerverkäufen von V.-Vorzugsaktien sind gegeben mit der Folge, dass ein eventueller Kursdifferenzschaden jedenfalls infolge der Vorteilsanrechnung wegfällt.Randnummer85

(1) Nach den Grundsätzen der Vorteilsanrechnung sind dem Geschädigten diejenigen Vorteile anzurechnen, die ihm in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zufließen. Die vorteilhaften Umstände müssen mit dem schädigenden Ereignis in einem qualifizierten Zusammenhang stehen. Zu berücksichtigen ist ferner, ob eine Anrechnung dem Sinn und Zweck des Schadensersatzes entspricht und weder der Geschädigte unzumutbar belastet noch der Schädiger unbillig entlastet wird (vgl. BGH, Urteil vom 18.10.2018 – III ZR 497/16 –, NJW 2019, 215 Rn. 17 m.w.N.; näher jurisPK-BGB/Rüßmann, 9. Auflage 2020 (Stand 8.9.2021), § 249 Rn. 48 ff. m.w.N.; siehe auch zum schadensrechtlichen Bereicherungsverbot BGH, Urteil vom 4.4.2014 – V ZR 275/12, NJW 2015, 468 Rn. 20 m.w.N.; ferner BGH, Urteil vom 27.7.2021 – II ZR 164/20 –, juris Rn. 51 m.w.N.; zum ordre public BGH, Urteil vom 4.6.1992 – IX ZR 149/91 –, BGHZ 118, 312, juris Rn. 72 ff. betreffend punitive damages).Randnummer86

So muss sich der Anleger, der auf der Grundlage eines einheitlichen Beratungsgesprächs zwei verschiedene, ihrer Struktur nach aber gleichartige Anlagemodelle gezeichnet und dabei eine auf demselben Beratungsfehler beruhende einheitliche Anlageentscheidung getroffen hat, auf den Zeichnungsschaden aus dem verlustbringenden Geschäft die Gewinne aus dem positiv verlaufenen Geschäft anrechnen lassen, sofern er eines der beiden Geschäfte im Wege des Schadensersatzes rückabwickeln will (vgl. BGH, Urteil vom 18.10.2018 – III ZR 497/16 –, NJW 2019, 215 Rn. 15 ff., 26 ff. mit einer ausführlichen Darstellung der Rechtsprechung und Literatur; siehe zur Vorteilsausgleichung auch BGH, Urteil vom 25.5.2020 – VI ZR 252/19 –, BGHZ 225, 316 Rn. 65 ff.; Grüneberg/Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, Vorb. v. § 249 Rn. 67 ff., insb. Rn. 95, 101).Randnummer87

Die Anrechnung eines Vorteils aus der Ablösung eines ungünstigen Zins-Swap-Vertrags hat der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bejaht, wenn der geschädigte Anleger aufgrund eines auf einem Beratungsfehler beruhenden Willensentschlusses zugleich mit dem Abschluss eines (neuen) Zinssatz-Swap-Vertrags und wegen desselben einen anderen früher abgeschlossenen, ihm nachteiligen Zins-Swap-Vertrag ablöst, sofern nicht schon der Abschluss dieses früheren Vertrags auf einer pflichtwidrigen Willensbeeinflussung des Anlegers beruhte (vgl. BGH, Urteil vom 18.10.2018 – III ZR 497/16 –, NJW 2019, 215 Rn. 24 unter Bezugnahme auf BGH, Urteil vom 22.3.2016 – XI ZR 425/14 –, NJW 2016, 2949 Rn. 44; siehe ferner BGH, Urteil vom 28.4.2015 – XI ZR 378/13 –, BGHZ 205, 117 Rn. 85 ff.).Randnummer88

Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat eine Anrechnung von Vorteilen auf Verluste aus einer Reihe von gleichartigen unzulässigen Spekulationsgeschäften, die die im dortigen Verfahren von einer Gesellschaft verklagten Vertreter eines ihrer Organe pflichtwidrig abgeschlossen hatten, vorgenommen. Dies hat er damit begründet, dass zwar die Vor- und die Nachteile auf unterschiedlichen haftungsbegründenden Ereignissen beruhten, weshalb kein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen den Verlustgeschäften und den Geschäften mit Gewinn bestehe. Das Gebot der Vorteilsausgleichung ergebe sich aber unter anderem aus dem Bereicherungsverbot. Die Gesellschaft solle sich nicht aufgrund eines Fehlers des Organmitglieds auf dessen Kosten bereichern (siehe näher BGH, Urteil vom 18.10.2018 – III ZR 497/16 –, NJW 2019, 215 Rn. 25 mit BGH, Urteil vom 15.1.2013 – II ZR 90/11 –, NJW 2013, 1958 Rn. 26 f.).Randnummer89

(2) Danach ist hier eine Vorteilsanrechnung geboten und zwar für alle durchgeführten Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten. Die jeweils gleichzeitig erfolgte Absicherung durch Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien (vollständiges Hedging) führt dazu, dass ein eventueller Kursdifferenzschaden voll ausgeglichen wird und deshalb zu verneinen ist.Randnummer90

Der Kursdifferenzschaden aus der Differenz zwischen dem tatsächlich gezahlten Transaktionspreis für die Vorzugsaktien der Beklagten und dem Preis, der sich bei pflichtgemäßem Publizitätsverhalten der Beklagten bezüglich des V.-Abgasskandals gebildet hätte (vgl. § 37b Abs. 1 Nr. 1 WpHG a.F.), wird durch die anzurechnenden Vorteile aus den Leerverkäufen von V.-Vorzugsaktien komplett ausgeglichen. Denn mit den Leerverkäufen haben die Klägerinnen gezielt die Risiken aus der von der Beklagten gehaltenen V.-Beteiligung abgesichert bzw. gehedged. So machen die Klägerinnen im Schriftsatz vom 13.8.2021 (Rn. 181) unter Bezugnahme auf das erste Gutachten von Prof. Dr. K. vom August 2021 selbst geltend, dass zu den durch die Leerverkäufe abgesicherten V.-spezifischen Risiken auch und gerade das Risiko von Informationspflichtverletzungen der Streithelferin gegenüber dem Kapitalmarkt gehörte, auf das die Klägerinnen wegen der Beteiligung der Beklagten an der Streithelferin der Sache nach auch ihre Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte stützen. Das erste Gutachten von Prof. Dr. K. geht dabei davon aus, dass durch die Leerverkäufe ein „latenter“ Vorteil bei den Klägerinnen entstanden ist, dessen Anrechnung nicht an der Voraussetzung eines adäquat verursachten Vorteils scheitert (dort S. 24 ff.).Randnummer91

Die Vorteile aus den Leerverkäufen von V.-Vorzugsaktien stehen nach den getroffenen Feststellungen darüber hinaus in einem qualifizierten Zusammenhang mit den Käufen von Vorzugsaktien der Beklagten. Da Käufe und Leerverkäufe Teil des einheitlichen Anlagekonzepts „P. Discount Trade“ waren und auf einer einheitlichen Investment-Entscheidung beruhten, ist der Zusammenhang noch enger als im genannten Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18.10.2018 (III ZR 497/16, NJW 2019, 215 Rn. 27: Verklammerung, Paket). Auch das von den Klägerinnen mit dem Schriftsatz vom 10.3.2022 vorgelegte zweite Privatgutachten von Prof. Dr. K. vom 8.3.2022 (Anl. K82) rechtfertigt keine andere Bewertung. Prof. Dr. K. setzt sich darin zwar eingehend mit den Ausführungen in dem Privatgutachten von Prof. Dr. L. vom 7.1.2022 (Anl. B163) auseinander, das die Beklagte vorgelegt hat, und wirft Prof. Dr. L. diverse argumentative Fehler vor. Er bringt aber keine durchgreifenden Argumente gegen die Vorteilsanrechnung vor. Die von den Klägerinnen gewünschte Einzelbetrachtung der Käufe von Vorzugsaktien der Beklagten lässt sich auch dem bereits angesprochenen Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13.12.2011 (XI ZR 51/10 –, BGHZ 192, 90 Rn. 67 f.) nicht entnehmen.Randnummer92

Die Vorteilsanrechnung widerspricht nicht dem Sinn und Zweck des Schadensersatzes. Zweck des Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland vom 21.6.2002 (Viertes Finanzmarktförderungsgesetz, BGBl. I 2002 S. 2010), mit dem § 37b WpHG a.F. eingeführt worden ist, war u.a. die Stärkung des Anlegerschutzes (vgl. BT-Drs. 14/8017, S. 62 f., 64). In Bezug auf den Umfang des ersatzfähigen Schadens sind die Gesetzesmaterialien bestenfalls ambivalent (vgl. BGH, Urteil vom 13.12.2011 – XI ZR 51/10 –, BGHZ 192, 90 Rn. 55 m.w.N.). Prof. Dr. K. macht im ersten Gutachten vom August 2021 (S. 35 ff.) geltend, Ziel der Gesetzesänderungen, mit denen § 37b WpHG a.F. eingeführt worden ist, sei nach der Gesetzesbegründung auch gewesen, die Publizitätsvorschriften des Kapitalmarkts durchzusetzen. Die §§ 37b, 37c WpHG a.F. hätten nach Ansicht des Gesetzgebers also eine Präventions- und Rechtsdurchsetzungsfunktion. Fernziel sei die Steigerung der Attraktivität des deutschen Kapitalmarkts, vor allem für internationale Investoren. Der Bundesgerichtshof hat ausgeführt (Beschluss vom 23.4.2013 – II ZB 7/09 –, NJW 2013, 2114 Rn. 34):Randnummer93

„Die Schadensersatzpflicht wegen Verletzung der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung einer Insiderinformation dient in erster Linie dem Vermögensschutz der Anleger, selbst wenn sie zusätzlich einen generalpräventiven Charakter hat […]. Die Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung schützt das Interesse an der Funktionsfähigkeit der Märkte und soll dem Insider-Handel entgegenwirken, und sie schützt auch das Vermögensinteresse der Anleger hinsichtlich des Erzielens „richtiger“ Preise sowie ihre Entscheidungsfreiheit.“Randnummer94

Der gesetzlich bezweckte Anlegerschutz steht der Vorteilsanrechnung nicht entgegen. Das Investitionskonzept der Klägerinnen war darauf gerichtet, eine angenommene Unterbewertung der Vorzugsaktion der Beklagten im Verhältnis zu den von der Beklagten gehaltenen V.-Aktien auszunutzen. Das Hedging war konstitutives Merkmal des „P. Discount“. Die Klägerinnen haben auf diese Weise wie festgestellt nur auf eine Verringerung des vorgenannten Spread zwischen dem Wert der Vorzugsaktien der Beklagten einerseits und der von der Beklagten gehaltenen V.-Stammaktien andererseits „gewettet“. Die Klägerinnen machen nicht geltend, dass der Spread im Zeitpunkt der Investitionen aufgrund des V.-Abgasskandals zu ihren Lasten verzerrt und ihr Investitionskonzept dadurch beeinträchtigt war. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Spread wegen der Absicherungswirkung der Leerverkäufe durch den V.-Abgasskandal nicht berührt wurde. Ob das Investitionskonzept im Ergebnis erfolgreich war, ist nicht von Bedeutung (vgl. dazu Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 100, 111 ff. mit Anlagen B154, B155; dagegen Klägerschriftsatz vom 10.3.2022 Rn. 13 ff., 32). Auch ein etwaiger generalpräventiver Charakter des § 37b WpHG a.F. schlösse angesichts der speziellen Konstruktion des „P. Discount Trade“ eine Vorteilsanrechnung in dem vorliegenden Einzelfall nicht aus (siehe zur Frage des Zwecks der Haftung das erste Gutachten von Prof. Dr. K. S. 34 ff. und das zweite Gutachten S. 16 ff.).Randnummer95

In Anbetracht der speziellen Konstruktion des „P. Discount Trade“ werden die Klägerinnen dadurch, dass das Hedging auch Verletzungen der Ad-hoc-Publizität durch die Streithelferin abgedeckt hat und die Vorteile aus den Leerverkäufen von V.-Vorzugsaktien im Wege des Vorteilsausgleichs berücksichtigt werden, nicht unzumutbar belastet; ebenso wenig wird die Beklagte im vorliegenden Einzelfall unbillig entlastet. Nur ergänzend sei – auch im Hinblick auf eine Generalprävention – angemerkt, dass die Aktienkäufer aus den von den Klägerinnen im Rahmen des „P. Discount Trade“ getätigten Leerverkäufen von V.-Vorzugsaktien ggf. Schadensersatzansprüche gegen die Streithelferin geltend machen könnten (siehe nur ergänzend Beklagtenschriftsatz vom 13.1.2022 Rn. 6, 114 ff., 132 f.); solche Schadensersatzansprüche gingen auch zulasten der Beklagten, weil ihr Vermögen im Wesentlichen aus Aktien der Streithelferin besteht. Die Attraktivität des Kapitalmarktstandorts Deutschland ist auch insofern nicht beeinträchtigt.Randnummer96

Dass die Vorteilsanrechnung im Hinblick auf theoretische Schadensersatzansprüche aus § 37b WpHG a.F. aus Investorensicht ein Argument für ungesicherte Long-Positionen sein könnte, ist rechtlich nicht entscheidend (nicht durchgreifend hier das erste Gutachten von Prof. Dr. K. S. 38). Die Klägerinnen machen auch nicht geltend, dass sie den Vorteil etwaiger Ansprüche aus § 37b WpHG a.F. in ihre Anlageentscheidung einbezogen hätten, sondern sie haben sich aufgrund der Konzeption des „P. Discount“ als Pair Trade für das festgestellte Hedging entschieden.Randnummer97

(3) Da der Kursdifferenzschaden auf den Geldbetrag gerichtet ist, den der Anleger zu viel bezahlt oder zu wenig erhalten hat, sind keine Erwerbs- oder Veräußerungskosten zu ersetzen, zumal die in dem Klägerschriftsatz vom 10.3.2022 (Rn. 30) angesprochenen Kosten der Absicherung bereits aufgrund der Konzeption des Pair Trade „P.-Discount“ angefallen sind (vgl. Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, WpHR, 7. Aufl. 2019, § 97 WpHG Rn. 138; siehe auch Gutachten Prof. Dr. K. vom August 2021 S. 25 Fn. 83: Zwar hat der Anleger Handelskosten wie z.B. Maklercourtage aufgewendet; diese sind jedoch nicht Teil des ersatzfähigen Differenzschadens.). Die Beklagte trägt ferner unwidersprochen vor, dass der Aufwand der Klägerinnen für die Eingehung ihrer „P. Discount“-Position bei einer frühzeitigen Veröffentlichung des V.-Abgasskandals nicht niedriger gewesen wäre (vgl. Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 121 f., 124 ff.), also sowieso angefallen wäre.Randnummer98

(4) Die in den Gutachten von Prof. Dr. K. aufgeführten Fallgruppen, in denen eine Vorteilsanrechnung verneint wird, sind nicht einschlägig.Randnummer99

(a) Die Vorteile, welche die Klägerinnen durch die Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien erreicht haben, sind nicht mit Versicherungsleistungen vergleichbar, bei denen eine Vorteilsanrechnung in vielen Konstellationen abgelehnt wird. So entlasten Leistungen aus einer vom Geschädigten oder für ihn von einem Dritten abgeschlossenen Schadensversicherung den Schädiger i.d.R. nicht. Für diese Versicherung greift die in § 86 VVG angeordnete Legalzession ein. Für Summenversicherungen gilt § 86 VVG nicht. Die Vorteilsausgleichung scheidet daher nicht schon wegen der Legalzession aus. Trotzdem ist auch hier eine Anrechnung der Versicherungsleistungen auf den Schadensersatzanspruch i.d.R. zu verneinen: Der Geschädigte oder zu seiner Begünstigung ein Dritter und nicht der Schädiger hat sich die Versicherungsleistungen durch die Zahlung der Prämien „erkauft“. Dem Schädiger gebührt der Vorteil daher nicht. Das trifft vor allem auf die Lebensversicherung zu, und zwar unabhängig davon, ob sie als Sparversicherung oder als Risikoversicherung abgeschlossen worden war, und ferner für die Unfallversicherung (vgl. BGH, Urteile v. 19.11.1955 – VI ZR 214/54 –, BGHZ 19, 94 Rn. 10 ff.; vom 19.12.1978 – VI ZR 218/76 –, BGHZ 73, 109, juris Rn. 36 ff.; Staudinger/Höpfner, BGB (2021), § 249 Rn. 162 ff., Grüneberg/Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, Vorb. v. § 249 Rn. 84; MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 258 ff.).Randnummer100

Diese Grundsätze sind nicht auf den Streitfall übertragbar und stehen der gebotenen Vorteilsanrechnung nicht entgegen. Prof. Dr. K. geht im Gutachten vom August 2021 (S. 29) zutreffend davon aus, dass Gewinne aus den Leerverkaufspositionen rechtlich keine Versicherungsleistungen waren (zitiert im Klägerschriftsatz v. 13.8.2021 Rn. 181). Entgegen seiner Ansicht (a.a.O.) stellen etwaige Vorteile auch funktional keine Versicherungsleistungen dar. Die Klägerinnen sicherten sich mit den Leerverkäufen nicht etwa wie z.B. bei einer Verkaufsoption (Put-Option), für die eine Prämie zu zahlen ist (vgl. Zerey, Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 12 Rn. 9; Ruiner/Batz, StB 2017, 254, 255 ff.), im Sinne einer Versicherung gegen Kursverluste der gekauften Vorzugsaktien der Beklagten ab (insofern ist der Begriff der „Absicherung“ hier ungenau, vgl. auch Beklagtenschriftsatz vom 13.1.2022 Rn. 121). Vielmehr „eliminierten“ sie gezielt mit den Leerverkäufen das allgemeine Marktrisiko und auch das V.-spezifische Risiko aus ihrer P.-Position. Sie „wetteten“ weder auf ein Ansteigen noch auf eine Reduktion des P.- oder V.-Aktienkurses, sondern einzig allein auf eine Verringerung des Spreads (vgl. das Gutachten von Prof. Dr. K. vom August 2021 S. 6, 30). Die Leerverkäufe bewirkten eine Neutralisierung von Kursschwankungen in beide Richtungen (Gewinn und Verlust); sie konnten auch zu Verlusten in der Short-Position führen (bei einem Kursanstieg der leer verkauften V.-Vorzugsaktien, vgl. Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021, Rn. 5 f., 44; siehe auch Zerey, Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 12 Rn. 92). Diesen Verlusten hätten dann gemäß der Konzeption des „P. Discount Trade“ Gewinne bei den gekauften P.-Vorzugsaktien gegenübergestanden. Für das Hedging durch die Leerverkäufe fielen keine Prämien im Sinne einer Gegenleistung für die Absicherung (vergleichbar einer Versicherungsprämie) an, sondern lediglich Gebühren, insbesondere Handelskosten und Leihgebühren (siehe dazu Klägerschriftsatz vom 13.8.2021 Rn. 176 sowie erstes Gutachten Prof. Dr. K. vom August 2021 S. 6, 30). Die Klägerinnen haben sich die Vorteile aus den Leerverkäufen nicht wie bei einer Versicherung durch die Zahlung von Prämien „erkauft“.Randnummer101

(b) Der von Prof. Dr. K. (erstes Gutachten S. 31 f.; zweites Gutachten S. 14 ff.) weiter angeführte Grundsatz, dass eine Vorteilsausgleichung nicht in Betracht kommt, wenn ein eigenes Verhalten des Geschädigten in Rede steht, zu dem er nicht nach § 254 Abs. 2 BGB verpflichtet war, ist im Streitfall ebenfalls nicht einschlägig. Diesem Grundsatz liegt die Erwägung zu Grunde, dass überpflichtmäßige Anstrengungen des Geschädigten den Schädiger nicht entlasten sollen (vgl. BGH, Urteile vom 16.2.1971 – VI ZR 147/69 –, BGHZ 55, 329, juris Rn. 12 ff.; vom 28.6.2011 – KZR 75/10 –, BGHZ 190, 145 Rn. 65; MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 273 f.). Das vorliegende Hedging, das Risiken durch Informationspflichtverletzungen der V. AG mit abdeckte und sich insofern auch auf entsprechende Pflichtverletzungen der Beklagten wegen ihrer Beteiligung an der V. AG erstreckte, war von vorneherein konstitutiver Teil des Investitionskonzepts der Klägerinnen. Daher ist es nicht mit überpflichtmäßigen Anstrengungen zur Schadensminderung vergleichbar (siehe auch die Fälle bei MüKoBGB/ Oetker, a.a.O. § 249 Rn. 274).Randnummer102

(c) Entgegen der Ansicht von Prof. Dr. K. (erstes Gutachten S. 38 ff.; zweites Gutachten S. 18 ff.) bedeutet die Vorteilsanrechnung im Streitfall nicht, dass eine Vorteilsanrechnung in jedem Fall geboten ist, in dem in einem Portfolio eine Position von der Informationspflichtverletzung bezüglich einer anderen Position profitiert. Denn der vorliegende Fall ist besonders gelagert. Eine Portfoliodiversifikation, bei der die Kurse einzelner gehaltener Wertpapiere in einer gegenläufigen Beziehung zueinander stehen, ist nicht mit dem vorliegenden Pair Trade in Form des „P. Discount“ vergleichbar. Die Klägerinnen haben bei dem „P. Discount“ gezielt Aktien von Gesellschaften ausgewählt, die eng und beinahe symbiotisch miteinander verflochten sind: Das Vermögen der Beklagten besteht ganz überwiegend aus Stammaktien der Streithelferin. Vor diesem Hintergrund haben die Klägerinnen eine verhältnismäßige Unterbewertung der Vorzugsaktien der Beklagten gesehen und ihr Investment „P. Discount“ gezielt unter Ausschaltung des V.-Kursrisikos (vollständiges Hedging wie festgestellt) auf den Spread zwischen Käufen und Leerverkäufen ausgerichtet. In erster Linie blieb nur das Risiko bezüglich kursrelevanter Ereignisse, die nicht die V. AG, sondern ausschließlich die Beklagte betreffen, bei den Klägerinnen (vgl. auch Beklagtenschriftsatz vom 31.5.2021 Rn. 8). Solche Ereignisse stehen aber nicht in Rede (siehe auch das Gutachten von Prof. Dr. K. vom 8.3.2022, S. 14). Die Beziehung zwischen den Käufen von P.-Vorzugsaktien und den Leerverkäufen von V.-Vorzugsaktien war erheblich enger, als wenn in einem diversifizierten Portfolio einige Wertpapiere von Fehlinformationen profitieren, während andere verlieren. Die Vorteilsanrechnung im vorliegenden Fall bedeutet daher entgegen der Ansicht von Prof. Dr. K. nicht, dass auch bei einer Portfoliodiversifikation Vorteile aus gegenläufigen Positionen anzurechnen wären, zumal es dort nicht um die „Eliminierung“ von Risiken geht, wie sie hier durch die gezielt gekoppelten Leerverkäufe von V.-Vorzugsaktien erfolgt ist (vgl. Schäfer in: Assmann/Schütze/ Buck-Heeb, KapAnlR-HdB, 5. Aufl. 2020, § 23 Rn. 81).Randnummer103

(5) Für die Zulassung der Vorteilsanrechnung auch bei Schadensersatzansprüchen aus § 37b Abs. 1 Nr. 1 WpHG a.F. spricht im Übrigen noch die im Gesetz normierte zeitliche Begrenzung der Anspruchsberechtigung dahingehend, dass der Geschädigte bei Bekanntwerden der Insiderinformation noch Inhaber der Finanzinstrumente sein muss. Damit sind solche Anleger ausgeschlossen, die während der Zeit der Desinformation des Marktes sowohl das Kaufs- als auch das Verkaufsgeschäft tätigten. Schadensrechtlich gesehen handelt es sich beim Ausschluss der Weiterverkäufer um einen Fall der Vorteilsausgleichung, wenn man davon ausgeht, dass der Schaden bereits im Zeitpunkt der schadensverursachenden Transaktion entsteht (vgl. Hellgardt in: Assmann/Schneider/Mülbert, WpHR, 7. Aufl. 2019, § 97 WpHG Rn. 80; Weichert, Der Anlegerschaden bei fehlerhafter Kapitalmarktinformation, 2008, S. 123 f., 128 ff.). Der vorliegende Fall, dass die Risiken aus den Käufen von Vorzugsaktien der Beklagten sogleich zu wesentlichen Teilen durch Leerverkäufe von Vorzugsaktien der Streithelferin, an der die Beklagte hauptsächlich beteiligt ist, eliminiert worden sind, ist ähnlich gelagert wie das Verkaufsgeschäft während der Zeit der Desinformation, zumal die Klägerinnen ihre Schadensersatzansprüche auf den V.-Abgasskandal stützen und damit gerade auf solche Vorgänge, gegen die sie durch die Leerverkäufe abgesichert waren (insofern anders gelagert als § 37b Abs. 1 Nr. 1 WpHG a.F. die im zweiten Gutachten von Prof. Dr. K. vom 8.3.2022 S. 5 zitierten Vorschriften § 11 Abs. 2 WpPG, § 20 Abs. 2 VermAnlG und § 306 Abs. 1 S. 2 KAGB; zum Vorteilsausgleich beim Weiterverkauf zu einem Zeitpunkt, in dem die informationelle Schieflage noch nicht vollständig beseitigt ist, Möllers/Leisch in: Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl. 2014, §§ 37b, c Rn. 372; Weichert, a.a.O. S. 212 f.; zur Vorteilsanrechnung bei Ansprüchen aus §§ 45 ff. BörsG a.F. BGH, Beschluss vom 15.12.2020 – XI ZB 24/16 –, BGHZ 228, 133 Rn. 160).

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1, § 100 Abs. 1, § 101 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, § 711 S. 1 und 2, § 709 S. 2 ZPO. Es ist kein Grund gegeben, gemäß § 543 Abs. 2 ZPO die Revision zuzulassen. Das Urteil beruht auf einer Einzelfallwürdigung, insbesondere in schadensrechtlicher Hinsicht. So sind die tatsächlichen Feststellungen, welche die Vorteilsanrechnung tragen, durch den Einzelfall geprägt (Pair Trade „P. Discount“). Dass nach diesen Feststellungen eine Vorteilsanrechnung durchzuführen ist, ist nach den Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht zweifelhaft, auch wenn Prof. Dr. K. dazu in seinen beiden von den Klägerinnen vorgelegten Parteigutachten eine andere Auffassung vertritt (vgl. Musielak/Voit/Ball, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 543 Rn. 5a).

Schlagworte: Aktiengesellschaft, Holding, Sonderbeschluss Vorzugsaktionäre, Wertpapier

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OLG Stuttgart, Urteil vom 22.02.2022 – 12 U 171/21 

Dienstag, 22. Februar 2022

§ 323 Abs 1 S 3 HGB, § 254 BGB

1. Die Kausalität der Pflichtverletzung eines Abschlussprüfers in Gestalt einer unzureichenden Prüfung für einen Schaden der Gesellschaft entfällt, wenn der Nachweis erbracht wird, dass die Gesellschaft, die in betrügerischer Weise ein sog. Schneeballsystem betreibt, im Falle der gebotenen Nachfragen des Abschlussprüfers alle geforderten Unterlagen durch Fälschung erstellt und dem Abschlussprüfer vorgelegt hätte.

2. Einer betrügerisch handelnden Gesellschaft steht gegen ihren Abschlussprüfer ein Schadensersatzanspruch wegen pflichtwidriger Erteilung eines Testats dann nicht zu, wenn dem vorsätzlichen Handeln des Gesellschaftergeschäftsführers eine allenfalls fahrlässige Pflichtverletzung des Abschlussprüfers gegenübersteht.

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 19.05.2021, Az. 27 O 250/19, abgeändert. Die Klage wird insgesamt abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Streithelfers in beiden Instanzen zu tragen.

3. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Beschluss

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 2.000.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

1. Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der X. GmbH (nachfolgend: Schuldnerin). Die Schuldnerin wurde am 09.06.2011 durch die Gesellschafter L. B. und E. N. mit einem Stammkapital von 25.000,00 € gegründet und am 02.08.2011 im Handelsregister eingetragen; die Gründungsgesellschafter waren zugleich Geschäftsführer der Schuldnerin. Der wesentliche Unternehmensgegenstand der Schuldnerin bestand – nach ihren Angaben – in der Vermietung elektronischer Datenspeicher (Storagesysteme) an gewerbliche und staatliche Nutzer. Nach dem von der Schuldnerin nach außen hin behaupteten Geschäftsmodell wurden Storagesysteme von der Schuldnerin bei ihren Lieferanten gekauft, von diesen unmittelbar an die Endnutzer geliefert und dort aufgeschaltet. Kapitalanlegern bot die Schuldnerin die Möglichkeit, in dieses Geschäftsmodell zu investieren, indem Anleger von der Schuldnerin durch eine Seriennummer individualisierte Storagesysteme kaufen und diese zugleich an die Schuldnerin vermieten konnten, welche die Systeme ihrerseits an die Nutzer vermietet hatte. Ende des Jahres 2015 stellte die Schuldnerin ihre Finanzierung auf die Ausgabe von Anleihen an Kapitalanleger um. Ausweislich der Feststellungen eines im Jahr 2018 gegen den Geschäftsführer der Schuldnerin N. ergangenen Strafurteils war diese Geschäftstätigkeit weitgehend fiktiv und die Buchhaltung der Schuldnerin gefälscht.Randnummer2

Am 05.02.2017 erstattete ein Mitarbeiter der Schuldnerin eine anonyme Strafanzeige, am 17.02.2017 erstattete der Geschäftsführer N. Selbstanzeige. Am 23.02.2017 erging daraufhin Haftbefehl gegen Herrn N.. Der Geschäftsführer B. stellte am 03.03.2017 Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin. Das Insolvenzverfahren wurde mit Beschluss vom 02.05.2017 eröffnet und der Kläger zum Verwalter bestellt.Randnummer3

Die Beklagte Ziff. 1 ist eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, welche von der Schuldnerin mit der Prüfung der Jahresabschlüsse zum 31.03.2015 und zum 31.03.2016 beauftragt war. Die Beklagten Ziff. 2 bis 4 waren mit der von der Beklagten Ziff. 1 vorzunehmenden Prüfung befasst. Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch, weil die Testierung der Jahresabschlüsse für das Geschäftsjahr 2014/2015 zum 31.03.2015 sowie für das Geschäftsjahr 2015/2016 zum 31.03.2016 pflichtwidrig gewesen sei und sich durch die darauf beruhende verspätete Insolvenzantragstellung der Insolvenzschaden vertieft habe.Randnummer4

Wegen des unstreitigen Sachverhalts, des Vorbringens der Parteien und ihrer Anträge im ersten Rechtszug wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.Randnummer5

2. Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und mit Urteil vom 19.05.2021 die Beklagte Ziff. 1 zur Zahlung eines Betrages in Höhe von 1 Mio. € und die Beklagten Ziff. 1 – 4 gesamtschuldnerisch zur Zahlung eines weiteren Betrages in Höhe von 1 Mio. € verurteilt. Im übrigen ist die Klage abgewiesen worden.Randnummer6

Das Landgericht hat unter Bezugnahme auf das Urteil des Landgerichts Stuttgart – Wirtschaftsstrafkammer – vom 07.08.2018, Az. 16 KLs 163 Js 14209/17 (Anl. K9), seinen Ausführungen zunächst zugrunde gelegt, dass die Schuldnerin von Beginn an ein Schneeballsystem betrieben habe. Im Hinblick auf den geltend gemachten Schadensersatzanspruch hat es aufgrund ausführlicher Prüfung verschiedene Pflichtverletzungen der Beklagten im Zusammenhang mit der Testierung der streitgegenständlichen Jahresabschlüsse sowie die Kausalität dieser Pflichtverletzungen für den bei der Schuldnerin eingetretenen Insolvenzverschleppungsschaden bejaht. Insbesondere hat das Landgericht die Ansprüche nicht am fehlenden Zurechnungszusammenhang scheitern lassen: Soweit nach höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Haftung von Steuerberatern für einen Insolvenzverschleppungsschaden verneint werde, wenn das Unterlassen eines Insolvenzantrags und die Fortführung der Geschäftstätigkeit auf einer wirtschaftlich unvertretbaren Entscheidung der Geschäftsführung beruhe, gelte dies nicht für Abschlussprüfer, da die Pflichtprüfung gerade darauf abziele, Verstöße aufzudecken. Der Grad der Pflichtverletzung der Beklagten bewege sich zumindest nahe an der Grenze zur groben Fahrlässigkeit, weswegen die Beklagten unter Abwägung der Mitverschuldensanteile gem. § 254 BGB zu 1/3 hafteten.Randnummer7

Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.Randnummer8

3. Die Beklagten haben gegen das ihnen am 01.06.2021 zugestellte Urteil vom 19.05.2021 am 28.06.2021 Berufung eingelegt. Die Begründung ging – nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist – am 26.08.2021 rechtzeitig beim Oberlandesgericht Stuttgart ein.Randnummer9

Die Beklagten verfolgen mit ihrer Berufung das Ziel einer vollständigen Klagabweisung weiter. Sie rügen zunächst die fehlende Zulässigkeit der Klage, die sie auf eine fehlende hinreichende Bestimmtheit des Klagantrags sowie darauf stützen, dass der Kläger als Insolvenzverwalter nicht berechtigt sei, den Insolvenzverschleppungsschaden der Schuldnerin geltend zu machen. Weiter wenden sie sich gegen die Annahme, sie hätten bei der Prüfung der Jahresabschlüsse ihnen obliegende Pflichten verletzt; jedenfalls scheitere der Anspruch sowohl am fehlenden Zurechnungszusammenhang als auch am überwiegenden Mitverschulden der Schuldnerin.Randnummer10

Die Beklagten beantragen,Randnummer11

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.Randnummer12

Der Kläger beantragt,Randnummer13

die Berufung zurückzuweisen.Randnummer14

Er hält die Klage für zulässig, insbesondere sei er prozessführungsbefugt. Zur Begründetheit bezieht er sich im Wesentlichen auf die Gründe des angefochtenen Urteils. Der Anspruch scheitere nicht am fehlenden Zurechnungszusammenhang, weil andernfalls in Fällen dieser Art eine Haftung der Wirtschaftsprüfer grundsätzlich ausgeschlossen wäre. Aufgabe des Jahresabschlussprüfers sei es gerade, Fehler im Inhalt oder den Grundlagen des zu prüfenden Jahresabschlusses zu erkennen und aufzudecken und den daraus drohenden Schaden für das Unternehmen abzuwenden. Vorsätzlich betrügerisch gehandelt habe nur ein Geschäftsführer der Schuldnerin; die Schuldnerin sei aber eine eigene Rechtspersönlichkeit mit einem eigenen Vermögen, die auch vom eigenen Geschäftsführer geschädigt werden könne. Im Übrigen hätten die Beklagten ihre Pflichten in so hohem Maße verletzt, dass dies eine Mithaftung jedenfalls im Umfang von 1/3 rechtfertige.Randnummer15

Mit Schriftsatz vom 14.01.2021 (Bl. 306 d.A.) trat R. B. dem Rechtsstreit im ersten Rechtszug auf Seiten der Beklagten Ziff. 1-4 bei. Dieser Schriftsatz wurde den Klägern in der mündlichen Verhandlung vom 20.01.2021 vom Landgericht übergeben. Im Anschluss daran wurde mündlich verhandelt. Inhaltlich schließt sich der Streithelfer dem Vortrag der Beklagten an, wonach der Anspruch des Klägers sowohl am fehlenden Zurechnungszusammenhang als auch am überwiegenden Mitverschulden der Schuldnerin scheitere.Randnummer16

Der Streithelfer beantragt,Randnummer17

1. das von den Beklagten zu 1) bis 4) angefochtene Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 19.05.2021 dahingehend abzuändern, dassRandnummer18

a) die Klage des Klägers vollständig abgewiesen wird undRandnummer19

b) dem Kläger die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens einschließlich der Kosten des Streithelfers R. B. auferlegt werden,Randnummer20

2. dem Kläger die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der Kosten des Streithelfers R. B. aufzuerlegen.Randnummer21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags der Parteien im zweiten Rechtszug wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 01.02.2022 (Bl. 225 ff. BA) Bezug genommen.

II.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch nicht zu.Randnummer23

A. Beitritt des StreithelfersRandnummer24

Hinsichtlich der Zulässigkeit des Streitbeitritts war keine Entscheidung nach § 71 ZPO veranlasst, denn nach rügeloser Verhandlung mit dem Beitretenden (§ 295 ZPO) kann dessen Zurückweisung nicht mehr beantragt werden (Althammer in Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 71 Rn. 1): Ein Antrag auf Zurückweisung eines Streitbeitritts ist dann ausgeschlossen, wenn die Partei auf das Widerspruchsrecht verzichtet hat oder in Kenntnis bzw. fahrlässiger Unkenntnis des Mangels in der ersten mündlichen Verhandlung, an der der Streitgehilfe teilgenommen hat, keinen Zurückweisungsantrag gestellt hat (OLG Köln, Beschluss vom 03. Mai 2010 – I-16 W 6/10 –, Rn. 12, juris). Dies war vorliegend der Fall: Der Schriftsatz des Streithelfers vom 14.01.2021 wurde dem Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 20.01.2021 durch Aushändigung zugestellt, § 174 ZPO. Daraufhin verhandelten die Parteien streitig zur Sache, ohne dass die Zurückweisung des Streitbeitritts beantragt wurde. Damit hat sich der Kläger gem. § 295 ZPO rügelos eingelassen.Randnummer25

B. Zulässigkeit der KlageRandnummer26

Den Einwendungen der Beklagten bleibt der Erfolg versagt, soweit sie sich gegen die Zulässigkeit der Klage wenden, die ihrer Auffassung nach deswegen nicht hinreichend bestimmt sei, weil kein einheitlicher Streitgegenstand vorliege. Der geltend gemachte Insolvenzvertiefungsschaden werde auf eine Vielzahl behaupteter Pflichtverletzungen gestützt; zwingend sei jedoch, dass sich der Schaden auf eine einzelne Pflichtverletzung zurückführen lasse. Zu Unrecht rügen die Beklagten weiter, dass der Kläger nicht den gesamten Insolvenzvertiefungsschaden, sondern nur einen Teilbetrag geltend mache.Randnummer27

Den Beklagten ist darin Recht zu geben, dass eine Klagepartei, die ihr einheitliches Klagebegehren auf eine Mehrzahl von Streitgegenständen stützt, die Reihenfolge benennen muss, in welcher diese zur Überprüfung durch das Gericht gestellt werden (BGH, Beschluss vom 24.03.2011 – I ZR 108/09, GRUR 2011, 521 Rn. 10, beck-online). Verschiedene Streitgegenstände liegen aber hier nicht vor: Zum Streitgegenstand sind alle Tatsachen zu rechnen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden, den Sachverhalt „seinem Wesen nach“ erfassenden Betrachtungsweise zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht zu unterbreiten hat (BGH, Urteil vom 24.01.2008 – VII ZR 46/07, beck-online). Gegenstand des Rechtsstreits sind vorliegend Schadensersatzansprüche, die auf eine angeblich fehlerhafte Prüfung der Jahresabschlüsse für 2015 und für 2016 gestützt werden. Es führt aber nicht jede einzelne den Beklagten zur Last gelegte Pflichtverletzung zu einem eigenständigen Streitgegenstand. Bei Schadensersatzansprüchen liegt ein einheitlicher Streitgegenstand vielmehr dann vor, wenn das schadensverursachende Verhalten bei natürlicher Betrachtung eine Einheit bildet, wenn es sich mithin um dieselbe Pflichtverletzung handelt, sich die einzelnen in eine Gesamtforderung eingestellten Rechnungspositionen also auf dieselben Anspruchsvoraussetzungen gründen lassen, deren Vorliegen sich aus demselben Lebenssachverhalt ergibt und hieraus ein Schaden folgt, der sich nicht in unterschiedliche Schadenspositionen und erst recht nicht in unterschiedliche Schadensarten (z. B. Sachschaden, Verdienstausfall, Schmerzensgeld) aufteilen lässt (BAG, Urteil vom 17.12.2015 – 8 AZR 54/14, BeckRS 2016, 68734, beck-online). Dabei stellt nicht „jede einzelne Verbindlichkeit, welche zwischen dem Zeitpunkt hypothetischer (früherer) Insolvenzantragstellung und tatsächlicher (späterer) Insolvenzantragstellung hinzugekommen ist, einen gesonderten Streitgegenstand im zivilprozessualen Sinne dar“ (LG, UA S. 15). Der Insolvenzverschleppungsschaden erwächst durch die auf der Unternehmensfortführung beruhende Vergrößerung der Verbindlichkeiten (BGH, Urteil vom 06.06.2013 – IX ZR 204/12 –, Rn. 28, juris). Folglich bemisst sich der Schaden der Schuldnerin nach der Differenz zwischen ihrer Vermögenslage im Zeitpunkt einer (hypothetischen) rechtzeitigen Antragstellung im Vergleich zu ihrer Vermögenslage im Zeitpunkt des tatsächlich gestellten Antrags (BGH, Urteil vom 06.06.2013 – IX ZR 204/12 –, Rn. 28, juris). Daher ist weder der Vortrag, welche Verbindlichkeiten der Schuldnerin im einzelnen Gegenstand der Klage sein sollen, noch die Darlegung jeder einzelnen Verbindlichkeit erforderlich. Auch auf etwaige Rückzahlungsansprüche der Anleger kommt es insoweit nicht an.Randnummer28

Soweit die Beklagten bemängeln, der Kläger habe neben dem Insolvenzvertiefungsschaden auch die Beratungskosten für die Aufarbeitung des Sachverhalts in Höhe von 449.600 € und einem Anspruch auf Rückzahlung des gezahlten Honorars in Höhe von 19.146,52 € als Schaden geltend gemacht, stellt der Kläger in der Berufungserwiderung klar, dass diese Ansprüche lediglich der Vollständigkeit halber erwähnt worden seien, aber nicht geltend gemacht würden.Randnummer29

C. Begründetheit der KlageRandnummer30

Dem Kläger steht gegen die Beklagten kein Anspruch gem. § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB zu.Randnummer31

1. SchneeballsystemRandnummer32

Vorangestellt sei, dass es sich beim Geschäftsmodell der Schuldnerin um ein betrügerisches Schneeballsystem handelte, wovon auch das Landgericht ausgeht (UA S. 15 f.). Dies ergibt sich aus dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Stuttgart – Wirtschaftsstrafkammer – vom 07.08.2018, Az. 16 KLs 163 Js 14209/17 (Anl. K9), durch das der Geschäftsführer der Schuldnerin N. wegen (gemeinschaftlichen) Betrugs in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und zehn Monaten verurteilt wurde. Der Verurteilung liegt die Feststellung des Strafgerichts zugrunde, dass die Schuldnerin von Anfang an der Schaffung und Aufrechterhaltung eines betrügerischen Schneeballsystems gedient habe und die angebliche Geschäftstätigkeit weitestgehend fingiert gewesen sei. (Ein Urteil gegen den zweiten Geschäftsführer der Schuldnerin, Herrn L. B., ist nicht ergangen, da dieser in der Untersuchungshaft verstorben ist.)Randnummer33

Grundsätzlich ist zwar die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung einer Partei im Zivilprozess nicht bindend, auch wenn die Akten eines Strafverfahrens und ein rechtskräftiges Strafurteil als Beweisurkunden gem. §§ 415, 417 ZPO herangezogen werden können, auf die der Tatrichter seine Überzeugung stützen kann (BGH, Urteil vom 26.08.2021 – III ZR 189/19 –, Rn. 11, juris; BGH, Beschluss vom 24.01.2012 – VI ZR 132/10, BeckRS 2012, 4956 Rn. 3, beck-online; BGH, Urteil vom 06.06.1988 – II ZR 332/87 –, juris; OLG Zweibrücken, Urteil vom 01.07.2010 − 4 U 7/10, NJW-RR 2011, 496, beck-online). Allerdings darf der Tatrichter bei einem engen rechtlichen und sachlichen Zusammenhang von Zivil- und Strafverfahren ein rechtskräftiges Strafurteil nicht unberücksichtigt lassen, sondern muss sich mit dessen Feststellungen auseinandersetzen, soweit sie für seine eigene Beweiswürdigung von Bedeutung sind (BGH, Urteil vom 26.08.2021 – III ZR 189/19 –, Rn. 11, juris). Der Tatrichter hat die in der Beweisurkunde dargelegten Feststellungen einer eigenen kritischen Überprüfung zu unterziehen (vgl. OLG Zweibrücken, Urteil vom 01.07.2010 − 4 U 7/10, NJW-RR 2011, 496, beck-online). In der Regel wird den strafgerichtlichen Feststellungen zu folgen sein, sofern nicht von den Parteien gewichtige Gründe für deren Unrichtigkeit vorgebracht werden (OLG München, Endurteil vom 27.10.2021 – 20 U 301/21, BeckRS 2021, 33067 Rn. 13, beck-online). Allerdings erhöht es nach allgemeinen Grundsätzen des Zivilprozesses die (sekundäre) Darlegungslast des Beklagten, wenn der Kläger seinen Anspruch durch Vorlage eines ausführlich begründeten rechtskräftigen Strafurteils schlüssig dargetan hat (BGH, Urteil vom 26.08.2021 – III ZR 189/19 –, Rn. 12, juris; BGH, Beschluss vom 24.01.2012 – VI ZR 132/10, BeckRS 2012, 4956 Rn. 3, beck-online). Einer den Darstellungen im Strafurteil spiegelbildlichen, in sich geschlossenen Darstellung des Gesamtgeschehens durch den Anspruchsgegner bedarf es allerdings nicht (BGH, Beschluss vom 25.09.2018 – VI ZR 443/16 –, Rn. 9, juris).Randnummer34

Das Landgericht hat sich (vgl. UA S. 16) – zwar kurz, aber vollkommen ausreichend – mit dem Strafurteil auseinandergesetzt, in dem festgestellt wurde, dass es von Anfang an keine Geschäftstätigkeit der Schuldnerin gab. Die Wirtschaftskammer hat ihrem Strafurteil das Geständnis des Geschäftsführers N. zugrunde gelegt und ausgeführt, der polizeiliche Sachbearbeiter habe erklärt, er „habe in seiner 30-jährigen Tätigkeit im Bereich Wirtschaftskriminalität noch nie einen Beschuldigten erlebt, der ein derart umfassendes, reumütiges Geständnis abgelegt habe wie der Angeklagte“ (S. 114 des Strafurteils vom 07.08.2018). Das Landgericht hat im angegriffenen Urteil dargelegt, wie es zur Aufnahme der Ermittlungen kam und dass der Geschäftsführer N. sich im Wesentlichen selbst belastet hatte. Gründe dafür, weshalb er dies fälschlicherweise hätte tun sollen, seien weder ersichtlich, noch von Beklagtenseite dargelegt.Randnummer35

Die Beklagten beschränken sich darauf, eine Verkennung der Beweislastregeln zu monieren und führen die Unglaubwürdigkeit des ehemaligen Geschäftsführers N. an. Zur Sache selbst, nämlich, weshalb und in welchem Ausmaß entgegen den Feststellungen der Wirtschaftsstrafkammer eine Geschäftstätigkeit der Schuldnerin bzw. ein „normaler“ Geschäftsbetrieb vorgelegen haben sollte, tragen sie allerdings nichts vor (und benennen in der Folge auch keine Beweismittel). Sie rügen im Wesentlichen lediglich, dass das Urteil auf die Einlassungen „des in seiner Person unglaubwürdigen Herrn N., dem Kopf des Schneeballsystems“ gestützt werde (Bl. 77 BA). Gewichtige Gründe für die Unrichtigkeit der strafgerichtlichen Entscheidung haben die Beklagten damit nicht vorgebracht (vgl. auch OLG München, Endurteil v. 27.10.2021 – 20 U 301/21, BeckRS 2021, 33067 Rn. 14, beck-online). Daran ändert auch nichts, dass die Beklagten selbst vom Strafurteil nicht betroffen waren, sondern sich dieses ausschließlich gegen Herrn N. richtete, denn es ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb Herr N. sich in diesem Ausmaß hätte selbst belasten sollen, wenn seine Ausführungen jeglicher Grundlage entbehrten.Randnummer36

2. Vorliegen einer Pflichtverletzung der BeklagtenRandnummer37

Die Schuldnerin war prüfungspflichtig gemäß §§ 316 Abs. 1, 267 HGB. Die Haftung der Beklagten als Abschlussprüfer ist daher gemäß § 323 Abs. 1 Satz 1 HGB zu beurteilen. Nach dieser Bestimmung müssen der Prüfer und der bei der Prüfung mitwirkende Gehilfe Schadensersatz leisten, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig ihre Pflichten verletzen. Danach ist der Abschlussprüfer zur gewissenhaften und unparteiischen Prüfung mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verpflichtet (OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2021 – 22 U 31/20 –, Rn. 17, juris). Das haftungsbegründende Verhalten des Prüfers liegt dabei in der Erteilung eines Bestätigungsvermerks für einen nicht gesetzeskonformen Jahresabschluss infolge der (sorgfaltswidrigen) Nichtaufdeckung von unwahren oder unvollständigen Angaben (OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2021 – 22 U 31/20 –, Rn. 20, juris). Eine Begrenzung von Gegenstand und Umfang der Prüfung ist grundsätzlich weder durch das Unternehmen noch durch den Prüfer möglich; die Vorschriften sind als Mindestvorschriften zwingend (Marten/Köhler/Neubeck in: Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, 1. Aufl. 2002, 101. Lieferung, § 317 HGB, Rn. 23; Staake/Müller in: Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2. Auflage 2020, § 323 HGB, Rn. 11).Randnummer38

Welche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Prüfung im Einzelnen zu stellen sind, haben nationale und internationale Berufsorganisationen der Wirtschaftsprüfer zu konkretisieren versucht. Hervorzuheben sind die Prüfungsstandards der IDWs und die International Standards on Auditing. Die berufsständischen Prüfungsstandards des IDW haben mangels Rechtssetzungsbefugnis des IDW zwar keine Rechtsnormqualität, sie sind nur Rechterkenntnisquellen, die kraft sachlicher Überzeugung wirken. Gerichte sind deshalb an diese Standards nicht gebunden (MüKoHGB/Ebke, 4. Aufl. 2020, HGB § 323 Rn. 32). Die Aufgabe, die gesetzlichen Pflichten des Abschlussprüfers nach § 323 Abs. 1 HGB gemäß den Zielen der Rechnungslegung (§ 264 Abs. 2 Satz 1 HGB) und der Abschlussprüfung (vgl. § 317 HGB) zu konkretisieren, obliegt weiterhin der Rechtsprechung. Die einschlägigen Berufsstandards stellen aber sachkundige Vorschläge für die Konkretisierung des Gesetzes dar und geben die fachliche Meinung der einschlägigen Verkehrskreise wieder. Hat ein Abschlussprüfer die berufsständischen Standards eingehalten, ist dies deshalb zumindest ein starkes Indiz für eine gewissenhafte und unparteiische Prüfung i.S.d. § 323 Abs. 1 Satz 1 HGB (Hennrichs in: Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, 1. Aufl. 2002, 101. Lieferung, § 323 HGB, Rn. 26; Staake/Müller in: Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2. Auflage 2020, § 323 HGB, Rn. 23). Dies zugrunde gelegt haben die Beklagten die ihnen obliegenden Pflichten vorliegend verletzt:Randnummer39

a. Keine Einholung von Saldenbestätigungen hinsichtlich Forderungen und Verbindlichkeiten, Jahresabschluss 2015Randnummer40

Die Beklagten haben diese Saldenbestätigungen unstreitig nicht eingeholt.Randnummer41

Das Prüfgebiet „Forderungen aus Lieferungen und Leistungen“ ist als wesentlich i. S. von § 317 Abs. 1 S. 3 HGB einzustufen. In diesem Prüfgebiet gehört das Einholen von Saldenbestätigungen der Debitoren zu den Grundsätzen einer ordnungsgemäß durchgeführten Abschlussprüfung, soweit die Höhe der Forderungen oder Verbindlichkeiten absolut oder relativ für das Unternehmen von Bedeutung ist (MüKoHGB/Ebke, 4. Aufl. 2020, HGB § 317 Rn. 57; OLG Frankfurt, Urteil vom 14.08.2014 – 6 U 114/08 –, Rn. 64, juris). Wenn auf die Einholung von Saldenbestätigungen verzichtet wird, stellt dies in der Regel einen Pflichtverstoß dar (Hennrichs in: Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, 1. Aufl. 2002, 101. Lieferung, § 323 HGB, Rn. 32; s. auch IDW PS 302). Im Hinblick darauf, dass der Jahresabschluss der Schuldnerin zum 31.03.2015 eine Bilanzsumme von 39.701.790,66 € aufwies, wovon 19.133.237,10 € auf Forderungen entfielen und für Forderungen in einem Volumen von ca. 18,38 Mio. € keine Rechnungen von der Schuldnerin gestellt worden waren, zudem ein Teilbetrag von 5,3 Mio. € an den Lieferanten C. abgetreten gewesen sein soll und die gebuchten Forderungen aus Lieferung und Leistungen nur gegenüber zwei Vertragspartnern bestanden, wäre schon allein aufgrund der quantitativen Bedeutung eine „fundierte Prüfung dieses Gesichtspunkts zwingend“ gewesen (s. UA S. 19). Hinzu kommt, dass die buchhalterische Erfassung der Forderungen aus Lieferung und Leistung durch die Schuldnerin eine besonders hohe Gefahr von Unrichtigkeiten mit sich gebracht hatte. Unter den gegebenen Umständen, auch unter Berücksichtigung dessen, dass die Einholung von Saldenbestätigungen mit relativ geringem Aufwand möglich gewesen wäre, stellt die entsprechende Unterlassung eine Pflichtverletzung dar.Randnummer42

Die Beklagten berufen sich zu Unrecht darauf, sie hätten eine Entscheidung zur Durchführung alternativer Prüfungshandlungen treffen dürfen. Dies mag zwar grundsätzlich richtig sein. Das Landgericht hat aber auch – nachvollziehbar – festgestellt (UA S. 19f.), dass die vorgenommenen Prüfungshandlungen ungeeignet waren, etwaige Verstöße der Schuldnerin aufzudecken. Hiergegen wird in der Berufungsbegründung nichts Neues vorgetragen. Dass die Beklagten ein „anerkanntes Prüfprogramm“ (BB S. 14) verwendet haben wollen, ersetzt nicht den Vortrag dazu, wie sie selbst das Bestehen dieser Forderungen konkret verifiziert haben wollen.Randnummer43

Dies gilt auch für die fehlende Prüfung hinsichtlich der „sonstigen Verbindlichkeit“ in Höhe von 7 Mio. € gegenüber der C. M. d.o.o.. Da die Fälligkeit dieser Verbindlichkeit in beträchtlicher Höhe ohne schriftliche Vereinbarung hinausgeschoben worden war, hätte auch hierzu eine Saldenbestätigung eingeholt werden müssen.Randnummer44

b. Jahresabschluss 2016Randnummer45

Diesbezüglich ist der Pflichtenverstoß darin zu sehen, dass die Beklagten die Saldenbestätigungen nicht selbst eingeholt haben, sondern sich diese von der Schuldnerin haben vorlegen lassen, die wiederum Frau B. – die Ehefrau des zweiten Geschäftsführers L. B., die vormals als Steuerberaterin bei der Beklagten Ziff. 1 angestellt war und später für die Schuldnerin arbeitete – für die Schuldnerin eingeholt hatte.Randnummer46

Nach dem IDW Prüfungsstandard 302 gilt für alle Bestätigungen, die eingeholt werden, der Grundsatz, dass der Abschlussprüfer die Kontrolle sowohl über den Versand als auch über den Empfang der Bestätigungen bewahren muss. Damit ist ausgeschlossen, dass Bestätigungen durch das zu prüfende Unternehmen versandt werden oder dass das zu prüfende Unternehmen die Rücksendungen zunächst empfängt und dann an den Abschlussprüfer weiterleitet. Zwar hat vorliegend nicht die Schuldnerin die Saldenbestätigungen eingeholt – Frau B. war Steuerberaterin; zwar mit einem der Geschäftsführer verheiratet, aber keine Mitarbeiterin der Schuldnerin –, aber auch nicht die Beklagten. Sie haben sich auf die „Zulieferung“ von Frau B. verlassen. Eine eigene Kontrolle der Beklagten im oben genannten Sinne wurde damit nicht vorgenommen, da Frau B. insoweit jedenfalls „Dritte“ war.Randnummer47

Zur Problematik, dass nicht für alle Forderungen Saldenbestätigungen eingeholt wurden, gilt, dass der Wirtschaftsprüfer nur stichprobenartig vorzugehen hat (MüKoHGB/Ebke, 4. Aufl. 2020, HGB § 317 Rn. 51; Hennrichs in: Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, 1. Aufl. 2002, 101. Lieferung, § 323 HGB, Rn. 31). Allerdings betrafen die von Frau B. eingeholten Saldenbestätigungen Forderungen in Höhe von ca. 10 Mio. €; für weitere Forderungen aus Lieferung und Leistung in Höhe von knapp 20 Mio. € fehlten jegliche Saldenbestätigungen (vgl. UA S. 22). Damit ist auch insoweit ein Pflichtenverstoß zu bejahen.Randnummer48

c. Keine Prüfung des körperlichen Anlagevermögens („Inventur“)Randnummer49

Im Hinblick auf die Inventur genügt ein Prüfer dem Gebot der Gewissenhaftigkeit nach herrschender Meinung nur dann, wenn er sich von der Zuverlässigkeit des Bestandsaufnahmeverfahrens und seiner Anwendung überzeugt hat (Burg in: Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2. Aufl. 2020, § 317 HGB, Rn. 71; MüKoHGB/Ebke, 4. Aufl. 2020, HGB § 317 Rn. 56).Randnummer50

Die von der Beklagten vorgenommene Unterscheidung in Vorrats- und Anlagevermögen überzeugt insoweit nicht. Gem. § 320 HGB ist der Abschlussprüfer berechtigt, Betriebsbesichtigungen durchzuführen, um die Existenz und den Zustand des Anlage- und Umlaufvermögens zu überprüfen (MüKoHGB/Ebke, 4. Aufl. 2020, HGB § 320 Rn. 12); seine Prüfpflicht kann sich demnach auch auf das Anlagevermögen beziehen. Dies war insbesondere vorliegend von entscheidender Bedeutung, da ja gerade das Anlagevermögen „Geschäftsgegenstand“ der Schuldnerin war. Auf eigene Beobachtungen und die Vornahme eigener Bestandsprüfungen darf der Prüfer nur verzichten, wenn der Bestand nach Art und Wert im Verhältnis zum Ganzen nur unwesentlich, also unbedeutend ist (MüKoHGB/Ebke, 4. Aufl. 2020, HGB § 317 Rn. 56).Randnummer51

Selbst geprüft haben die Beklagten das Vorhandensein des körperlichen Anlagevermögens nicht. Unterlagen betreffend die Prüfung des körperlichen Anlagevermögens durch Dritte (z. B. Inventurberichte) haben den Beklagten unstreitig nicht vorgelegen; sie haben lediglich Einsicht in das Warenwirtschaftssystem der Klägerin genommen (so UA S. 22). Ob die Prüfung des internen Kontrollsystems und andere alternative Prüfungshandlungen (wie von Beklagtenseite vorgetragen, vgl. BB S. 46) ausreichend waren, kann dahinstehen, weil eine Pflichtverletzung auch insoweit jedenfalls naheliegt.Randnummer52

d. Fehlen der gebotenen kritischen GrundhaltungRandnummer53

Der Grundsatz der kritischen Grundhaltung wird als grundsätzliche Bereitschaft des Abschlussprüfers definiert, Dinge kritisch zu hinterfragen und auf Umstände zu achten, die auf mögliche Fehldarstellungen in der Rechnungslegung durch Fehler oder Betrug hindeuten können, sowie die Prüfungsnachweise kritisch zu beurteilen (Hennrichs in: Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, 1. Aufl. 2002, 101. Lieferung, § 323 HGB, Rn. 28). Vorliegend hatte die Schuldnerin mit ihrer Hauptlieferantin und den maßgeblichen Kunden ungewöhnlich lange Zahlungsziele vereinbart (UA S. 23 ff.). Vor dem Hintergrund, dass die C. M. d.o.o. einen Warenkredit im Hinblick auf angeblich von ihr gelieferte Storagesysteme in Millionenhöhe an die Schuldnerin als Start-up ohne Sicherheiten lieferte und die Schuldnerin diese Storagesysteme wiederum vermietete, hätte dieses Geschäftsmodell eingehend überprüft werden müssen: Die Schuldnerin vermietete Storagesysteme, die sie selbst nicht bezahlt hatte und für die sie keine Mieterlöse erhielt; gleichzeitig war sie verpflichtet, den Anlegern monatliche Zinsen zu bezahlen. Mangels Einnahmen der Schuldnerin konnte sie die Zinsen der Anleger daher nur mit den Einlagen neuer Anleger bezahlen; dieses Geschäftsmodell hätte von den Beklagten überprüft werden müssen. Auch die Zahlung durch Barentnahmen und der Verzicht auf Überweisungen hätten zu einer kritischen Hinterfragung führen müssen. Ob dies durch die Überprüfung von Internetauftritten der beteiligten Gesellschaft hätte geschehen müssen, kann dahingestellt bleiben.Randnummer54

Die Beklagten wenden insoweit nur pauschal – und damit unzureichend – ein, es hätte „sich anlässlich der seitens der Beklagten durchgeführten Prüfhandlungen keine Anhaltspunkte (…. ergeben), weitere Nachforschungen anzustellen. Soweit einzelne Umstände auffielen, wurde auch vertieft geprüft…“ (BB S. 47).Randnummer55

Pflichtverletzungen der Beklagten liegen demnach vor. Dies kann vom Gericht auch ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens bejaht werden. Weshalb ein Sachverständiger zu einer „ordnungsgemäßen Prüfung“ durch die Beklagten (so diese in der BB, S. 41 unten) gekommen wäre, begründen diese selbst nicht näher.Randnummer56

3. KausalitätRandnummer57

a. Die Haftung des Abschlussprüfers setzt weiter voraus, dass die Pflichtverletzung für eine Rechtsgutverletzung – im Sinne einer Primärverletzung – ursächlich geworden ist (OLG Düsseldorf, Urteil vom 18. Juni 2021 – 22 U 31/20 –, Rn. 20, juris). Allein die Verletzung einer Prüfungspflicht oder das Unterlassen einer an sich gebotenen Prüfungshandlung durch den Abschlussprüfer führt daher nicht zu seiner Haftung. Es bedarf zusätzlich der Feststellung, dass die fehlerhaften oder unterlassenen Prüfungshandlungen kausal dafür geworden sind, dass der Bestätigungsvermerk erteilt worden ist, ohne dass unwahre oder unvollständige Angaben aufgedeckt worden sind (OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2021 – 22 U 31/20 –, Rn. 20, juris). Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass weitere – aus der Sicht des Klägers gebotene Prüfungshandlungen – zu einer Verweigerung des Bestätigungsvermerks bzw. zu einer Einschränkung geführt hätten, trifft danach den Kläger (OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2021 – 22 U 31/20 –, Rn. 22, juris).Randnummer58

Vorliegend wurde für beide im Streit stehenden Jahresabschlüsse der uneingeschränkte Bestätigungsvermerk erteilt. Allerdings ist davon auszugehen, dass bei Feststellung von Diskrepanzen – aufgrund sorgfältiger Prüfung – die Beklagten die fehlenden Unterlagen bei der Schuldnerin nachgefordert hätten. Die Schuldnerin war hingegen an der Aufrechterhaltung des von ihr geführten Schneeballsystems interessiert; ihre Geschäftsführer wussten, dass es tatsächlich keine Geschäftstätigkeit gab. Im Urteil des Landgerichts Stuttgart – Große Strafkammer – gegen den früheren Geschäftsführer der Schuldnerin E. N. (16 KLs 163 Js 14209/17) wird ausgeführt (dort S. 8):Randnummer59

„Zur Verschleierung der Tatsache, dass nur wenige Storage-Systeme gekauft wurden, beschaffte der Angeklagte für die Buchhaltung der X. GmbH eine Vielzahl von Scheinrechnungen und inhaltlich falschen Lieferpapieren für vermeintliche Storage-Lieferungen. Darüber hinaus wurden von Dritten auf Initiative des Angeklagten etliche wirtschaftliche inaktive Firmen im Ausland gegründet, um mit diesen Vertragsbeziehungen zu fingieren und über sog. „abgekürzte Zahlungswege“ zum Schein Zahlungsflüsse abzuwickeln. Um einen operativen Geschäftsbetrieb vorzutäuschen, betrieb der Angeklagte zudem unter Beteiligung der wirtschaftlich inaktiven Firmen verschiedene Zahlungskreisläufe, bei denen die vermeintlichen Storage-Nutzer an die X. GmbH Zahlungen aus Geldern leisteten, die zuvor durch die X. GmbH an vermeintliche Storage-Lieferanten oder andere angebliche Dienstleister gezahlt wurden …“Randnummer60

Angesichts dessen ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass bei Anforderung von Dokumenten durch die Beklagten (s.o.: Einholung von Saldenbestätigungen; Dokumentation des Aktivvermögens) der Geschäftsführer N. dafür gesorgt hätte, dass die „passenden“ Papiere für die Prüfung der Beklagten beschafft worden wären. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass Saldenbestätigungen von nur zwei Vertragspartnern, nämlich der M. P. und der M. S., hätten vorgelegt werden müssen, deren Erstellung/Fälschung Herrn N. ohne Weiteres möglich gewesen wäre, wenn man die Feststellungen des Strafurteils zugrunde legt. Es ist deswegen nicht zu erwarten, dass die Nachforderung von Unterlagen das Bestehen einer Insolvenzreife der Schuldnerin aufgedeckt hätte, wobei insoweit auch festzuhalten bleibt, dass die Geschäftsführer von dieser Insolvenzreife von Anfang an wussten, weil die Schuldnerin nie einen funktionierenden Geschäftsbetrieb hatte. Im Übrigen haben sich die Beklagten für den Jahresabschluss 2016 Saldenbestätigungen vorlegen lassen, die Frau B. im Auftrag der Schuldnerin per E-Mail eingeholt hatte, unter anderem auch eine Saldenbestätigung der M. S. A.S. (vgl. UA S. 21). Dies zeigt, dass die Saldenbestätigungen auf Anforderung tatsächlich vorgelegt werden konnten. Damit ist hinsichtlich der vorgeworfenen Pflichtverletzung „Nichteinholung von Saldenbestätigungen“ die Kausalität zu verneinen. Dies gilt auch für Belege zur Prüfung des körperlichen Anlagevermögens. Auch hier ist der Senat mit der nach § 286 ZPO erforderlichen Sicherheit davon überzeugt, dass entsprechende Inventurberichte oder ähnliches bei Anforderung durch die Beklagten vom Geschäftsführer N. gefälscht und den Beklagten vorgelegt worden wären (anders beurteilt in einem ähnlichen Fall: OLG Frankfurt, Urteil vom 14.08.2014 – 6 U 114/08 –, juris; NZB zurückgewiesen durch BGH, 08.09.2016, VII ZR 242/14. Hier wurde das Vorbringen nicht im Rahmen der Kausalität, sondern als Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens gewertet, für das die Beklagten beweispflichtig seien). Schließlich hätte dann auch eine bestehende kritische Grundhaltung der Beklagten im Rahmen der von ihr geschuldeten Tätigkeit nicht zur Aufdeckung der kriminellen Machenschaften der Geschäftsführer geführt.Randnummer61

Nach Auffassung des Senats scheitert der Anspruch daher bereits an der fehlenden Kausalität.Randnummer62

b. Das Landgericht geht davon aus, dass bei pflichtgemäßer Prüfung und einer sich daran anschließenden Verweigerung eines Testats die Schuldnerin früher einen Insolvenzantrag gestellt hätte (UA S. 28): Bei Versagung des Testats durch die Beklagten hätte das Betrugsmodell der Schuldnerin tatsächlich nicht mehr fortgeführt werden können, weil dieses Grundlage für die geplante Ausgabe von Anleihen war. Dies ist nach Auffassung des Senats nicht zwingend. Das fehlende Testat (das gegebenenfalls von Herrn N. gefälscht hätte werden können) ist nicht gleichzusetzen mit der anonymen Strafanzeige „aus den Reihen“ der Schuldnerin, die Herrn N. keine andere Handlungsalternative ließ als die Stellung des Insolvenzantrags (vgl. BB, S. 28 ff.). Der Kläger muss beweisen, dass bei pflichtgemäßem Verhalten des Wirtschaftsprüfers sofort ein Insolvenzantrag gestellt worden wäre (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 2017 – IX ZR 285/14 –, BGHZ 213, 374-394, Rn. 42; OLG Stuttgart, Urteil vom 27.10.2020, 12 U 82/20, juris Rn. 70).Randnummer63

Geht man allerdings – wie der Senat – davon aus, dass Herr N. schon alle nötigen Unterlagen gefälscht hätte und daraufhin das Testat von den Beklagten erteilt worden wäre, kommt es hierauf nicht an.Randnummer64

4. SchadenRandnummer65

Ob der Insolvenzverwalter überhaupt befugt ist, einen Schadensersatzanspruch gegen einen Steuerberater/Wirtschaftsprüfer wegen der Verursachung eines Insolvenzvertiefungsschadens geltend zu machen und damit ggf. die Schadensersatzbeträge zur Masse zu ziehen, ist streitig (vgl. insoweit ausführlich OLG Stuttgart, Urteil vom 27.10.2020 – 12 U 82/20 –, Rn. 76ff., juris).Randnummer66

Der für die Steuerberaterhaftung zuständige IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs geht davon aus, dass der Insolvenzverwalter in einem solchen Fall den „Insolvenzverschleppungsschaden“, der der Insolvenzschuldnerin durch die auf der Unternehmensfortführung beruhende Vergrößerung der Verbindlichkeiten erwachse, geltend machen kann. Der Schaden der Schuldnerin bemesse sich nach der Differenz zwischen ihrer Vermögenslage im Zeitpunkt rechtzeitiger Antragstellung im Vergleich zu ihrer Vermögenslage im Zeitpunkt des tatsächlich gestellten Antrags (BGH, Urteil vom 06.06.2013, IX ZR 204/12, juris Rz. 28).Randnummer67

Gegen diese Auffassung sind jüngst in der Literatur (Brügge, VersR 2018, 705 ff.; Meixner, DStR 2018, 966 ff. und 1025 ff.) grundlegende insolvenzrechtliche Bedenken geltend gemacht worden, die sich unter anderem darauf stützen, dass die Befugnis des Insolvenzverwalters zur Geltendmachung eines solchen Schadens von der Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zur Haftung eines Geschäftsführers im Falle der Insolvenzverschleppung grundlegend abweiche.Randnummer68

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Haftung des Geschäftsführers
nimmt der II. Zivilsenat (BGH, Urteil vom 30.03.1998, II ZR 146/96, zit. nach juris) an, dass der Insolvenzverwalter gerade nicht befugt sei, einen Insolvenzvertiefungsschaden als Schaden der Gesellschaft geltend zu machen. Vielmehr seien allein die Neugläubiger befugt, ihren Vertrauensschaden vom Geschäftsführer geltend zu machen. Wäre der Insolvenzverwalter befugt, den Vertiefungsschaden geltend zu machen und zur Masse zu ziehen, würde dies eine ungerechtfertigte Bevorteilung der Altgläubiger gegenüber den – eigentlich primär durch die verspätete Antragstellung geschädigten – Neugläubigern darstellen. Denn dadurch würde sich die Altgläubigerquote erheblich erhöhen, während die eigentlich primär geschädigten Neugläubiger u.U. kaum profitieren würden, weil zu befürchten sei, dass sie wegen ihres Rest-Vertrauensschadens leer ausgingen (BGH, Urteil vom 30.03.1998, II ZR 146/96, juris Rz. 12; Meixner, DStR 2018, 1025, 1026 f.; Brügge, VersR 2018, 705, 706).Randnummer69

In der Literatur wird mit beachtlichen Gründen argumentiert, dass für die Haftung des Steuerberaters nichts anderes gelten könne (Meixner, DStR 2018, 1025, 1030; Brügge, VersR 2018, 705, 710). Darin sei keine ungerechtfertigte Bevorteilung des Steuerberaters zu sehen: Zwar könne der Steuerberater anders als der Geschäftsführer mangels vertraglicher Beziehungen nicht unmittelbar von den Gläubigern der Schuldnerin auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden; es komme aber eine mittelbare Inanspruchnahme über den regresspflichtigen Geschäftsführer in Betracht (Brügge, VersR 208, 705, 709 f.).Randnummer70

Vorliegend braucht dieser Streit nicht entschieden zu werden. Auch wenn man mit dem IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes davon ausgeht, dass ein Insolvenzverwalter einen Insolvenzvertiefungsschaden gegenüber dem pflichtwidrig handelnden Wirtschaftsprüfer grundsätzlich geltend machen kann, scheitert der Anspruch vorliegend sowohl an der fehlenden Kausalität (s.o. unter 3.) als auch an einem deutlich überwiegenden Mitverschulden der Geschäftsführer der Schuldnerin (s.u. unter 6.).Randnummer71

5. ZurechnungszusammenhangRandnummer72

Grundsätzlich muss zwischen dem Verhalten des Schädigers und dem eingetretenen Schaden ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen; gänzlich unwahrscheinliche Kausalverläufe begründen keine Haftung (Grüneberg in Grüneberg, BGB, a.a.O., vor § 249 Rn. 26). Diese Adäquanztheorie wird durch eine wertende Beurteilung ergänzt, dem Schutzzweck der Norm: Ein eingetretener und vom Prüfer verursachter Schaden ist ihm bei wertender Betrachtung nur zuzurechnen, wenn er innerhalb des Schutzbereichs der verletzten Norm liegt (Staake/Müller in: Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2. Auflage 2020, § 323 HGB, Rn. 78). Der Zurechnungszusammenhang kann fehlen, wenn Verluste nicht auf der Fortsetzung der üblichen Geschäftstätigkeit, sondern auf der Eingehung wirtschaftlich nicht vertretbarer Risiken beruhen und dadurch der Bereich adäquater Schadensverursachung verlassen wurde. Dies kann erst recht in Betracht kommen, wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muss, deutlich überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist oder das Verhalten des Geschäftsleiters aus anderen Gründen als unvertretbar gelten muss (vgl. BGH, Urteil vom 06.06.2013 – IX ZR 204/12, Rn. 24, beck-online). Hiervon ist aufgrund der Feststellungen des Strafurteils des Landgerichts Stuttgart vom 07.08.2018 auszugehen, wonach die Schuldnerin von Anfang an der Schaffung und Aufrechterhaltung eines betrügerischen Schneeballsystems diente (Strafurteil, Seite 4).Randnummer73

Allerdings erscheint es dem Senat – wie auch dem Landgericht in der angefochtenen Entscheidung – fraglich, ob diese Überlegungen, die der BGH im Hinblick auf einen mit der Erstellung der Steuerbilanz beauftragten Steuerberater angestellt hat, auf den Abschlussprüfer übertragbar sind, weil die Pflichtprüfung gerade dem Regelungszweck dient, Verstöße aufzudecken. Während sich ein Steuerberater in erster Linie um Angelegenheiten des Steuerrechts kümmert, hat ein Wirtschaftsprüfer eine wichtige wirtschaftliche Prüfungsfunktion. Einzig Wirtschaftsprüfer haben die Befugnis, Jahresabschlüsse von Unternehmen und Genossenschaften zu prüfen; vgl. insb. auch § 317 Abs. 1 S. 3 HGB. Die Prüfung des Jahresabschlusses hat Kontroll-, Informations- und Beglaubigungsfunktionen (MüKoHGB/Ebke, 4. Aufl. 2020, HGB § 316 Rn. 24). Sie bezweckt damit nicht nur die Information der Gesellschaft selbst, sondern sie umfasst auch die Unterrichtung der Personen, die erst geschäftliche Beziehungen zu der Gesellschaft aufnehmen, ihr Waren- oder Geldkredit gewähren, sich an ihr beteiligen oder sie übernehmen wollen, ferner des Staates und – entsprechend ihrer jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung – auch der Allgemeinheit (BGH, Urteil vom 10.12.2009 – VII ZR 42/08 –, BGHZ 183, 323-340, Rn. 29; MüKoHGB/Ebke, 4. Aufl. 2020, HGB § 316 Rn. 25). Der Prüfungsstandard IDW PS 210 befasst sich ausdrücklich mit der Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Abschlussprüfung. Unter Nr. 4, Rn. 14, ist dort festgehalten: „Dabei berücksichtigt der Abschlussprüfer das Risiko, dass Kontrollmaßnahmen durch das Management außer Kraft gesetzt werden, und bezieht in seine Überlegungen mit ein, dass Prüfungshandlungen, die für die Aufdeckung von Unrichtigkeiten geeignet sind, im Zusammenhang mit Verstößen nicht notwendigerweise ausreichen.“Randnummer74

Auch wenn nach der Adäquanztheorie zumindest solche Schäden, die nach der Lebenserfahrung außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegen, nicht zu ersetzen sind (Beck Bil-Komm./Schmidt/Feldmüller, 12. Aufl. 2020, HGB § 323 Rn. 109), so ist es gerade Aufgabe des Abschlussprüfers, auch Ungereimtheiten, die möglicherweise sogar auf vorsätzliches Verhalten der Geschäftsführung zurückzuführen sind, aufzudecken. Dass solche Ungereimtheiten entstehen, liegt gerade nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit.Randnummer75

6. Mitverschuldenseinwand, § 254 BGBRandnummer76

a. Schuldhaftes Handeln der Beklagten: FahrlässigkeitRandnummer77

Die Beklagten handelten fahrlässig und nicht (bedingt) vorsätzlich. Bedingter Vorsatz liegt dann vor, wenn aus dem Vorgehen des Abschlussprüfers geschlossen werden kann, dass er es für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat, die Abschlussprüfung pflichtwidrig durchgeführt zu haben (BGH, Urteil vom 19.04.2012 – III ZR 224/10 –, Rn. 30, juris). In einem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hatte der Abschlussprüfer kritische Prüfungsfelder „umschifft“ und grundlegende Berufspflichten verletzt (OLG Frankfurt, Urteil vom 14.08.2014 – 6 U 114/08 –, Rn. 101, juris). Es genügt allerdings nicht, wenn die relevanten Tatumstände, die zu einer Unzulänglichkeit der Prüfung führen, lediglich objektiv erkennbar waren und sich dem Abschlussprüfer hätten aufdrängen müssen. In einer solchen Situation ist lediglich ein Fahrlässigkeitsvorwurf gerechtfertigt (BGH, Urteil vom 15.10.2013 – VI ZR 124/12 –, Rn. 12, juris; OLG Frankfurt, Urteil vom 14.08.2014 – 6 U 114/08 –, Rn. 102, juris). Letztendlich kann diese Frage nur im Rahmen einer Würdigung aller Umstände festgestellt werden (OLG Frankfurt, Urteil vom 14.08.2014 – 6 U 114/08 –, Rn. 103, juris). Der Kläger muss den Beklagten vorsätzliches Handeln nachweisen (OLG Frankfurt, Urteil vom 14.08.2014 – 6 U 114/08 –, Rn. 104, juris). Nach diesen Maßstäben handelte die Beklagten vorliegend jedenfalls nicht vorsätzlich, denn es wird auch von Klägerseite nicht vorgetragen, dass sie es für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hätten, die Abschlussprüfung pflichtwidrig durchgeführt zu haben.Randnummer78

Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, §276 Abs.2 BGB. Dafür kommt es nicht auf den individuellen, sondern auf einen objektiv-abstrakten Sorgfaltsmaßstab an. Für den Prüfer wird die im Verkehr erforderliche Sorgfalt durch die Sorgfalt eines gewissenhaften und unparteiischen Abschlussprüfers konkretisiert (Staake/Müller in: Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2. Auflage 2020, § 323 HGB, Rn. 66). Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist, schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und das nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste (Grüneberg in Grüneberg, BGB, a.a.O., § 277 Rn. 5; BGH, Urteil vom 03.11.2016 – III ZR 286/15 –, Rn. 17, juris). Maßgebend ist insoweit die Perspektive des Sachkundigen (BGH, Beschluss vom 24.07.2014 – III ZR 412/13 –, Rn. 3, juris). Den Handelnden muss – im Gegensatz zur leichten Fahrlässigkeit – auch subjektiv ein schweres Verschulden treffen (BGH, Urteil vom 11.07.2007 – XII ZR 197/05 –, Rn. 20, juris; BGH, Urteil vom 03.11.2016 – III ZR 286/15 –, Rn. 17, juris). Einfache Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn die besonderen Merkmale der groben Fahrlässigkeit nicht erfüllt sind (Grüneberg in Grüneberg, a.a.O., § 276 Rn. 14).Randnummer79

Die Beklagten haben die Sorgfalt, die an einen Prüfer zu stellen ist, nicht aufgewandt, da sie ansonsten die Saldenbestätigungen und Nachweise über eine etwaige Bestandsaufnahme des körperlichen Anlagevermögens eingeholt hätten. Ihnen kann hingegen nicht vorgeworfen werden, dass sie wesentliche Prüfgebiete von vornherein ausgeblendet und sich einen völlig unzureichenden Zeitrahmen für die Prüfung gesetzt hätten (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 14.08.2014 – 6 U 114/08 –, Rn. 103, juris). Sie haben vielmehr einzelne Prüfpflichten nicht ordnungsgemäß wahrgenommen und sich auf die Angaben der Schuldnerin verlassen. Allerdings wurden die Bilanzpositionen mit dem Geschäftsführer N. und Frau B. „eingehend erörtert“ (so LG UA S. 21). Damit haben die Beklagten fahrlässig, aber nicht grob fahrlässig, gehandelt. Entgegen der Auffassung des Landgerichts bewertet der Senat das Handeln der Beklagten als leicht fahrlässig und nicht „zumindest nahe an der groben Fahrlässigkeit“.Randnummer80

b. AbwägungRandnummer81

Nach § 254 Abs. 1 BGB hängt, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Geschädigten mitgewirkt hat, die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Bei Annahme eines Mitverschuldens ist eine Würdigung und Abwägung aller Umstände zur Bestimmung des Umfangs der Ersatzpflicht erforderlich; bei der Abwägung ist in erster Linie auf das Maß der beiderseitigen Verursachungen abzustellen (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Urteil vom 11.04. 2018 – 8 U 69/16 –, Rn. 32, juris). Dem (einfach) fahrlässigen Handeln der Beklagten steht das vorsätzliche Handeln der Geschäftsführer der Schuldnerin entgegen. Für den Geschäftsführer N. jedenfalls ist dieses durch das Strafurteil des Landgerichts festgestellt; sein Verschulden wiegt schwer. Der ebenfalls angeklagte Mitgeschäftsführer L. B. ist in der – in dieser Sache verbüßten – Untersuchungshaft verstorben, so dass eine abschließende Entscheidung im Strafverfahren gegen ihn nicht erging.Randnummer82

Ein etwaiger Schadensersatzanspruch des Klägers kann infolge eines der Schuldnerin analog § 31 BGB zuzurechnenden Mitverschuldens ihres Geschäftsführers nach § 254 Abs. 1 BGB erheblich gemindert oder sogar ganz ausgeschlossen sein (BGH, Urteil vom 06.06.2013 – IX ZR 204/12 –, Rn. 29, juris; BGH, Urteil vom 10.12.2009 – VII ZR 42/08 –, BGHZ 183, 323-340, Rn. 54; einen vollständigen Haftungsausschluss bejahend: BGH, Beschluss vom 23.10.1997 – III ZR 275/96 –, juris). Allerdings ist bei der Anwendung von § 254 Abs. 1 BGB im Hinblick auf die Funktion der Abschlussprüfung, Fehler in der Rechnungslegung aufzudecken und den daraus drohenden Schaden von der geprüften Gesellschaft abzuwenden, mehr Zurückhaltung als bei anderen Schädigern geboten. Daher lässt auch eine vorsätzliche Irreführung des Prüfers die Ersatzpflicht nicht – wie sonst – ohne Weiteres gänzlich entfallen. Maßgeblich sind letztlich die Umstände des Einzelfalls (BGH, Beschluss vom 23.10.1997 – III ZR 275/96 –, Rn. 8, juris; BGH, Urteil vom 06.06.2013 – IX ZR 204/12 –, Rn. 30, juris; BGH, Urteil vom 10. 12.2009 – VII ZR 42/08 –, BGHZ 183, 323-340, Rn. 56; OLG Frankfurt, Urteil vom 14.08.2014 – 6 U 114/08 –, Rn. 131, juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2021 – 22 U 31/20 –, Rn. 29, juris; Baumbach/Hopt/Merkt, 40. Aufl. 2021, HGB § 323 Rn. 7). Der besonderen Verantwortung des Prüfers entsprechend ist ein strenger Maßstab anzulegen, was den Fall eines kompletten Anspruchsfortfalls analog § 254 BGB zur Ausnahme macht (BeckOK HGB/Poll, 34. Ed. 15.10.2021, HGB § 323 Rn. 31). Der Schutz Dritter kann insoweit allerdings keine Rolle spielen: Der Anspruch nach § 323 Abs. 1 S. 3 HGB berechtigt ohnehin nur die Gesellschaft und die mit ihr verbundenen Unternehmen, nicht hingegen Gesellschafter, Gläubiger oder sonstige Dritte. Es erscheint daher als systematisch eher fernliegend, schützende Erwägungen zugunsten nicht anspruchsberechtigter Personen in die Anwendung von § 323 Abs. 1 S. 3 HGB einfließen zu lassen (OLG Braunschweig, Urteil vom 08.05.2013 – 3 U 70/12 –, Rn. 22, juris).Randnummer83

Die Zweckbestimmung des Auftrags lässt es gerechtfertigt erscheinen, die vollständige Haftung des Wirtschaftsprüfers für eine fehlerhafte Prüfung gegenüber einem vorsätzlich handelnden Geschäftsführer nur dann zurücktreten zu lassen, wenn dem Wirtschaftsprüfer einfache Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Demgegenüber ist eine anteilige Haftung des Wirtschaftsprüfers im Regelfall schon dann nicht mehr zu verneinen, wenn der Sorgfaltsverstoß des Wirtschaftsprüfers die Grenze zur groben Fahrlässigkeit erreicht, ohne sie bereits zu überschreiten (BGH, Urteil vom 10.12.2009 – VII ZR 42/08 –, BGHZ 183, 323-340, Rn. 59; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 18.07.2013 – 4 U 278/11 – 88 –, Rn. 37, juris; OLG Stuttgart, Urteil vom 15.01.2008 – 12 U 75/07 –, Rn. 185, juris).Randnummer84

Aufgrund dessen entfällt vorliegend (neben der fehlenden Kausalität) die Haftung der Beklagten: Zwar ist dem Landgericht darin Recht zu geben, dass die Schuldnerin als GmbH eine Kapitalgesellschaft und damit eine eigene Rechtspersönlichkeit war, die nicht mit den für sie handelnden Geschäftsführern gleichzusetzen ist. Allerdings liegt die Besonderheit vorliegend darin, dass die Schuldnerin nur zu dem Zweck gegründet wurde, das dargestellte Schneeballsystem zu schaffen und aufrechtzuerhalten, so dass sich die Gesellschafter/Geschäftsführer auf Kosten gutgläubiger Anleger bereichern konnten (vgl. Strafurteil vom 07.08.2018, Anl. K9, dort S. 4). Der operative Geschäftsbetrieb der Schuldnerin war von Beginn an fast vollständig fingiert (Strafurteil, S. 7). Der Zweck der Abschlussprüfung, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden, konnte vorliegend gar nicht erreicht werden, da der „Schaden“ der Gesellschaft vorsätzlich eingeplant war und sich tatsächlich dann als Schaden der Anleger realisierte. Gläubigerinteressen werden durch die im Raum stehenden Vorschriften aber gerade nicht geschützt. Das schadensstiftende Verhalten der Geschäftsführer war damit bereits bei Gründung der Gesellschaft vorhanden; die Geschäftsführer waren daran interessiert, dieses „Scheinkonstrukt“ längstmöglich aufrechtzuerhalten. Hinzu kommt, dass die Schuldnerin zwar als GmbH gegründet war, ihre alleinigen Gründungsgesellschafter aber waren die beiden Geschäftsführer, B. und N., mit einem Anteil von jeweils 50 % (Strafurteil des LG Stuttgart vom 7.8.2018, dort S. 4). Auch später sind – nach Angaben der Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat – keine weiteren Gesellschafter hinzugekommen, so dass es auch an der Schutzbedürftigkeit der Gesellschaft fehlt (siehe auch OLG Braunschweig, Urteil vom 08.05.2013 – 3 U 70/12 –, Rn. 23, juris).Randnummer85

Dem gegenüber steht das fahrlässige Verhalten der Beklagten. Insoweit ist auch noch verschuldensmindernd zu berücksichtigen, dass der Gesichtspunkt entfällt, bei der Gesellschaft sei das irrige Vertrauen geweckt worden, sich nicht in einer wirtschaftlichen Schieflage zu befinden (als wertendes Kriterium angeführt von BGH, Urteil vom 06.06.2013 – IX ZR 204/12 –, Rn. 31, juris).Randnummer86

Es ist dies ein Fall, in dem ein schuldhafter Pflichtverstoß des Abschlussprüfers zwar zu bejahen ist, seine Haftung gegenüber der Gesellschaft aber dennoch grob unbillig wäre (im Ergebnis ebenso: OLG Braunschweig, Urteil vom 08.05.2013 – 3 U 70/12 –, Rn. 22, juris). Es erscheint treuwidrig, wenn die Schuldnerin Ersatz für einen Schaden verlangen könnte, den sie selbst verursacht hat (OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2021 – 22 U 31/20 –, Rn. 30, juris; vgl. auch OLG Koblenz, Urteil vom 30.10.2020 – 3 U 47/20 –, Rn. 53, juris).

III.

1. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1 Satz 1, 101 ZPO.Randnummer88

2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.Randnummer89

3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47, 48 GKG bestimmt.Randnummer90

4. Die Revision wird nicht zugelassen. Die Voraussetzungen für die Bewertung des Mitverschuldens in Fällen wie dem vorliegenden sind höchstrichterlich geklärt. Die Gewichtung der jeweiligen Verschuldensanteile stellt eine Frage des Einzelfalls dar. Ebenso verhält es sich mit der Bejahung der Kausalität der Pflichtverletzung für den eingetretenen Schaden. Die streitige und bisher ungeklärte Rechtsfrage, ob der Insolvenzverwalter befugt ist, einen Insolvenzvertiefungsschaden im Rahmen eines Haftungsanspruchs gegen einen Steuerberater/Wirtschaftsprüfer geltend zu machen, ist im vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich.

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OLG Stuttgart, Beschluss vom 29.06.2021 – 12 AR 6/21; 12 AR 7/21; 12 AR 8/21; 12 AR 9/21; 12 AR 10/21; 12 AR 11/21; 12 AR 12/21; 12 AR 13/21; 12 AR 14/21; 12 AR 15/21; 12 AR 16/21; 12 AR 17/21

Dienstag, 29. Juni 2021

Wirecard: LG München I zuständig für Schadensersatzklagen gegen Ernst & Young

Das Land­ge­richt Mün­chen I ist zu­stän­di­ges Ge­richt für Scha­den­er­satz­kla­gen von Ak­ti­en­in­ha­bern der Wire­card AG mit Sitz in Mün­chen, auch wenn die Kla­gen nur gegen die Wirt­schafts­prü­fungs­ge­sell­schaft Ernst & Young GmbH (EY) mit Sitz in Stutt­gart ge­rich­tet sind und nicht zu­gleich die Wire­card AG ver­klagt wird. Das hat das Ober­lan­des­ge­richt Stutt­gart mit Be­schlüs­sen vom 28.06.2021 in meh­re­ren Par­al­lel­ver­fah­ren ent­schie­den.

Vorwurf: Schlampige Prüfung der Konzernabschlüsse

Die Aktionäre der Wirecard AGBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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hatten die beklagte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zunächst vor dem LG Stuttgart auf Schadenersatz in Anspruch genommen mit der Begründung, diese habe Konzernabschlüsse der Wirecard AGBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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für mehrere Jahre ohne ordnungsgemäße Prüfung testiert. Deswegen seien Manipulationen der Jahresabschlüsse lange Zeit unentdeckt geblieben. Bei pflichtgemäßer Prüfung wären die Manipulationen früher entdeckt worden, was dazu geführt hätte, dass die Kläger keine Aktien der Wirecard AGBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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gekauft hätten und ihnen durch den nach Entdeckung der Manipulationen eingetretenen Kursverfall kein Schaden entstanden wäre.

OLG Stuttgart entscheidet über Zuständigkeit

Das LG Stuttgart erklärte sich für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das seiner Ansicht nach zuständige LG München I. Dieses hat sich gleichfalls für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit zur Bestimmung des zuständigen Gerichts dem OLG Stuttgart gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO vorgelegt. Denn haben sich verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, rechtskräftig für unzuständig erklärt, ist das zuständige Gericht durch das im Rechtszug zunächst höhere Gericht zu bestimmen. Nachdem die Klage zuerst beim LG Stuttgart erhoben worden war, war vorliegend das OLG Stuttgart zu dieser Entscheidung berufen.

Verweisung an LG München I bestätigt

Nach Ansicht des OLG Stuttgart ist das LG München I zum einen schon deswegen zuständig, weil das LG Stuttgart den Rechtsstreit mit bindender Wirkung dorthin verwiesen hat. Die Bindungswirkung entfalle nur, wenn eine Verweisung auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruhe oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehre und deswegen als willkürlich anzusehen sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall.

Ausschließliche Zuständigkeit gegeben

Zum anderen sei das LG München I aber auch ausschließlich zuständig, so das OLG Stuttgart. Obwohl der Sitz der beklagten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Bezirk des LG Stuttgart liege, was normalerweise zur örtlichen Zuständigkeit des LG Stuttgart führe (allgemeiner Gerichtsstand), sei vorliegend ein besonderer, ausschließlicher Gerichtsstand in München begründet, der die Zuständigkeit des LG Stuttgart verdränge. Das LG München I sei nämlich nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO ausschließlich zuständig.

Sitz betroffenen Emittenten ausschlaggebend

Nach dieser Vorschrift ist für Klagen, in denen ein Schadenersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation geltend gemacht wird, das Gericht am Sitz des betroffenen Emittenten, des betroffenen Anbieters von sonstigen Vermögensanlagen oder der Zielgesellschaft ausschließlich zuständig, wenn sich dieser Sitz im Inland befindet. Das OLG hat das Vorliegen dieser Voraussetzungen bejaht. Die von der beklagten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft verantworteten Bestätigungsvermerke auf den Konzernabschlüssen der Wirecard AGBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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stellten öffentliche Kapitalmarktinformationen dar, weil die Vermerke für eine Vielzahl von Kapitalanlegern bestimmte Informationen über Tatsachen, Umstände, Kennzahlen und sonstige Unternehmensdaten enthielten, die die Aktiengesellschaft als Emittent von Wertpapieren betreffen.

BGH-Grundsätze zu Gerichtsstand nicht anwendbar

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gelte die Einschränkung in § 32b Abs. 1 ZPO, wonach ein gemeinsamer ausschließlicher Gerichtsstand nur dann begründet ist, wenn die Klage zumindest auch gegen den Emittenten, den Anbieter oder die Zielgesellschaft gerichtet ist, in der vorliegenden Fallgestaltung nicht, so das OLG Stuttgart weiter. Damit sei das LG München I für die vorliegenden Rechtsstreite ausschließlich örtlich zuständig, obwohl die Klagen der Aktionäre nicht auch gegen die Wirecard AGBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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gerichtet seien.

Keine Vorlage an BGH

Das OLG Stuttgart hat sich daran gehindert gesehen, die Sache dem BGH zur Entscheidung vorzulegen. Eine solche Vorlage würde voraussetzen, dass das OLG bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des BGH abweichen wolle. Dies sei nicht der Fall.

Schlagworte: Gerichtsstand

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OLG Stuttgart, Beschluss vom 28.06.Juni 2021 – 12 AR 6/21

Montag, 28. Juni 2021

§ 32b Abs 1 Nr 1 ZPO

1. Der Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers stellt eine öffentliche Kapitalmarktinformation im Sinn von § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO dar.

2. § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO findet auch bei sonstigen Personen Anwendung, die zwar nicht aufgrund Prospekthaftung im engeren Sinne, aber aus anderen Gründen aufgrund typisierten Vertrauens für die Unrichtigkeit einer Kapitalmarktinformation deliktisch haften. Es genügt, dass ein Kläger einen deliktischen Schadensersatzanspruch wegen einer falschen, irreführenden oder unterlassenen Kapitalmarktinformation schlüssig vorgetragen hat (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, 12. Januar 2018, 34 AR 110/17).

3. Die Klage muss im Anwendungsbereich von § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO nicht zumindest auch gegen den Emittenten, den Anbieter oder die Zielgesellschaft gerichtet werden.

Tenor

Als zuständiges Gericht wird das Landgericht München I bestimmt.

Gründe

I.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schadensersatz aufgrund angeblich fehlerhafter Bestätigungsvermerke. Sie erwarb zwischen dem 08.02.2018 und dem 16.10.2019 285 Aktien der XY AG, die ihren Sitz im Bezirk des Landgerichts München I hat. Die Beklagte, die ihren Sitz im Bezirk des Landgerichts Stuttgart hat, war als verantwortliche Abschlussprüferin mit der Prüfung des Konzernabschlusses der XY AG für die Jahre 2015 bis 2018 betraut. Ihre Mitarbeiter versahen diese Abschlüsse jeweils mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk.

Mit beim Landgericht Stuttgart erhobener Klage behauptet die Klägerin, die Beklagte habe die Konzernabschlüsse der XY AG für die Jahre 2015 bis 2018 ohne ordnungsgemäße Prüfung testiert, obwohl die seit 2015 bilanzierten Zahlen keine tatsächliche Grundlage gehabt hätten. Ein Großteil der Forderungen der XY AG in Höhe von rund 250 Millionen Euro sei auf angeblich bei ausländischen Drittpartnern hinterlegte Sicherheitseinbehalte entfallen, für deren Werthaltigkeit es keine nachvollziehbare Erklärung gegeben habe. Die Manipulation der Jahresabschlüsse habe nach deren Bekanntwerden zu einer negativen Wertentwicklung der Aktie geführt. Wäre die Beklagte ihren Prüfungspflichten nachgekommen und daher die Manipulation der Jahresabschlüsse früher bekanntgeworden, hätte sie keine Aktien der XY AG erworben. Ihr sei daher wegen der fehlerhaften Testate ein Schaden entstanden.

Nach ihrer Auffassung würden ihr Ansprüche aus einem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 332 HGB und aus § 826 BGB zustehen.

Durch Verfügung vom 10.12.2020 ordnete das Landgericht Stuttgart das schriftliche Vorverfahren an und wies mit Gelegenheit zur Stellungnahme bis 07.01.2021 darauf hin, dass § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit Anwendung finden dürfte. Die Klage wurde am 21.12.2020 zugestellt. Die Klägerin beantragte durch Schriftsatz vom 17.12.2020 hilfsweise die Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht München I. Der Schriftsatz wurde am 23.12.2020 formlos an den Beklagtenvertreter übersandt. Zudem hörte das Landgericht Stuttgart die Beklagte am 18.02.2021 telefonisch zur örtlichen Zuständigkeit an. Durch Beschluss vom 19.02.2021 erklärte sich das Landgericht Stuttgart für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Landgericht München I. Zur Begründung führt es insbesondere aus, dass ein Schadensersatzanspruch wegen falscher öffentlicher Kapitalmarktinformationen geltend gemacht werde, der gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO einen ausschließlichen Gerichtsstand am Sitz der Emittentin XY AG in München begründe. Durch Beschluss vom 05.05.2021 hat sich das Landgericht München I für örtlich unzuständig erklärt und die Akten dem Oberlandesgericht Stuttgart zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Nach Auffassung des Landgerichts München I ist § 32b Abs. 1 Nr. 1ZPO nicht anwendbar, weil der Klage keine öffentliche Kapitalmarktinformation zugrunde liege. Die Anwendung des § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO sei objektiv willkürlich.

II.Randnummer5

Das Landgericht München I ist als zuständiges Gericht zu bestimmen.Randnummer6

1. Das Oberlandesgericht Stuttgart ist zur Entscheidung des negativen Zuständigkeitsstreits berufen, weil die beteiligten Gerichte zu unterschiedlichen Oberlandesgerichtsbezirken gehören und das Landgericht Stuttgart zuerst mit der Sache befasst war (§ 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO).

2. Die beiden am Kompetenzstreit beteiligten Landgerichte, von denen nach Sachlage eines zuständig sein muss, haben sich nach Eintritt der Rechtshängigkeit jeweils durch unanfechtbare Verweisungsbeschlüsse (§ 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO) im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO „rechtskräftig“ für unzuständig erklärt. Das Landgericht Stuttgart hat das Landgericht München I für zuständig erklärt. Der Beschluss des Landgerichts München I ist sinngemäß als Rückverweisung an das Landgericht Stuttgart zu verstehen, da in den Gründen der Standpunkt vertreten wird, dieses sei ungeachtet des Verweisungsbeschlusses zuständig geblieben.

3. Zuständig ist das Landgericht München I.

a) Seine Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Landgerichts Stuttgart vom 19.02.2021 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO). Auf Grund der klaren gesetzlichen Regelung des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO ist auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung entzogen (BGH, Beschluss vom 10.12.1987 – I ARZ 809/87 = BGHZ 102, 338, 340).

b) Zwar kommt einem Verweisungsbeschluss nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ausnahmsweise dann keine Bindungswirkung zu, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann (RG, Urteil vom 10. Januar 1928 – III 144/27 = RGZ 119, 379, 384; BGH, Urteil vom 06.06.1951 – II ZR 16/51 = BGHZ 2, 278, 280), etwa weil er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (BGH, Beschluss vom 15.03.1978 – IV ARZ 17/78 = BGHZ 71, 69, 72 ff.). So liegt es hier aber nicht.

aa) Der Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör ist beachtet worden. Der klägerische Verweisungsantrag wurde der Beklagten am 23.12.2020 übersandt. Das Landgericht Stuttgart erließ den Verweisungsbeschluss am 19.02.2021 erst, nachdem es die Beklagte zuvor telefonisch angehört hatte.

bb) Der Verweisungsbeschluss entbehrt auch nicht jeder gesetzlichen Grundlage und muss deshalb nicht als willkürlich betrachtet werden. Vielmehr geht das Landgericht Stuttgart zutreffend davon aus, dass für den vorliegenden Rechtsstreit gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO das Landgericht München I ausschließlich örtlich zuständig ist, weil im dortigen Bezirk der maßgebliche Sitz der Emittentin XY AG liegt. Die Voraussetzungen des § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO sind gegeben:

(1) Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation in Anspruch.

(a) Gegenstand der Klage sind öffentliche Kapitalmarktinformationen. Soweit die Mitarbeiter der Beklagten für die Beklagte als verantwortlicher Abschlussprüferin die Konzernabschlüsse der XY AG für die Jahre 2015 bis 2018 gemäß § 322 HGB mit Bestätigungsvermerken versehen haben, stellt dies eine öffentliche Kapitalmarktinformation im Sinn von § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO dar.

(aa) Aus dem systematischen Zusammenhang der Vorschrift mit dem KapMuG kann für den Begriff der „öffentlichen Kapitalmarktinformation“ auf die Definition in § 1 Abs. 2 KapMuG zurückgegriffen werden (Toussaint in beckOK, ZPO, 40. Edition, § 32b ZPO Rn. 3, siehe auch Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 29.02.2012, BT-Drucks. 17/8799 Seite 27). Demnach sind hierunter die für eine Vielzahl von Kapitalanlegern bestimmten Informationen über Tatsachen, Umstände, Kennzahlen und sonstige Unternehmensdaten zu verstehen, die einen Emittenten von Wertpapieren oder Anbieter von sonstigen Vermögensanlagen betreffen. Hierzu gehören insbesondere die in § 1 Abs. 2 Satz 2 KapMuG ausdrücklich aufgeführten Informationen.

(bb) Die von den Mitarbeitern der Beklagten erstellten Bestätigungsvermerke stellen „öffentliche Kapitalmarktinformation“ dar.

(aaa) Es kann indessen dahinstehen, ob Bestätigungsvermerke schon von der beispielhaften Aufzählung in § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 KapMuG erfasst werden. Hiernach stellen „Jahresabschlüsse“ sowie „Konzernabschlüsse“ öffentliche Kapitalmarktinformationen dar. Allerdings ist der Bestätigungsvermerk nicht Teil des Konzernabschlusses (Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Auflage, § 37 WpHG Rn. 30). Gemäß § 242 Abs. 3 HGB bilden lediglich die Bilanz und die Gewinn- und Verlustrechnung den Jahresabschluss. Und in den §§ 264 bis 289f HGB, die für Kapitalgesellschaften ergänzende und zum Teil abweichende Regelungen enthalten (vgl. Störk/Philipps, Beck’scher Bilanz-Kommentar, 12. Auflage, § 242 HGB, Rn. 10), ist der Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers nicht genannt. In den Anhang der Bilanz ist lediglich das vom Abschlussprüfer für das Geschäftsjahr berechnete Gesamthonorar aufzunehmen (§ 285 Nr. 17 HGB).

(bbb) Bestätigungsvermerke werden aber jedenfalls von der allgemeinen Begriffsdefinition der „öffentlichen Kapitalmarktinformation“ erfasst. Sie enthalten für eine Vielzahl von Kapitalanlegern bestimmte Informationen über Tatsachen, Umstände, Kennzahlen und sonstige Unternehmensdaten, die die Aktiengesellschaft als Emittentin von Wertpapieren betreffen.

In Abgrenzung zum Prüfbericht gemäß § 321 HGB, dessen Adressat der Aufsichtsrat, ggf. der Vorstand oder die Hauptversammlung ist, richten sich Bestätigungsvermerke gemäß § 322 HGB an die Öffentlichkeit und damit an einen Personenkreis, dem der Prüfbericht in der Regel nicht zugänglich ist (Störk/Philipps, Beck’scher Bilanz-Kommentar, 12. Auflage, § 322 HGB, Rn. 8). Sie gehören zu den in § 325 Abs. 1 HGB abschließend aufgeführten, offenlegungspflichtigen und zum Bundesanzeiger einzureichenden Unterlagen (Störk/Philipps, Beck’scher Bilanz-Kommentar, 12. Auflage, § 325 HGB, Rn. 6). Die Bedeutung des Abschlussvermerks, auch für die Öffentlichkeit, zeigt sich ferner daran, dass ein prüfungspflichtiger, aber nicht geprüfter Jahresabschluss gemäß § 316 Abs. 1 Satz 2 HGB nicht festgestellt werden kann. Die Art des erteilten Vermerks über die Prüfung (uneingeschränkter bzw. eingeschränkter Bestätigungsvermerk, Versagungsvermerk) ist für die rechtswirksame Feststellung des JahresabschlussesBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Feststellung
Feststellung des Jahresabschlusses
hingegen grundsätzlich ohne Bedeutung (Störk/Philipps, Beck’scher Bilanz-Kommentar, 12. Auflage, § 316 HGB, Rn. 10). Zudem ergibt sich die Wichtigkeit des Abschlussvermerks für die Öffentlichkeit auch daraus, dass ein festgestellter, der Prüfungspflicht von § 316 Abs. 1 Satz 1 HGB unterliegender Jahresabschluss gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG nichtig ist, sofern er nicht nach §§ 316 ff. HGB geprüft wurde (Störk/Philipps, Beck’scher Bilanz-Kommentar, 12. Auflage, § 316 HGB, Rn. 11). Schließlich folgt die Bedeutung des Bestätigungsvermerks auch aus der Regelung des § 114 Abs. 2 Nr. 1 a und b WpHG für kapitalmarktorientierte Unternehmen. Die Formulierung „geprüfter“ Jahresabschluss spricht dafür, dass der Jahresabschluss einschließlich des Bestätigungsvermerks veröffentlicht werden muss, obwohl der Bestätigungsvermerk nicht Teil des Jahresabschlusses ist (Becker in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Auflage 2020, § 114 WpHG Rn. 22; Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Auflage, § 37 WpHG Rn. 30).

(b) Die Klägerin macht auch geltend, die von der Beklagten testierten Jahresabschlüsse seien falsch gewesen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, bedarf für die Frage der Zuständigkeit keiner Klärung. Da es sich hierbei um eine sowohl für die Zulässigkeit als auch die Begründetheit bedeutsame, sog. doppelrelevante Tatsache handelt, bestimmt sich die Zuständigkeit allein auf der Grundlage des schlüssigen Klägervortrags. Ob sich die Tatsachenbehauptung nach einer Würdigung aller Umstände als richtig erweist, ist eine Frage der Begründetheit (BGH, Urteil vom 29.06.2010 – VI ZR 122/09 Rn. 8, juris).

(c) Ein Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB wurde schlüssig dargetan.

Die Klägerin begründet den auf § 826 BGB gestützten Anspruch damit, dass die Beklagte bei Erstellung der Bestätigungsvermerke vorsätzlich ihre Pflichten als Abschlussprüferin verletzt und eine Schädigung der Anleger billigend in Kauf genommen habe. Diese Ausführungen werden den Anforderungen gerecht, die der Bundesgerichtshof an eine Haftung aus § 826 BGB wegen fehlerhafter Testate stellt (vgl. BGH, Urteil vom 12.03.2020 – VII ZR 236/19 Rn. 35, juris).

(d) Ferner muss der Bestand des Anspruchs auch unmittelbar von der Unrichtigkeit der Kapitalmarktinformation abhängen.

(aa) Dass der Bestand des Anspruchs unmittelbar von der Unrichtigkeit der Kapitalmarktinformation abhängen muss, hat der Bundesgerichtshof (Beschluss vom 30.10.2008 – III ZB 92/07 Rn. 11, juris) zu § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG in der früheren Fassung entschieden. Diese sachliche Einschränkung gilt im Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG in der aktuellen Fassung weiter. Dieser Abhängigkeit bedarf es zwar nicht im Anwendungsbereich der für mittelbare Ansprüche neu geschaffenen § 1 Abs. 1 Nr. 2 KapMuG, § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO. Da der Beklagten aber nicht die „Verwendung“ der Jahresabschlüsse vorgeworfen wird, ist § 1 Abs. 1 Nr. 2 KapMuG, § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO nicht einschlägig (vgl. Gängel/Huth/Gansel, Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, 4. Auflage, § 1 KapMuG Rn. 10 f.). Maßgeblich ist vielmehr § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG, § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO mit der Folge, dass die vom Bundesgerichtshof postulierte unmittelbare Abhängigkeit des Bestands des Anspruchs von der Unrichtigkeit der Kapitalmarktinformation vorliegend gegeben sein muss.

(bb) Dies ist auch der Fall. Nach dem schlüssigen Klägervortrag hängt ihr Anspruch unmittelbar von der Unrichtigkeit der Kapitalmarktinformation ab. Forderungen in Höhe von 250 Millionen Euro seien in den von der Beklagten testierten Konzernabschlüssen der XY AG der Jahre 2015 bis 2018 ausgewiesen worden, obwohl sie nicht werthaltig gewesen seien. Dies habe nach Bekanntwerden zu massiven Kursverlusten der Aktie der XY AG geführt. Wäre die Beklagte ihren Prüfungspflichten nachgekommen und wäre daher die Manipulation der Jahresabschlüsse früher bekanntgeworden, hätte die Klägerin nach ihrem schlüssigen Vortrag keine Aktien der XY AG erworben. Ihr sei daher wegen der fehlerhaften Testate ein Schaden entstanden.

(e) Der Anwendungsbereich des § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO beschränkt sich nicht auf die Inanspruchnahme eines Beklagten aus einer Prospekthaftung im engeren Sinne.

§ 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO findet auch bei sonstigen Personen Anwendung, die zwar nicht aufgrund Prospekthaftung im engeren Sinne, aber aus anderen Gründen aufgrund typisierten Vertrauens für die Unrichtigkeit einer Kapitalmarktinformation deliktisch haften (Radtke-Rieger in Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2. Auflage, § 1 KapMuG Rn. 21). Es genügt, dass ein Kläger – wie hier – einen deliktischen Schadensersatzanspruch wegen einer falschen, irreführenden oder unterlassenen Kapitalmarktinformation (§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 263, 264a StGB oder § 826 BGB) schlüssig vorgetragen hat (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, Beschluss vom 12.01.2018 – 34 AR 110/17 Rn. 31, juris; Radtke-Rieger in Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2. Auflage, § 1 KapMuG Rn. 21). Auch dies begründet die ausschließliche Zuständigkeit am Sitz des Emittenten, Anbieters oder der Zielgesellschaft nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO (Schultzky in Zöller, ZPO, 33. Auflage, § 32b ZPO Rn. 4; Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, 18. Auflage, § 32b ZPO Rn. 5a; Patzina in Münchener Kommentar, ZPO, 6. Auflage, § 32b ZPO Rn. 6; Toussaint in beckOK ZPO, 40. Edition, § 32b ZPO Rn. 5). Etwas anderes ergibt sich insbesondere nicht aus dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 01.12.2016 (X ARZ 180/16 Rn. 12 f., juris). Dort hat der Bundesgerichtshof abgrenzend ausgeführt, dass § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO bei einer Prospekthaftung im engeren Sinne Anwendung finde, während für auf § 311 Abs. 2 und 3 BGB oder einen Auskunfts- oder Beratungsvertrag gestützte Ansprüche aus Prospekthaftung im weiteren Sinne § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO anwendbar sei. Eine Aussage, dass deliktische Schadensersatzansprüche dem Anwendungsbereich von § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO entzogen sind, lässt sich der Entscheidung des Bundesgerichtshofs nicht entnehmen.

(2) Die Klage muss im Anwendungsbereich von § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO nicht zumindest auch gegen den Emittenten, den Anbieter oder die Zielgesellschaft gerichtet werden.

(a) Nach dem Wortlaut von § 32b Abs. 1 Halbsatz 2 ZPO in der seit 01.12.2012 geltenden Fassung, der sich auch auf § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO bezieht, ist der besondere Gerichtsstand zwar nur begründet, wenn die Klage auch gegen den Emittenten, den Anbieter oder die Zielgesellschaft gerichtet ist.

(b) Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift müssen die einschränkenden Voraussetzungen von § 32b Abs. 1 Halbsatz 2 ZPO allerdings nur bei § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO, nicht aber auch bei dem vorliegend einschlägigen § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sein (BGH, Beschluss vom 30.07.2013 – X ARZ 320/13 Rn. 19 – 29). Die Neuregelung dient dem Zweck, Klagen gegen Anlageberater und Anlagevermittler in den Anwendungsbereich der Vorschrift einzubeziehen (§ 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO), die damit einhergehende Erweiterung des Anwendungsbereichs aber gewissen Beschränkungen zu unterwerfen. Dass diese Beschränkungen auch die in der früheren Fassung aufgeführten Tatbestände betreffen sollen (wie § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO) – mit dem Ergebnis, dass der Anwendungsbereich der Norm insoweit erstmals eingeschränkt werden würde – lässt sich weder den Gesetzesmaterialien noch sonstigen Umständen entnehmen (BGH, a.a.o. Rn. 26, juris). Vielmehr ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte und der in den Gesetzesmaterialien dokumentierten Zielsetzung der Vorschrift hinreichend deutlich, dass die ihrem Wortlaut nach weitergehende Einschränkung in § 32b Abs. 1 Halbsatz 2 ZPO im dargelegten Sinne auszulegen ist (BGH, a.a.O. Rn. 28, juris; so auch OLG NürnbergBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Nürnberg
– 15 U 3220/20, Hinweisbeschluss vom 24.11.2020 und Beschluss vom 21.12.2020, bislang unveröffentlicht).

III.

Die Voraussetzungen einer Vorlage der Sache an den Bundesgerichtshof gemäß § 36 Abs. 3 ZPO liegen nicht vor. § 36 Abs. 3 ZPO eröffnet allein im Falle einer Divergenz eine Vorlage an den Bundesgerichtshof. Vorzulegen hat das Oberlandesgericht, wenn es im Anwendungsbereich des § 36 Abs. 1 ZPO von der Auffassung eines anderen Oberlandesgerichts (auch: eines anderen Senats desselben Oberlandesgerichts) oder des Bundesgerichtshofs abweichen will. Der Senat weicht aber – wie dargelegt – nicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ab. In der Bejahung eines gemeinsamen besonderen ausschließlichen Gerichtsstands gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegt auch keine Abweichung von dem Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 11.03.2016 – 6 AR 13/16 – vor. Diese Entscheidung bezieht sich ausdrücklich auf die Vorschrift des § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO. Insoweit sind aber, wie der Bundesgerichtshof dargelegt hat (BGH, Beschluss vom 30.07.2013 – X ARZ 320/13 Rn. 19 – 29), die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des ausschließlichen Gerichtsstandes des § 32b ZPO andere.

Löffler I www.K1.de I www.gesellschaftsrechtskanzlei.com I Gesellschaftsrecht I Bestätigungsvermerk I Abschlussprüfer I Erfurt I Thüringen I Sachsen I Sachsen-Anhalt I Hessen I Deutschland 2022

Schlagworte: Abschlussprüfer, Bestätigungsvermerk

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OLG Stuttgart, Urteil vom 18.02.2021 – 7 U 351/20

Donnerstag, 18. Februar 2021

BGB §§ 305c, 307

Der für das private Versicherungsrecht zuständige 7. Zivilsenat unter dem Vorsitz des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Norbert Taxis hat am 18. Februar 2021 zwei Entscheidungen über Ansprüche von Gastronomen getroffen, die ihren Betrieb aufgrund der im März 2020 erlassenen Corona-Verordnung des Landes Baden-Württemberg schließen mussten.

Die Kläger, deren Klagen bei den angerufenen Landgerichten nicht erfolgreich waren, haben bei unterschiedlichen Versicherungsgesellschaften Verträge über eine sogenannte Betriebsschließungsversicherung abgeschlossen.

In einem Verfahren (7 U 351/20) liegen dem Vertrag Versicherungsbedingungen zugrunde, nach denen der Versicherer u.a. Entschädigung leistet, wenn die zuständige Behörde aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstätte zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen schließt. Dabei ist weiter bestimmt, dass meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger „die folgenden, im Infektionsgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger“ sind. Es schließt sich eine Aufzählung an, in der zahlreiche Krankheiten bzw. Krankheitserreger genannt sind, aufgeführt sind aber weder die „Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)“ noch das „Corona-Virus“, die mit Geltung ab dem 23. Mai 2020 im Infektionsschutzgesetz aufgeführt sind.

Im zweiten Verfahren (7 U 335/20) ist in den Versicherungsbedingungen bestimmt, dass der Versicherer für den Fall, dass die zuständige Behörde aufgrund von Gesetzen zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen im Einzelnen aufgeführte Maßnahmen, zu denen auch eine Betriebsschließung zählt, ergriffen hat, eine Entschädigungsleistung erbringt. Weiter heißt es im Vertrag: „Meldepflichtige Krankheiten oder meldepflichtige Krankheitserreger im Sinne dieses Vertrages sind nur die im Folgenden aufgeführten“; daran schließt sich wiederum eine umfangreiche Aufzählung an, die die Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) oder das „Corona-Virus“ ebenfalls nicht umfasst.

Der 7. Zivilsenat hat entschieden, dass infolge der fehlenden Berücksichtigung in der Aufzählung eine Betriebsschließung aufgrund der Corona-Pandemie nicht dem Versicherungsschutz unterfalle. Die Versicherungsbedingungen enthielten jeweils abgeschlossene und nicht erweiterbare Kataloge, sie könnten nicht im Sinne einer dynamischen Verweisung auf die jeweils geltenden Regelungen des Infektionsschutzgesetzes verstanden werden. Die vertraglichen Regelungen seien für einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer einer für Gewerbetreibende angebotenen Betriebsschließungsversicherung nicht überraschend und nicht intransparent; sie hielten auch ansonsten einer Inhaltskontrolle stand.

Im Verfahren 7 U 351/20 hat der 7. Zivilsenat die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen, im Verfahren 7 U 335/20 hingegen nicht.

Löffler I www.K1.de I www.gesellschaftsrechtskanzlei.com I Gesellschaftsrecht I Betriebsschließungsversicherung I Coroan I Erfurt I Thüringen I Sachsen I Sachsen-Anhalt I Hessen I Deutschland 2022

Schlagworte: Corona, COVID-19-Pandemie, Covid19, SARS-CoV-2

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LG Stuttgart, Urteil vom 19.01.2021 – 31 O 54/20 KfH Commercial Court

Dienstag, 19. Januar 2021

Abberufung Geschäftsführer KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Geschäftsführer
Geschäftsführer Kündigung
Kündigung
Anstellungsvertrag Kompetenzüberschreitung

Tenor

1.

Der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020 mit dem Wortlaut:

,,Prüfung und Geltendmachung von Ansprüchen, insbesondere Schadensersatzansprüche gegen Herrn A in seiner Funktion als Geschäftsführer unter allen erdenklichen Gesichtspunkten, insbesondere wegen des Verstoßes gegen die obliegenden Verpflichtungen aus dem Geschäftsführeranstellungsvertrag, dem Gesellschaftsvertrag (Geschäftsordnung), seiner gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten
und dem Wettbewerbsverbot“ wird für nichtig erklärt.

2.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.

Der Kläger A. trägt 90%, die Beklagte 10% der Kosten des Rechtsstreits.

4.

Das Urteil ist für den Kläger A. wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung des Klägers A. durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger A. vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Für die Beklagte ist das Urteil gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger A. wendet sich mit der Klage im vorliegenden Verfahren (31 0 54/20 KfH) insbesondere gegen Gesellschafterbeschlüsse der Beklagten vom 03. Juli 2020 und die Beendigung seines Geschäftsführer-Anstellungsvertrages. Dem Verfahren ging ein einstweiliges Verfügungsverfahren voraus (31 0 43/20 KfH). Beschlüsse einer weiteren Gesellschafterversammlung vom 31. Juli 2020 sind Gegenstand eines weiteren Verfahrens (31 0 62/20 KfH).

Der Kläger A. und sein Bruder, Herr F., sind zu je 50% an der Beklagten, einer Gesellschaft mit beschränkter HaftungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Gesellschaft
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Haftung
mit Sitz in Herrenberg beteiligt, deren satzungsmäßiger Unternehmensgegenstand der Handel mit Reifen und artverwandten Produkten ist. Das Stammkapital beträgt 102.400 EUR (BI. 6 d.A.; Anl. K 1 ). Das Betriebsgrundstück hat die
Gesellschaft zur Hälfte von einer BGB-Gesellschaft, bestehend aus den beiden Brüdern, gepachtet (BI. 6, 51 d.A.), im Übrigen von deren Mutter angemietet (Anl. K 17, K 18).

Nach § 8 Abs. 2 des Gesellschaftsvertrags sind Gesellschafterversammlungen schriftlich durch einen Geschäftsführer unter Angabe der Tagesordnung einzuberufen. Nach § 9 Abs. 7 des Gesellschaftsvertrags sollen Gesellschafterbeschlüsse schriftlich niedergelegt und durch den anwesenden Geschäftsführer sowie einen durch Gesellschafterbeschluss bestimmten Gesellschafter
unterzeichnet werden (Anl. K 4 ). Davon wurde bei den streitgegenständlichen Beschlüssen abgewichen (BI. 85 d.A.). Nach § 9 Abs. 10 des Gesellschaftsvertrags können Gesellschafterbeschlüsse nur innerhalb Monatsfrist angefochten werden (Anl. K 4 ).

§ 6 Abs. 6 des Gesellschaftsvertrags sieht Zustimmungsvorbehalte der Gesellschafterversammlung für bestimmte Geschäfte vor. Unter anderem bedarf die „Einstellung und Entlassung von Arbeitnehmern, deren jährliche Brutto-Gesamtvergütung den Betrag von EUR 35.000 EUR übersteigt“, gem. § 6 Abs. 6 lit. i der vorherigen Zustimmung (Anl. K 4).

Seit 2015 gab es Streitigkeiten zwischen den Gesellschaftern, die damals noch beide Geschäftsführer waren. 2018 schied Herr F. als Geschäftsführer aus, nachdem sich die beiden Brüder nicht über das von Herrn F. erarbeitete Sanierungskonzept einigen konnten (BI. 6, 51, 134ff. d.A.).

Nach mehreren auf § 51a GmbHG gestützten Auskunftsbegehren des Herrn F. (Anl. B 1, B 2, B 3) verlangte dieser am 22. Juli 2019 die Einberufung einer Gesellschafterversammlung, die u.a. die Abberufung seines Bruders zum Gegenstand haben sollte (Anl. B 4). Im Zuge von Verhandlungen versuchten die Gesellschafter im Laufe des Jahres 2019, eine einvernehmliche
Verständigung herbeizuführen (BI. 54 d.A.). Die Gesellschaft war nach den Angaben des Herrn A. in ihrer Existenz bedroht und litt unter erheblichen Liquiditätsproblemen (BI. 53 d.A.), insbesondere bestanden in einem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 03. Juni 2019 titulierte Pachtverbindlichkeiten in Höhe von über 12.000 EUR für die Monate Juni und Juli 2018 gegenüber der bereits erwähnten BGB-Gesellschaft (Beiakte 11 0 173/18 LG Stuttgart). Nach Erfassung der Verbindlichkeit in der Buchhaltung war die Situation aus der betriebswirtschaftlichen
Auswertung vom August 2019 ersichtlich (Anl. B 6). Gerichtlich titulierte Mietrückstände bestanden auch gegenüber der Mutter der beiden Brüder (BI. 51 d.A.). Weil eine gerichtliche Auseinandersetzung über die Abberufung seines Bruders Verunsicherungen u.a. bei den Banken hätte
auslösen können, sah Herr F. zunächst davon ab, die Geschäftsführerabberufung weiter zu betreiben, machte aber deutlich, dass das nicht als Billigung des Verhaltens des Geschäftsführers anzusehen sei (BI. 55 d.A.; Anl. B 9). Die beiden Gesellschafter verständigten sich
bei einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung am 05. September 2019 auf eine Vertagung auf den 20. September 2019 mit dem Ziel einer einvernehmlichen Auseinandersetzung (Anl. B 7), die dann aber nicht zustande kam.

Mit Schreiben vom 16. Dezember 2019 stellte Herr F. erneut Fragen, u.a. zum Anstellungsverhältnis zwischen der Gesellschaft und Frau C., der Tochter des Herrn A. (Anl. B 9), und erinnerte am 28. Januar 2020 unter Fristsetzung bis 07. Februar 2020 an die Beantwortung dieser Fragen (Anl. B 10). Ergänzende Auskünfte verlangte er am 29. Januar 2020, u.a. zu den Kosten, die der Gesellschaft bei den bereits abgeschlossenen und noch
laufenden mietrechtlichen Auseinandersetzungen um Pachtzahlungen für das Firmengelände entstanden waren (Anl. B 11 ). Herr A. antwortete am 01. Februar 2020, er könne insoweit das Bestehen eines Auskunftsanspruchs nicht erkennen und wolle keine Auskunft erteilen
(Anl. B 12). Mit Schreiben vom 02. März 2020 forderte Herr F. – erfolglos – die Einberufung einer Gesellschafterversammlung mit dem Ziel einer Sonderprüfung (Anl. B 13), deren Gegenstand u.a. Geld- und Sachleistungen an Frau C. im Rahmen ihres Anstellungsvertrages und die dazu von Herrn A. erteilten Auskünfte sein sollten. Schließlich berief er selbst auf den 05. Mai 2020 eine Gesellschafterversammlung ein (Anl. B 14), zu der Herr A. nicht erschien, worauf eine neue Gesellschafterversammlung auf den 14. Mai 2020 einberufen wurde, die in den Räumen der Gesellschaft stattfinden sollte. Am 13. Mai 2020 untersagte Herr A. den Zutritt zum Betriebsgelände und begründete das mit geltenden Corona-
Verordnungen (Anl. B 15), worauf der anwaltliche Bevollmächtigte des Herrn F., Rechtsanwalt K., in einem Schreiben vom 14. Mai 2020 noch darauf hinwies, dass die Corona-Verordnung Ansammlungen von bis zu 5 Personen erlaube und die Gesellschafterversammlung daher auf dem Betriebsgrundstück stattfinden könne (Anl. B 17). Als Herr F. mit seinem Anwalt am 14. Mai 2020 zur Gesellschafterversammlung erschienen, drohte Herr A. mit der Polizei. Er verweigerte die teilnahme an der anschließend im Freien abgehaltenen Gesellschafterversammlung (Anl. B 18).

Am 28. Mai 2020 forderte der anwaltliche Bevollmächtigte des Herrn F. den Geschäftsführer zur Einberufung einer Gesellschafterversammlung auf und nannte als Tagesordnungspunkte u.a. dessen Abberufung und die Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des Geschäftsführer-Anstellungsvertrags sowie die Bestellung des Herrn F. zum Geschäftsführer (Anl. B 19).
Daraufhin lud Herr A. zur Gesellschafterversammlung am 03. Juli 2020 in den Geschäftsräumen der Gesellschaft (BI. 8, 59 d.A.), wobei der genaue Inhalt des tatsächlich versandten Einladungsschreibens streitig ist (vgl. zum Vorbehalt des Klägers A. BI. 9 d.A.; Anl. K 6; BI. 69 d.A.).

Im Januar und Februar 2020 hatten die Gesellschafter noch über die beiderseits mandatierten Anwälte miteinander korrespondiert (BI. 55 d.A.; Anl. B 10 und B 11 ). Rechtsanwalt Z. teilte Rechtsanwalt K. jedoch am 17. Februar 2020 mit, dass sein Mandatsverhältnis beendet worden sei (BI. 56 d.A.). Am 03. Juli 2020, dem Tag der streitgegenständlichen Gesellschafterversammlung, bestand tatsächlich keine Mandatsbeziehung zwischen Rechtsanwalt Z. und dem Kläger A. (BI. 138 d.A.). Am 07. Juli 2020 teilte Rechtsanwalt Z. bei einem Telefonat Rechtsanwalt K. mit, dass er den Kläger A. vertrete (BI. 13 d.A.; vgl. Anl. K 10).

Der Kläger A. bestreitet nicht, am 03. Juli 2020 zur Versammlung erschienen und jedenfalls zu Beginn an ihr teilgenommen zu haben (BI. 18 d.A.). Jedenfalls bei der Abstimmung zu TOP 1 (Abberufung) war er im Raum anwesend und stimmte mit „Nein“ (BI. 18, 20; Anl. K 9). Der genaue Ablauf
zu Beginn der am 03. Juli 2020 abgehaltenen Gesellschafterversammlung, in der Herr F. für die streitgegenständlichen Beschlüsse stimmte, ist streitig, ebenso, wie sich der Geschäftsführer im Einzelnen weiter verhielt. Jedenfalls nahm Herr F. in Begleitung von Rechtsanwalt K. daran teil. Letzterer verfasste und unterzeichnete ein Protokoll, das er
Herrn A. mit Schreiben vom 06. Juli 2020 übersandte (Anl. K 9).

In dem Protokoll hielt Rechtsanwalt K. zu TOP 1 – Abberufung des Klägers A.- fest, dass die Stimmabgabe des Klägers A. wegen Stimmverbots unwirksam sei und der Abberufungsbeschluss aus wichtigem Grund mit den Stimmen des Herrn F. einstimmig gefasst worden sei.
Zu TOP 2 – Kündigung des Anstellungsvertrags mit sofortiger Wirkung – dokumentierte er, der Beschlussantrag sei mit den Stimmen des Herrn F. einstimmig gefasst worden (der Kläger A. hatte sich an dieser Abstimmung und den weiteren nicht mehr beteiligt). Zu TOP 3 – Bestellung
des Herrn F. zum Geschäftsführer – hielt er fest, dieser sei wirksam und mit seinen eigenen Stimmen zum einzelvertretungsberechtigten und von § 181 BGB befreiten Geschäftsführer
bestellt worden. Zu den weiteren laut Protokoll gefassten Beschlüssen und wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll (Anl. K 14) verwiesen.

Mit Schreiben vom 16. Juli 2020, dem Kläger A. am 17. Juli 2020 zugegangen (BI. 16 d.A.), übermittelte die Beklagte (A-GmbH) ihm das Protokoll und erklärte die außerordentliche und Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des
Geschäftsführer-Anstellungsvertrages (Anl. K 14).

Nach der streitgegenständlichen Gesellschafterversammlung kam es am 31. Juli 2020 zu einer weiteren Gesellschafterversammlung, an der beiden Brüder teilnahmen. Die dort gefassten Beschlüsse sind Gegenstand des ebenfalls beim Landgericht Stuttgart anhängigen Verfahrens
31 0 62/20 KfH.

Der Kläger A.

bestreitet, dass in der von ihm selbst verschickten Einberufung der GesellschafterversammlungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Einberufung
Einberufung der Gesellschafterversammlung
Gesellschafterversammlung
am 03. Juli 2020 der Satz enthalten gewesen sei, dass diese Einberufung auf das Verlangen des Herrn F. zurückgehe (BI. 105 d.A.). Es fehle – auch mit Blick auf § 8 Abs. 2 Satz 1 des Gesellschaftsvertrags – an einer ordnungsgemäßen Ankündigung der Tagesordnungsgegenstände
gem. § 51 Abs. 4 GmbHG (BI. 18, 137 d.A.). Die Begleitung durch Rechtsanwalt K. sei unzulässig gewesen, das Gebot der Waffengleichheit nicht gewahrt gewesen (BI. 19 d.A.), und Rechtsanwalt K. habe sich selbst zum Versammlungsleiter emporgeschwungen und nicht die Kompetenz zur Beschlussfeststellung gehabt (BI. 20 d.A.). Er meint außerdem, die Beschlussfähigkeit sei nach Verlassen des Versammlungsraums und der Erklärung, nicht mehr an der Gesellschafterversammlung teilnehmen zu wollen, entfallen (BI. 20 d.A.). Im Übrigen liege kein wichtiger Grund für die Abberufung und die Beendigung des Geschäftsführer-Anstellungsvertrages
vor. Hilfsweise bestreite er die vorgetragenen Sachverhalte (BI. 21 d.A.). Was sein Mitgesellschafter präsentiere, sei im Übrigen „kalter Kaffee“ (BI. 10, 11 d.A.; vgl. auch Anl. K 7). Überdies seien die Gründe gem. § 626 Abs. 2 BGB verfristet (BI. 21 d.A.). Der Beschluss über die Prüfung und Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen ihn sei zu ungenau und deshalb unwirksam (BI. 21 f. d.A.).

Der Kläger meint, nach den Gesellschafterbeschlüssen vom 31. Juli 2020 sei nicht ersichtlich, welches Interesse der Bruder des Klägers A. an einer Wirksamkeit der von ihm am 03. Juli 2020 festgestellten Gesellschafterbeschlüsse noch haben könne. Er müsse die vorliegende Klage schlicht anerkennen und sich auf das Parallelverfahren konzentrieren (BI. 136 d.A.).

Im Schriftsatz vom 06. November 2020 rügt der Kläger A. ergänzend einen Verstoß von Rechtsanwalt K. gegen das berufsrechtliche Umgehungsverbot des § 12 BORA, das in diesem Moment von ihm verlangt habe, entweder die Versammlung nicht durchzuführen oder nicht an ihr teilzunehmen (BI. 139 d.A.).

Der Kläger beantragt (BI. 176, 2 ff. d.A.):

1.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020 mit dem Wortlaut „Herr A. … wird als Geschäftsführer der A-GmbH mit sofortiger Wirkung aus wichtigem Grund abberufen.“ nichtig ist.

Hilfsweise zu Ziff. 1:

1.a. Der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020 mit dem Wortlaut „Herr A … wird als Geschäftsführer der A-GmbH mit sofortiger Wirkung aus wichtigem Grund abberufen.“ wird für nichtig erklärt.

2.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020 mit dem Wortlaut „Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des Geschäftsführer-Anstellungsvertrages zwischen der A-GmbH und Herrn A. aus wichtigem Grund – hilfsweise ordentliche Kündigung des Geschäftsführer-Anstellungsvertrages“ nichtig ist.

Hilfsweise zu Ziff. 3 (Anmerkung des Gerichts: gemeint ist wohl „hilfsweise zu Ziff. 2’J:

3a. Der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020 mit dem Wortlaut „Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des Geschäftsführer-Anstellungsvertrages zwischen der A-GmbH und Herrn A. aus wichtigem Grund – hilfsweise ordentliche Kündigung des Geschäftsführer-Anstellungsvertrages“ wird für nichtig erklärt.

4.

Es wird festgestellt, dass der Geschäftsführeranstellungsvertrag zwischen dem Kläger und der Beklagten durch die außerordentliche Kündigung vom 16.07.2020, zugestellt am 17.07.2020, nicht aufgelöst worden ist.

5.

Es wird festgestellt, dass der Geschäftsführeranstellungsvertrag zwischen dem Kläger und der Beklagten auch nicht durch einen anderen Beendigungstatbestand endet, sondern zu unveränderten
Bedingungen über den 16.07.2020 hinaus fortbesteht.

6.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020, durch welchen Herr F. zum einzelvertretungsberechtigten und von den Beschränkungen des§ 181 BGB befreiten Geschäftsführer der A-GmbH bestellt wird, nichtig ist.

Hilfsweise zu Ziff. 6:

6.a. Der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020, welcher den Herrn F. zum einzelvertretungsberechtigten und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreiten Geschäftsführer der A-GmbH bestellt, wird für nichtig erklärt.

7.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020 mit dem Wortlaut „Prüfung Geltendmachung von Ansprüchen, insbesondere Schadensersatzansprüche gegen und Herrn A. in seiner Funktion als Geschäftsführer unter allen erdenklichen Gesichtspunkten, insbesondere wegen des Versto ßes gegen die obliegenden Verpflichtungen aus dem Geschäftsführeranstellungsvertrag, dem Gesellschaftsvertrag (Geschäftsordnung), seiner gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten und dem Wettbewerbsverbot“ nichtig ist.

Hilfsweise zu Ziff. 7:

7.a. Der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020, mit dem Wortlaut: ,,Prüfung und Geltendmachung von Ansprüchen, insbesondere Schadensersatzansprüche gegen Herrn A. in seiner Funktion als Geschäftsführer unter allen erdenklichen Gesichtspunkten, insbesondere wegen des Verstoßes gegen die obliegenden Verpflichtungen aus dem Geschäftsführeranstellungsvertrag, dem Gesellschaftsvertrag (Geschäftsordnung), seiner gesellschaftsrechtlichen Treuepflichten und dem Wettbewerbsverbot“ wird für nichtig erklärt.

8.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020, welcher den Herrn F. ermächtigt, zur Umsetzung sämtlicher gefasster Beschlüsse die notwendigen Maßnahmen im Namen der A-GmbH durchzuführen, nichtig ist.

Hilfsweise zu Ziff. 8:

8.a. Der Beschluss der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 03.07.2020, welcher den Herrn F. ermächtigt, zur Umsetzung sämtlicher gefasster Beschlüsse die notwendigen Maßnahmen im Namen der A-GmbH durchzuführen, wird für nichtig erklärt.

Die Beklagte beantragt (BI. 176 d.A.),

die Klage abzuweisen.

Sie trägt vor,
das vom Kläger A. als Anl. K 6 vorgelegte angebliche Einladungsschreiben zur Gesellschafterversammlung sei nicht identisch mit demjenigen, das Herr F. tatsächlich bekommen habe. In der Einladung sei auf sein Einberufungsverlangen Bezug genommen worden. Der behauptete
Ankündigungsmangel liege also nicht vor (BI. 69 d.A.), im Übrigen verstoße der Kläger gegen das Konterkarierungsverbot. Die Begleitung durch einen Rechtsanwalt sei schon wegen der besonderen Schwierigkeiten der gemäß Tagesordnung zur Beschlussfassung anstehenden Punkte gerechtfertigt und stelle zudem mangels Relevanz für das Beschlussergebnis keinen Anfechtungsgrund dar (BI. 73 ff. d.A.). Der Kläger habe im Vorfeld der Versammlung angekündigt, dass er sich anwaltlich beraten lassen wird (BI. 183 d.A.). Zu Beginn der Gesellschafterversammlung habe er mitgeteilt, sein anwaltlicher Bevollmächtigter Rechtsanwalt Z. werde zwar nicht
kommen, sei aber für ihn jederzeit telefonisch erreichbar (BI. 59, 75, 188 d.A.). Rechtsanwalt K. habe zu Beginn der Versammlung beide Gesellschafter gefragt, ob sie damit einverstanden
seien, wenn er der Versammlungsleiter wird, worauf der Kläger seine Arme zu einer gönnerhaften Geste weit ausgebreitet und „ja“ gesagt habe. Der wahl zum Protokollführer hätten beide Gesellschafter zugestimmt (BI. 80 d.A.). Erst nach der Abstimmung zu TOP 1 (Abberufung) habe der Kläger mitgeteilt, dass er an der Versammlung nicht weiter teilnehmen werde (BI. 77 d.A.), was aber nach Auffassung der Beklagten nicht zur Beschlussunfähigkeit der Gesellschafterversammlung für die TOP 2 bis 6 geführt habe (BI. 80 d.A.).

Insbesondere in der Verletzung von Auskunfts- und Informationspflichten des Klägers als Geschäftsführer und in den Verstößen gegen die gesellschaftsvertragliche Kompetenzordnung bei
den Anstellungsverhältnissen der Frau C. und des Herrn X., in der
unterlassenen Einberufung der GesellschafterversammlungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Einberufung
Einberufung der Gesellschafterversammlung
Gesellschafterversammlung
trotz Verbrauch des hälftigen Stammkapitals, in der Einstellung von Zahlung von Miete und Pacht, in der unterbliebenen Vorlage von Jahresabschlüssen 2017 und 2018 und in der unterbliebenen Einberufung einer Gesellschafterversammlung nach dem Verlangen des Herrn F. vom 02. März 2020 und der Verhinderung von Gesellschafterversammlungen sieht die Beklagte (A-GmbH) wichtige Gründe, die die mit den
Stimmen des Herrn F. beschlossene Abberufung des Klägers A. als Geschäftsführer am 03. Juli 2020 rechtfertigten (BI. 89 ff. d.A.).

Die Abweichung bei der Protokollierung von § 9 Abs. 7 des Gesellschaftsvertrages berechtige nicht zur Anfechtung (BI. 197 d.A.). Prozessual habe der Kläger F. die falsche Klageart gewählt,
wenn man von seinem allerdings unzutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Standpunkt ausgehe, also annehme, dass es nicht zur wahl eines mit Beschlussfeststellungskompetenz ausgestatteten Versammlungsleiters gekommen sei. Dann hätte er richtigerweise allgemeine Feststellungsklage erheben müssen (BI. 63 ff. d.A.).

Der neue, im Schriftsatz des Klägers vom 06. November 2020 enthaltene, mit § 12 BORA begründete Einwand sei nicht geeignet, die Anfechtbarkeit der Gesellschafterbeschlüsse zu begründen (BI. 186 d.A.).

Im nachgelassenen Schriftsatz vom 15. Dezember 2020 nennt die Beklagte weitere wichtige Gründe für die AbberufungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Abberufung
Gründe
Gründe für die Abberufung
und Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des Geschäftsführer-Anstellungsvertrags (BI. 218 ff. d.A.).

Der Kläger bestreitet die ihm zugeschriebene Erklärung zu Beginn der Gesellschafterversammlung,
sein Anwalt sei jederzeit telefonisch erreichbar (BI. 138 d.A.).

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung am 17. November 2020 zeitintensive Vergleichsverhandlungen mit den Parteien geführt und nach deren Scheitern im Termin Rechtsanwalt K. als Zeugen vernommen und die Parteien angehört (BI. 163 ff. d.A.). Die nach dem Termin von den Parteivertretern außergerichtlich geführten weiteren Verhandlungen brachten trotz verlängerter Mitteilungsfrist kein positives Ergebnis (BI. 177, 223 ff. d.A.).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie die gerichtlichen Verfügungen und das
Protokoll zur mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, aber überwiegend unbegründet.

Die Klage ist zulässig, aber überwiegend unbegründet.

I.

Beschluss zu TOP 1 (Abberufung) – Klagantrag Ziff. 1 nebst Hilfsantrag

1.
Die gegen den protokollierten Gesellschafterbeschluss vom 03. Juli 2020 zu TOP 1 erhobene Nichtigkeits(feststellungs-)klage und die hilfsweise erhobene Anfechtungsklage sind statthaft.

Zwar beruft sich der Kläger auf die vermeintlich fehlende Beschlussfeststellungskompetenz von Rechtsanwalt K. (BI. 20 d.A.), was nach Auffassung der Beklagten dazu führt, dass der Kläger allgemeine Feststellungsklage hätte erheben müssen (BI. 63 ff. d.A.). Der BGH hat dazu ursprünglich die Auffassung vertreten, selbst bei Verkündung eines Beschlusses durch einen (nicht mit Beschlussfeststellungskompetenz ausgestatteten) Versammlungsleiter sei die Anfechtungsklage (analog § 246 AktG) nicht eröffnet und es komme unabhängig von dessen Meinung bei der Beschlussverkündung auf das richtige Ergebnis nach den gültig abgegebenen Stimmen an, und bei tatsächlich fehlender Annahme des Beschlusses mit hinreichender Zahl gültiger Stimmen könne das Nichtzustandekommen des Beschlusses allein durch (nicht fristgebundene) Feststellungsklage geklärt werden (BGH, Urteil vom 28. Januar 1980 – II ZR 84/79 -, BGHZ 76, 154-160, Rn. 14). Hiervon ist der BGH jedoch später teilweise wieder abgerückt (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 1988 – II ZR 308/87 -, BGHZ 104, 66-75, Rn. 7 m.w.N.). Im Zusammenhang mit der prozessualen Diskussion über die Abwahl des Versammlungsleiters einer GmbH hat der BGH bereits 2010 entschieden, dass „die Gesellschafter die Wirksamkeit der von dem Versammlungsleiter festgestellten Beschlüsse mit der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage nachprüfen lassen“ können – ohne dabei explizit zu differenzieren, ob der Versammlungsleiter Beschlussfeststellungskompetenz hatte (BGH, Urteil vom 21. Juni 2010 – II ZR 230/08 -, Rn. 18, juris). Eine weitere Entscheidung des BGH vom 24. März 2016 kann dahingehend verstanden werden, die „förmliche“ Beschluss- bzw. Ergebnisfeststellung durch einen Versammlungsleiter eröffne bei der GmbH stets den Weg der Anfechtungsklage (dort ohne weitere Differenzierung hinsichtlich der Beschlussfeststellungskompetenz des Versammlungsleiters). Dasselbe gelte, wenn der Gesellschaftsvertrag – wie hier § 9 Abs. 7 des Gesellschaftsvertrags – Vorgaben zur Protokollierung von Gesellschafterbeschlüssen etwa durch einen Geschäftsführer mit Übersendung an alle Gesellschafter enthält und wenn – wie hier nicht – diese gesellschaftsvertraglichen Regelungen zur Protokollierung eingehalten sind (BGH, Beschluss vom 24. März 2016- IX ZB 32/15 -, Rn. 32, 33, juris).

Für die Statthaftigkeit der Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage gegen einen vom Versammlungsleiter förmlich festgestellten Beschluss im GmbH-Recht und gegen die Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung danach, ob der Versammlungsleiter auch mit Beschlussfeststellungskompetenz ausgestattet wurde, spricht der dadurch erreichte Gleichklang mit aktienrechtlichen Entscheidungen (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 1988 – II ZR 308/98; Kubis, in Müko AktG, 4. Aufl. 2018, § 130 AktG Rn. 62): Haben die Gesellschafter einen Versammlungsleiter bestimmt, so entsteht der Anschein der Beschlussfassung durch die Protokollierung des Gesellschafterbeschlusses und durch die Übermittlung des Protokolls an die Gesellschafter, unabhängig davon, ob die Gesellschafter den Protokollierenden tatsächlich mit Beschlussfeststellungskompetenz ausgestattet haben oder in ihm lediglich einen „Moderator“ gesehen haben. Die Antwort auf die prozessuale Frage nach der richtigen Klageart sollte bei vorliegender „förmlicher Beschlussfeststellung“ durch einen Versammlungsleiter nicht mit unnötigen Unsicherheiten belastet werden (so auch OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, Urteil vom 12. Januar 2017 – 23 U 1994/16 -, Rn. 37, juris). Ohnedies liegt die Beschlussfeststellungskompetenz bereits in der Natur der Versammlungsleitung (MüKoGmbHG/Liebscher, 3. Aufl. 2019, GmbHG § 48 Rn. 107b), weshalb mit der wahl der Versammlungsleitung eine weitere Abstimmung über dessen Kompetenzen bei der Beschlussfeststellung überflüssig erscheint.

Zudem hat das OLG Stuttgart in einer Entscheidung 2012 angedeutet, dass für das Vorliegen einer „förmlichen Beschlussfeststellung“ als Voraussetzung für eine Anfechtungsklage „schon die
Aufnahme in das inhaltlich eindeutige Protokoll genügen könnte“ (OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Dezember 2012 – 14 U 10/12 -, Rn. 25, juris unter Hinweis auf BGH, NJW-RR 2008, 706 – Tz. 24 f. sowie Stephan/Tieves, in: MüKo-GmbHG, 1. Aufl.,§ 38 Rn. 120).

Die aufgeworfene Rechtsfrage der statthaften Klageart bei nach klägerischem Vortrag fehlender Beschlussfeststellungskompetenz des Versammlungsleiters bedarf jedoch im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Denn die Frage der Beschlussfeststellungskompetenz betrifft eine doppelrelevante Tatsache. Nach der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass Rechtsanwalt K. bei der Gesellschafterversammlung am 03. Juli 2020 kraft einvernehmlicher Entscheidung beider Gesellschafter als mit Beschlussfeststellungskompetenz ausgestatteter Versammlungsleiter tätig war. Die von ihm protokollierten Beschlüsse entfalten auch nach der
Auffassung, die eine Anfechtungsklage nur bei gegebener Beschlussfeststellungskompetenz für statthaft hält, somit „vorläufige Wirksamkeit“.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht davon überzeugt, dass Herr A. auf die in der Gesellschafterversammlung am 03. Juli 2020 gestellte Frage nach seinem Einverständnis mit der Übernahme der Versammlungsleitung durch Rechtsanwalt K. mit einer „großzügigen Geste“ und mit „ja“ geantwortet hat, und dass er auf die weitere Frage nach
dem Einverständnis mit der Protokollführung durch Rechtsanwalt K. mit den Worten „von mir aus“ geantwortet hat (BI. 166 d.A.). Auch Herr F. hat sich damit einverstanden erklärt.

Es überrascht nicht, dass die Parteien den Geschehensablauf zu Beginn der Gesellschafterversammlung heute unterschiedlich darstellen. Auch Herr A. hat allerdings bei der Parteianhörung erklärt, dass ihm eine zumindest rhetorische Frage zur Versammlungsleitung gestellt worden sei (BI. 167 d.A.). Umso größeres Gewicht kommt der Vernehmung von Rechtsanwalt
K. als Zeuge zu, der Herrn F. zu der Gesellschafterversammlung am 03. Juli
2020 begleitet und von einer „händeöffnenden Geste“ nach offener, nicht nur rhetorischer Frageformulierung gesprochen hat (BI. 167 f. d.A.). Seine Angaben sind glaubhaft. Als Parteivertreter hat er zwar die Verpflichtung, die interessen seiner Mandantschaft zu vertreten. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass jedem Anwalt bewusst ist, dass er als Organ der Rechtspflege im Zivilprozess eine besondere Verantwortung trägt und vollständig und wahrheitsgemäß vorzutragen ist (§ 138 Abs. 1 ZPO). Zu einer Falschaussage als Zeuge und zu strafrechtlich relevantem Falschvortrag in Schriftsätzen berechtigt die Stellung als Parteivertreter nicht (§ 138 Abs. 1 ZPO). Die getätigte Zeugenaussage steht im Einklang mit der schriftsätzlichen Darstellung in der Klagerwiderung, in der Rechtsanwalt K. sich bereits als Zeuge angeboten hatte (BI. 60 d.A.).
Der zweifelhafte Wahrheitsgehalt mancher Angaben, die Herr A. vor dem prozess gemacht hat (dazu noch später), spricht auch gegen seine Sachverhaltsdarstellung in Bezug auf die Frage der einvernehmlichen Bestellung von Rechtsanwalt K. zum Versammlungsleiter und Protokollführer.

Infolge des zur Überzeugung des Gerichts feststehenden Verhaltens der beiden Brüder zu Beginn der Versammlung ist davon auszugehen, dass Rechtsanwalt K. einvernehmlich zum Versammlungsleiter und Protokollführer (mit Beschlussfeststellungskompetenz) bestellt wurde.

2.
Die gegen den Abberufungsbeschluss erhobene, zulässige Nichtigkeitsklage hat jedoch keinen Erfolg. Der Beschluss leidet nicht an zur Nichtigkeit führenden Mängeln. Bei der Überprüfung des Beschlusses sind die Nichtigkeitsgründe des § 241 AktG analog heranzuziehen (MüKoGmbHG,
GmbHG 3. Aufl. nach § 47 Rn. 18 m.w.N.; Karsten Schmidt in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl.§ 45 GmbHG, Rn. 62 m.w.N.).

a.
Ein zur Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit führender Einberufungsmangel (§ 241 Nr. 1 AktG analog), auf den sich der Kläger legitimerweise berufen könnte, kann nicht festgestellt werden. Nach § 8 Abs. 2 des Gesellschaftsvertrags sind Gesellschafterversammlungen schriftlich durch
einen Geschäftsführer unter Angabe der Tagesordnung einzuberufen. Bei nicht ordnungsgemäßer Einberufung können gemäß § 51 Abs. 3 GmbHG Beschlüsse nur gefasst werden, wenn sämtliche Gesellschafter anwesend sind. Beschlüsse über Gegenstände, die nicht mindestens 3
Tage vor der Versammlung ordnungsgemäß angekündigt werden, können nach § 51 Abs. 4 GmbHG nur in einer Vollversammlung gefasst werden. Auch in einer Vollversammlung darf über nicht ordnungsgemäß angekündigte Gegenstände nur abgestimmt werden, wenn kein Gesellschafter widerspricht. Ein Ankündigungsmangel führt aber nur zur Anfechtbarkeit, nicht zur Nichtigkeit der gefassten Beschlüsse (Altmeppen, 10. Aufl. 2021, GmbHG § 51 Rn. 20 MüKoGmbHG/Liebscher, 3. Aufl. 2019, GmbHG § 51 Rn. 38 Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, 22. Aufl. 2019, GmbHG § 51 Rn. 37 m.w.N., auch zur Gegenauffassung des OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
).

aa.
Der auf § 51 Abs. 4 GmbHG gestützte Einwand der fehlenden Bekanntgabe der Tagesordnung (BI. 18, 137 d.A.) beruht auf streitigem Sachvortrag und ist nicht bewiesen. Der Kläger hat selbst als Geschäftsführer auf Verlangen des Herrn F. (Anl. B 19) die Gesellschafterversammlung einberufen und die Einladung verschickt.

Zwar hat der Kläger als Anl. K 6 ein Einladungsschreiben vorgelegt, das weder eine Tagesordnung enthält noch auf das vorausgegangene Einberufungsverlangen seines Bruders (Anl. B 19) Bezug nimmt, jedoch zugleich offengelegt, dass er nicht sicher sei, ob das Schreiben tatsächlich
so herausgegangen ist (BI. 9 d.A.). Die Beklagte hat vorgetragen, dass das als Anl. K 6 vorgelegte Schreiben nicht identisch sei mit dem, das Herr F. tatsächlich bekommen habe und in dem auf das Einberufungsverlangen Bezug genommen worden sei (BI. 69 d.A.). Letzteres hat der Kläger bestritten (BI. 105 d.A.). Das bloße Bestreiten durch den Kläger ist aber unbeachtlich, denn er hatte als Geschäftsführer die Aufgabe, das tatsächlich versandte Einladungsschreiben zu den Geschäftsunterlagen der Gesellschaft zu nehmen. Auf diese Unterlagen hatte er bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung als Geschäftsführer bzw. infolge der im Verfahren
31 0 43/20 KfH getroffenen vorläufigen Regelung weiterhin Zugriff. Er hat auch nicht dargetan, welchen sonstigen Zweck die von ihm einberufene Gesellschafterversammlung gehabt haben soll, wenn es denn nicht um die Tagesordnungspunkte gegangen sein sollte, die im Einberufungsverlangen vom 28. Mai 2020 (Anl. B 19) aufgeführt sind. Einen Beweis für die Richtigkeit seiner Behauptung, in der Einladung habe die von der Beklagten behauptete Bezugnahme auf das Einberufungsverlangen gefehlt, hat der für Einberufungsmängel darlegungs- und beweispflichtige Kläger ohnehin nicht angetreten (BI. 105 d.A.).

bb.
Das Erfordernis der Ankündigung von Beschlussgegenständen einer Gesellschafterversammlung bezweckt, dass sich die Gesellschafter auf die Erörterung und Beschlussfassung vorbereiten können und sie vor einer „Überrumpelung“ geschützt werden (BGH, Urteil vom 25. November
2002 – II ZR 69/01 -, Rn. 23, juris vgl. auch OLG BrandenburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Brandenburg
, Urteil vom 17. Januar 1996- 7 U 104/95 -, Rn. 11, juris). Im vorliegenden Fall war beiden Gesellschaftern das Einberufungsverlangen bekannt, das einzelne Gegenstände der beabsichtigten Abstimmung wie etwa die Geschäftsführerabberufung, die Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des Geschäftsführer-Anstellungsvertrages und die Bestellung eines neuen Geschäftsführers explizit nennt (Anl. B 19). Durch diese Angaben und durch den offensichtlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen Einberufungsverlangen und Einladung zur Gesellschafterversammlung wussten beide Gesellschafter auch ohne (erneute) formale Bekanntgabe in der Einladung zur Gesellschafterversammlung und auch ohne (erneute)
formale Bekanntgabe spätestens drei Tage vor der Versammlung (§ 51 Abs. 4 GmbHG), um welche Tagesordnungspunkte es geht. Dem Zweck des Ankündigungserfordernisses war somit genüge getan (vgl. Seibt in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl.,§ 51 GmbHG, Rn. 21 für wenige strenge Anforderungen bei bekannter Tagesordnung auch MüKoGmbHG/Liebscher, 3. Aufl. 2019, GmbHG § 51 Rn. 40).

cc.
In Bezug auf die Abstimmung zu TOP 1 ist außerdem zu berücksichtigen, dass am 03. Juli 2020 eine Vollversammlung i.S.d. § 51 Abs. 3 GmbHG vorlag. Nach Darstellung des Herrn A. in der mündlichen Verhandlung, wonach alles mit „rasender Geschwindigkeit“ von statten ging (BI. 167 d.A.), und nach dem Protokoll (Anl. K 9), auf das er sich selbst in der Klageschrift bei diesem Punkt bezogen hat (BI. 18 d.A.), gibt es (entgegen der unbewiesenen Darstellung in der Klageschrift) keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er schon der Beschlussfassung zu TOP 1 wegen eines tatsächlichen oder vermeintlichen Mangels der fehlenden Bekanntgabe der Tagesordnung
widersprochen hätte.

Dass er den Versammlungsraum nach der Abstimmung zu TOP 1, an der er sich noch beteiligte, verlassen hat, bringt zweifellos zum Ausdruck, dass ihm der nach der Feststellung des Versammlungsleiters (dazu oben) gefasste Beschluss missfallen hat, aber nicht, dass er generelle
formale Einwände gegen die Beschlussfassung mit Blick auf § 51 Abs. 4 GmbHG oder § 8 Abs. 2 der Satzung erheben wolle. Selbst im Hinblick auf die weiteren Tagesordnungspunkte (dazu noch unten) lässt das Gesamtverhalten des Klägers, auf das bei der Frage eines etwaigen konkludenten Widerspruchs gegen die Beschlussfassung abzustellen wäre (BGH, Urteil vom 30. März 1987 – II ZR 180/86-, BGHZ 100, 264-271, Rn. 18), nicht zwingend die Deutung zu, er wolle sich nun, nach der Abstimmung zu TOP 1, auf einen Einberufungsmangel berufen und widerspreche
gerade deshalb der Beschlussfassung.

Eine erst nach der Abstimmung – in oder sogar erst nach der Gesellschafterversammlung in der Klageschrift – geäußerte formale Rüge der Nichteinhaltung von Einberufungsvorschriften (die hier während der Versammlung schon nicht festgestellt werden kann) wäre überdies nicht geeignet, die Heilungswirkung des § 51 Abs. 3 GmbHG auszuschließen (BGH, Urteil vom 25. November 2002 – 11 ZR 69/01 -, Rn. 23, juris; vgl. BGH, Urteil vom 30. März 1987 – II ZR 180/86 -, BGHZ 100, 264-271, Rn. 17).

Schließlich verhält sich der Kläger prozessual treuwidrig, wenn er sich jetzt auf einen vermeintlichen Einberufungsmangel beruft, den er selbst verursacht hätte, wenn von seinem unbewiesenen Vortrag auszugehen wäre, dass sein Einladungsschreiben weder die Beschlussgegenstände
noch einen Verweis auf das vorausgegangene Einberufungsverlangen enthalten habe, und wenn ihm die Tagesordnung unbekannt gewesen wäre. Als Geschäftsführer war er für die ordnungsgemäße Einladung zur Gesellschafterversammlung verantwortlich und durfte das nach § 50 Abs. 1
GmbHG berechtigte Verlangen seines Mitgesellschafters nicht sabotieren (zum Konterkarierungsverbot MüKoGmbHG/Liebscher, 3. Aufl. 2019, GmbHG § 50 Rn. 28, 29). Das Ankündigungserfordernis schützt denjenigen Gesellschafter, der sich mangels Kenntnis der Tagesordnung nur unzureichend auf die Abstimmung vorbereiten konnte, nicht aber denjenigen, der diese Tagesordnung kennt.

b.
Die Begleitung des Herrn F. durch Rechtsanwalt K. führt entgegen der Auffassung des Klägers (BI. 19 d.A.) weder zur Anfechtbarkeit noch zur Nichtigkeit der gefassten Beschlüsse.

Ungeachtet einer gesellschaftsvertraglichen Regelung, welche die Hinzuziehung von Beratern
durch einen GmbH-Gesellschafter zur Gesellschafterversammlung erlauben oder limitieren kann, besteht die Möglichkeit der Zulassung von Beratern durch Mehrheitsbeschluss (MüKoGmbHG/Liebscher, 3. Aufl. 2019, GmbHG § 48 Rn. 38). Mit der einvernehmlichen Bestellung von Rechtsanwalt K. zum Versammlungsleiter, von der das Gericht aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme überzeugt ist, kam im vorliegenden Fall auch zum Ausdruck, dass Einverständnis mit dessen Anwesenheit bestehe.

Selbst ohne Vorliegen eines Einverständnisses hätte angesichts der schwerwiegenden Punkte auf der Tagesordnung (Anl. B 19: u.a. Geschäftsführerabberufung, Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des Geschäftsführer-Anstellungsvertrags, Neubestellung des Herrn F. zum Geschäftsführer)
bei gleichzeitig fehlender vorausgehender Absprache darüber, wie das Stimmrecht ausgeübt werde, jeder Gesellschafter bei fehlender Sachkunde hier das Recht gehabt, zu den Verhandlungen über die Tagesordnungspunkte einen eigenen Berater hinzuzuziehen. Eine hypothetische wechselseitige Ablehnung der Zustimmung zur Zulassung dieser Berater wäre als Verstoß gegen die gesellschaftsrechtliche Treupflicht zu bewerten und deshalb unbeachtlich gewesen (vgl. OLG
Stuttgart, Beschluss vom 07. März 1997 -20 W 1/97, BeckRS 1997, 10481 Rn. 12, beck-online; OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Dresden
, Urteil vom 25. August 2016 -8 U 347/16 -, Rn. 16, juris; MüKoGmbHG/Liebscher, 3. Aufl. 2019, GmbHG § 48 Rn. 38; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, 22. Aufl. 2019, GmbHG § 48 Rn. 13).

Es kommt daher nicht darauf an, dass selbst die hier nicht vorliegende unberechtigte teilnahme eines Dritten an der Gesellschafterversammlung mangels Relevanz für das Abstimmungsergebnis regelmäßig nicht zur Anfechtbarkeit (sicher nicht: zur Nichtigkeit) der gefassten Beschlüsse
führt, sofern nicht der seltene Sonderfall einer wesentlichen Beeinträchtigung der autonomen Willensentscheidung des anderen Gesellschafters durch den unberechtigten Teilnehmer vorliegt
(MüKoGmbHG/Liebscher a.a.O. § 48 Rn. 59 m.w.N.). Die unberechtigte Zulassung Nichtteilnahmeberechtigter hat regelmäßig keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der Beschlussfassung (Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, 22. Aufl. 2019, GmbHG § 48 Rn. 15).

Das Gebot des fairen Verfahrens und der Gesellschaftergleichbehandlung (vgl. Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, 22. Aufl. 2019, GmbHG § 48 Rn. 13 bei Fn. 32) kann hier schon deshalb nicht als verletzt angesehen werden, weil auch der Kläger aufgrund des ihm bekannten Einberufungsverlangens (Anl. B 19) die Bedeutung der daraus ersichtlichen Tagesordnungsgegenstände rechtzeitig mehrere Wochen vor der Versammlung für sich abschätzen und sich als Gesellschafter gegebenenfalls eines rechtlichen Beraters versichern konnte, den er selbst zur Gesellschafterversammlung hätte mitbringen können. Wird die statusrechtliche Stellung eines Gesellschafters in schwerwiegender Weise durch die beabsichtigte Beschlussfassung beeinträchtigt, und gebietet es die gesellschaftsrechtliche Treupflicht deshalb, ihm wegen fehlender eigener Sachkunde die Anwesenheit eines Anwalts oder sonstigen Beraters hinzuziehen, so kann sich aus den Prinzipien der Waffengleichheit und der Gesellschaftergleichbehandlung zwar ergeben, dass dann auch anderen Gesellschaftern die Hinzuziehung eines eigenen Beraters zur Gesellschafterversammlung zu gestatten ist, selbst wenn ihre Gesellschafterbelange nicht oder nicht so stark beeinträchtigt sind (vgl. OLG DresdenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Dresden
, Urteil vom 25. August 2016 – 8 U 347/16-, Rn. 16, juris). Nachdem Herr F. mit Rechtsanwalt K. erschienen war, hätte man es dem Kläger nicht verwehren dürfen, einen ihn beratenden Anwalt zur Gesellschafterversammlung mitzubringen, wenn er denn seinerzeit einen mandatiert gehabt hätte. Darum geht es im vorliegenden Fall aber nicht, denn es ist ihm weder verwehrt worden, den Wunsch nach Anwesenheit eines eigenen Beraters zu äußern (es kann schon nicht festgestellt werden, dass dieser Wunsch geäußert wurde), noch ist dessen teilnahme abgelehnt worden. Eine zur Anfechtbarkeit führende Beeinträchtigung des Teilnahmerechts des Klägers unter dem Gesichtspunkt der fehlenden anwaltlichen Begleitung liegt somit nicht vor. Die genannten Prinzipien gebieten es nicht, entsprechende Beschlüsse in Gesellschafterversammlungen überhaupt nur dann zu fassen, wenn alle Gesellschafter oder der hauptbetroffene Gesellschafter mit anwaltlicher Begleitung erscheint. Bei abweichender Sichtweise hätte es ein Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH, dessen Abberufung aus wichtigem GrundBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Abberufung
Abberufung aus wichtigem Grund
auf der Tagesordnung steht, in der Hand, durch unterlassene Mandatierung eines Anwalts oder bewusstes Erscheinen ohne anwaltliche Begleitung die Beschlussfassung unter Umständen dauerhaft zu blockieren, zumindest aber zu verzögern. Mit dem Konterkarierungsverbot, dem er als Geschäftsführer unterliegt, wäre das unvereinbar.

c.
Die klägerseits als weiterer Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsgrund geltend gemachte vermeintlich fehlende Beschlussfeststellungskompetenz von Rechtsanwalt K. (BI. 20 d.A.) beruht schon auf in tatsächlicher Hinsicht unzutreffenden Annahmen, denn nach der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass Rechtsanwalt K. einvernehmlich zum Versammlungsleiter mit Beschlussfeststellungskompetenz bestellt wurde (vgl. oben 1.).

d.
Nach § 12 Abs. 1 BORA darf ein Rechtsanwalt nicht ohne Einwilligung des Rechtsanwalts eines anderen Beteiligten mit diesem unmittelbar Verbindung aufnehmen oder verhandeln. Soweit ersichtlich erstmals im Schriftsatz vom 06. November 2020 beruft sich der Kläger zur Begründung
der Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage auf einen vermeintlichen Verstoß gegen die standesrechtliche Vorschrift des § 12 BORA (BI. 107 d.A.). Als Anfechtungsgrund ist dieses Argument schon deshalb ungeeignet, weil § 9 Abs. 8 des Gesellschaftsvertrags die befristete Erhebung der Anfechtungsklage innerhalb eines Monats vorsieht und die aktienrechtliche Rechtsprechung zu § 246 AktG entsprechend heranzuziehen ist (zur Unbeachtlichkeit nachgeschobener Anfechtungsgründe OLG Stuttgart, Urteil vom 17. November 2010 – 20 U 2/10 -, Rn. 406, juris; BGH,
Beschluss vom 07. Dezember 2009 – II ZR 63/08 -, Rn. 3, juris). Auch eine Nichtigkeit der Beschlüsse lässt sich mit der Argumentation hier nicht begründen, denn ein Verstoß gegen § 12 Abs. 1 BORA scheidet aus, weil zwischen dem Kläger und Rechtsanwalt Z. zum maßgeblichen Zeitpunkt – Abhaltung der Gesellschafterversammlung am 03. Juli 2020 – nach der im
Februar 2020 auch der Gegenseite mitgeteilten Beendigung des Mandatsverhältnisses tatsächlich keine Mandatsbeziehung bestanden hat (BI. 56, 138 d.A.). Soweit sich die Beklagte darauf beruft, dass der Kläger im Vorfeld der Versammlung angekündigt habe, sich anwaltlich beraten zu
lassen, und soweit sie durch Aussage von Rechtsanwalt K. bewiesen hat, dass er zu Beginn der Versammlung erklärt habe, sein anwaltlicher Bevollmächtigter K. werde nicht kommen, sei aber für ihn jederzeit telefonisch erreichbar (BI. 59, 75, 169, 188 d.A.), suggerierte
der Kläger zwar selbst in der Gesellschafterversammlung wahrheitswidrig das damalige Bestehen eines entsprechenden Mandatsverhältnisses. Hätte Rechtsanwalt K. der klägerischen Lüge (zur angeblichen Mandatierung) Glauben geschenkt, bliebe es aber dabei, dass mangels tatsächlicher Mandatierung eine Umgehung des nicht vorhandenen gegnerischen Anwalts ausgeschlossen war, so dass allenfalls ein „Wahndelikt“ vorliegen könnte (falls man nicht eine bewusste Entscheidung des Klägers oder von Rechtsanwalt Z. implizierte, nicht zu erscheinen), nicht jedoch ein tatsächlicher Verstoß gegen§ 12 Abs. 1 BORA.

e.
Die Abweichung der Protokollierung von § 9 Abs. 7 des Gesellschaftsvertrags führt nicht zur Nichtigkeit der Beschlüsse. Das ergibt sich erstens aus § 241 Nr. 2 i.V.m. § 130 AktG analog, zweitens aus dem Charakter der gesellschaftsrechtlichen Regelung als Soll-Vorschrift, von der abgewichen werden durfte.

3.
Der am 03. Juli 2020 gefasste Beschluss über die Abberufung des Herrn A. als Geschäftsführer aus wichtigem Grund leidet auch nicht an einem zur Anfechtbarkeit führenden Mangel.

Wegen der teils als Nichtigkeitsgrund geltend gemachten Anfechtungsgründe wird auf die Ausführungen unter 2. verwiesen.
Ein wichtiger Grund, der die Abberufung des Herrn A. rechtfertigte, lag vielmehr vor. Der unter TOP 1 der Gesellschafterversammlung vom 03. Juli 2020 gefasste Abberufungsbeschluss ist daher wirksam. Herr A. war von der Stimmrechtsausübung ausgeschlossen.

a.

§ 38 Abs. 1 GmbHG geht von der jederzeit auch ohne Grund möglichen Abberufung eines GmbH-Geschäftsführers aus. Bei der Zweipersonen-GmbH mit zu 50% beteiligtem Gesellschafter-Geschäftsführer hängt die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines gegen den Willen und gegen die Stimmen des Betroffenen gefassten Abberufungsbeschlusses jedoch davon ab, ob der Betroffene einem Stimmrechtsverbot unterlag. Bei der Abberufung ohne GrundBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Abberufung
Abberufung ohne Grund
ist das zu verneinen. Liegt hingegen ein wichtiger Grund tatsächlich vor, dann unterliegt der abberufene Gesellschafter-Geschäftsführer einem Stimmverbot (OLG Stuttgart, Urteil vom 30. März 1994 – 3 U 154/93 -, Rn. 36, juris; so auch BeckOK GmbHG/Heilmeier, 44. Ed. 1.2.2019, GmbHG § 38 Rn. 62; Baumbach/Hueck/Beurskens, 22. Aufl. 2019, GmbHG § 38 Rn. 38, 35, 41; offengelassen in OLG Stuttgart, Beschluss vom 13. Mai 2013 – 14 U 12/13 -, Rn. 49, 50; dazu auch BGH, Urteil vom 04. April 2017 – II ZR 77/16 -, Rn. 14, juris; zu den Streitfragen auch BeckOK
GmbHG/Heilmeier, 44. Ed. 1.2.2019, GmbHG § 38 Rn. 63 ff.). Seine „Nein“-Stimme ist in diesem Fall zugleich treuwidrig.

Im Allgemeinen liegt ein wichtiger Grund zur Abberufung eines GmbH-Geschäftsführers vor, wenn die weitere Tätigkeit des Geschäftsführers für die Gesellschaft, insbesondere aufgrund grober Pflichtverletzungen, unzumutbar geworden ist (BGH, Urteil vom 28. Januar 1985 – II ZR 79/84
-, Rn. 11, juris). Das ist grundsätzlich einzelfallabhängig nach Abwägung aller im konkreten Fall wesentlichen Umstände zu entscheiden, wobei „insbesondere die Schwere der dem Geschäftsführer zur Last fallenden Verfehlungen, deren Folgen für die Gesellschaft und der durch sie verursachte Vertrauensverlust, das Ausmaß des beiderseitigen Verschuldens und die Größe der Wiederholungsgefahr von pflichtwidrigem Verhalten, die Dauer der Tätigkeit des Geschäftsführers für die Gesellschaft und dessen besondere Verdienste um das Unternehmen bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind“ (OLG Stuttgart, Beschluss vom 13. Mai 2013 – 14 U 12/13 -,
Rn. 4, juris).

Bei der zweigliedrigen Gesellschaft mit einem Gesellschafter-Geschäftsführer sind strenge Anforderungen an das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die Abberufung zu stellen (OLG Stuttgart
Hinweisbeschluss vom 13. Mai 2013 – 14 U 12/13, BeckRS 2013, 10665, beck-online). Allein die schlüssige Behauptung eines wichtigen Grundes genügt nicht (BGH, Urteil vom 04. April 2017 – II ZR 77/16-, Rn.15,juris).
Für die Zwei-Personen-GmbH hat der BGH ausgesprochen, dass es zur Abberufung eines Geschäftsführers aus wichtigem Grund ausreicht, dass zwei oder mehrere Geschäftsführer untereinander so zerstritten sind, dass eine Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht mehr möglich ist:
In einem solchen Fall kann jeder von ihnen jedenfalls dann abberufen werden, wenn er durch sein nicht notwendigerweise schuldhaftes – Verhalten zu dem Zerwürfnis beigetragen hat. Ausdrücklich hat der BGH dargelegt, dass es nicht darauf ankommt, ob einer der Beteiligten „maßgeblich“ oder „entscheidend“ zu dem Zerwürfnis beigetragen hat oder den „überwiegenden Beitrag“ für die Zerrüttung geleistet hat, sofern nur überhaupt ein wesentlicher Beitrag für das Zerwürfnis vorliegt.
Eine Abwägung der Verursachensbeiträge mit dem Ziel, den überwiegenden Beitrag zu ermitteln, ist in einem solchen Fall nicht vorzunehmen (BGH, Beschluss vom 12. Januar 2009 – II ZR 27/08
-, Rn. 15, juris OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Dezember 2012-14 U 10/12-, Rn. 167, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 09. September 2014 – 14 U 9/14 -, Rn. 22, juris m.w.N.; OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, Urteil vom 22. Juli 2010 – 23 U 4147/09 -, Rn. 35, juris LG Hamburg, Urteil vom 17. Mai 2013 -412 HKO 132/12-, Rn. 198, juris m.w.N.).

b.
Nach diesen Maßstäben war die im Streit stehende, am 03. Juli 2020 beschlossene Abberufung des Klägers von einem wichtigen Grund getragen. Er unterlag deshalb bei der Abstimmung einem Stimmrechtsausübungsverbot. Seine bei der Abstimmung über die Abberufung abgegebene „Nein“-Stimme darf nicht gezählt werden, weshalb der Abberufungsbeschluss wirksam mit den ,,Ja“-Stimmen des Herrn F. zustande gekommen ist.

aa.
Herr F. hatte unstreitig am 29. Januar 2020 nachgefragt, welche Kosten der Gesellschaft bei den bereits abgeschlossenen und noch laufenden mietrechtlichen Auseinandersetzungen um Pachtzahlungen entstanden waren (Anl. B 11 ). Die Beantwortung dieser Frage verweigerte der Kläger ohne nachvollziehbare Begründung am 01. Februar 2020 schriftlich (Anl. B 12). Damit hat der Kläger die ihm als Geschäftsführer obliegende Pflicht verletzt, dem Mitgesellschafter gem. § 51a GmbHG Auskunft in Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben.

bb.
Das Gericht geht unter Berücksichtigung des Vortrags beider Parteien, der vorgelegten Beweismittel und des Ergebnisses der Parteianhörung und Beweisaufnahme davon aus, dass Herr F. sich im Vorfeld des Abberufungsbeschlusses als Gesellschafter erwiesenermaßen über Monate erfolglos bemühte, vom Kläger vollständige Auskünfte über Einzelheiten zu dem Anstellungsvertrag zu bekommen, den der Kläger als Geschäftsführer namens der Gesellschaft mit seiner Tochter, Frau C. geschlossen hatte. Er erhielt wechselhafte, in sich nicht stimmige Antworten. Das gesamte Verhalten des Klägers als Geschäftsführer in dieser Angelegenheit der GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Angelegenheit der Gesellschaft
Gesellschaft
und als Reaktion auf die Auskunftsbegehren seines Bruders war jedenfalls bis zur Gesellschafterversammlung am 03. Juli 2020 und darüber hinaus auch noch mindestens bis zur Gesellschafterversammlung am 31. Juli 2020 zur Überzeugung des Gerichts geprägt von einer gezielten Verschleierungstaktik des Herrn A., die mit seinen Pflichten
als Geschäftsführer unvereinbar ist.

aaa.
Am 03. Dezember 2019 ließ Herr A. über Rechtsanwalt Z. mitteilen, das Anstellungsverhältnis zwischen Frau C. und der Gesellschaft sei nur mündlich geschlossen worden (BI. 92 d.A.; Anl. B 20 Seite 2 Ziff. 7). Angeblich soll es allerdings 2019 nur befristet abgeschlossen worden sein und nicht für die Monate Dezember bis einschließlich Februar
gegolten haben (Anl. B 9 Seite 5), sondern nur für 10 Monate (BI. 91 d.A.). Aus einer „Ergänzungsvereinbarung“ zum Arbeitsvertrag vom 30. Juli 2020 ergibt sich hingegen, dass Frau C. jedenfalls zwischen August 2019 und August 2020 Arbeitnehmerin der Gesellschaft gewesen sein muss (Anl. B 21). Anhaltspunkte für eine Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses
in den Monaten Dezember (2018 oder 2019) bis Februar (2019 oder 2020) oder für eine nur zehnmonatige Tätigkeit innerhalb des genannten Jahreszeitraums ergeben sich aus dieser „Ergänzungsvereinbarung“ gerade nicht. Nachträglich wurde auf Hinweis der Konsequenzen des § 14 Abs. 4 TzBfG i.V.m. § 126 BGB ein auf den 30. Juli 2020 datierter schriftlicher Arbeitsvertrag geschlossen, nach dessen § 3 Abs. 1, Abs. 2 das Arbeitsverhältnis am 01. März 2019 als unbefristetes Arbeitsverhältnis ohne Probezeit begründet worden sein soll, bei Tätigkeitspflicht nur
während 10 Monaten pro Kalenderjahr (Anl. K 30). Das wiederum widerspricht der ursprünglichen Behauptung eines befristet eingegangenen Arbeitsverhältnisses. Nicht stimmig sind die „Ergänzungsvereinbarung“ zur Nutzung des Firmenfahrzeugs und der nachträglich dokumentierte
schriftliche Arbeitsvertrag auch insoweit, als bei Zugrundelegung einer nur für 10 Monate pro Kalenderjahr bestehenden Verpflichtung der Arbeitnehmerin zur Erbringung von Arbeitsleistung (so § 4 Abs. 1 der Anl. K 30) erklärungsbedürftig ist, weshalb der Kläger ihr doch laut „Ergänzungsvereinbarung“ für jedenfalls 13 Monate (August 2019 bis August 2020) durchgängig das Firmenfahrzeug überließ.

Die Überlassung eines Firmenfahrzeugs an Frau C. ist im schriftlichen Arbeitsvertrag (Anl. K 30) nicht erwähnt, insbesondere auch nicht als Vergütungsbestandteil. Tatsächlich war Frau C. jedoch ein Firmenfahrzeug überlassen worden. Die Herrn A. von der Beklagten zugeschriebene Erklärung, dass Frau C. kündigen würde, wenn ihr das Fahrzeug nicht zur Verfügung gestellt würde (BI. 57 d.A.), wurde im Termin und damit verspätet von ihm bestritten mit der Behauptung, sie habe es nie zur Bedingung gemacht, ein Fahrzeug zur Nutzung überlassen zu bekommen (BI. 173 d.A.).

Am 20. September 2019 hatte Herr A. zur Fahrzeugnutzung angegeben, Frau C. nutze es ausschließlich zu Betriebsfahrten und entsorge an ihrem Wohnort den Müll der Gesellschaft. Am 03. Dezember 2019 hatte er dann seinen anwaltlichen Bevollmächtigten mitteilen lassen, sie dürfe das Auto nur zu geschäftlichen Zwecken nutzen. Eine tatsächliche private Nutzung hatte er seinerzeit nicht offengelegt (Anl. B 20 Seite 2 Ziff. 8 c). Am selben Tag hatte er außerdem erklärt, sie nutze das Fahrzeug nicht zur Entsorgung des betrieblichen Mülls, sondern zum Transport schmutzigen Kaffeegeschirrs aus der Firma nachhause zum dortigen Abwasch (Anl. B 20 Seite 2 Ziff. 8 d, Ziff. 11 ). Das hatte Herrn F. zu weiteren Nachfragen
im Schreiben vom 16. Dezember 2019 veranlasst, etwa zu der Frage, weshalb das Kaffeegeschirr nicht in der Firma gewaschen werde, und zur Fahrstrecke für den täglichen Geschirrtransport (Anl. B 9 Seite 4). In der bereits erwähnten „Ergänzungsvereinbarung“ vom 27. August 2020
mit Frau C. heißt es dann: ,,Dem Arbeitnehmer war zwischen August 2019 und August 2020 die private Nutzung des Firmenwagens Skoda Octavia mit dem amtlichen Kennzeichen BB … gestattet.“ (Anl. B 21 ). Das widerspricht der Einlassung vom 03. Dezember 2019 (Anl. B 20 Seite 2 Ziff. 8 c).

Eine wieder andere, der schriftlichen Dokumentation (in Anl. B 21) widersprechende Darstellung des Sachverhalts trug Herr A. dann bei der Parteianhörung durch das Gericht am 17. November 2020 vor: ,,Die private Nutzung war ja nicht erlaubt. Ich bin aber einfach den leichteren
Weg gegangen und habe mich da auch anwaltlich beraten lassen. Ich wollte das durch die Zahlung aus der Welt schaffen …. Sie durfte es noch nie privat nutzen.“ (BI. 172 f. d.A.). Das suggeriert, dass Frau C. das Fahrzeug unerlaubt privat genutzt habe. Träfe dies zu, müsste sich Herr A. jedoch fragen lassen, weshalb er die Privatnutzung durch seine Tochter nicht unterbunden und nicht auf Nachfrage seines Mitgesellschafters sogleich offengelegt hat.

Dass Herr A. seiner Tochter die Privatnutzung nicht von Anfang an erlaubt haben soll, ist nicht glaubhaft. Denn bei unerlaubter Privatnutzung hätten Frau C. und die Gesellschaft allenfalls Anlass gehabt, eine Abrede über den Ersatz des durch unerlaubte Privatnutzung entstandenen Schadens bzw. der zu zahlenden Nutzungsentschädigung zu treffen und (bei
Behandlung der Arbeitnehmerin wie einer fremden Dritten, ohne Berücksichtigung der familiären Verbundenheit) arbeitsrechtliche Sanktionen zu prüfen. Sie hätten aber zweifellos nicht die in der
rückwirkenden „Ergänzungsvereinbarung“ getroffene Abrede über die Gestattung der Privatnutzung für den dort angegebenen Zeitraum getroffen (Anl. B 21 ). Das spricht gegen den Wahrheitsgehalt der im Termin vor Gericht gemachten Angabe des Herrn A. und für deren Qualifizierung als reine Schutzbehauptung, um das eigene Fehlverhalten in einem milderen Lichte erscheinen zu lassen und die Schuld auf andere – in diesem Fall auf die Tochter- zu lenken.

bbb.
Am 02. März 2020 machte Herr F. die Konditionen des Anstellungsverhältnisses zwischen Frau C. und der Gesellschaft zum Gegenstand eines Einberufungsverlangens. Vorgesehen war damals die Beschlussfassung über eine Sonderprüfung (Anl. B 13). Gegenstand sollten u.a. sein: ,,Prüfung der Geld- und Sachleistungen an Frau C., deren Tätigkeit gegenüber der Gesellschaft in Erfüllung des Anstellungsvertrages sowie insbesondere unter Berücksichtigung der durch Herrn A. diesbezüglich erteilten Auskünfte“.

Die Darstellung des Klägers A. im Schriftsatz vom 06. November 2020, u.a. zur angeblichen Erfüllung der Auskunftsbegehren seines Bruders (BI. 150 ff. d.A.), lässt nicht erkennen, ob und wie der Kläger auf dieses Einberufungsverlangen mit dem Ziel der Sonderprüfung überhaupt reagiert hat. Nach dem Vortrag der Beklagten ist davon auszugehen, dass Herr F. schließlich selbst auf den 05. Mai 2020 eine Gesellschafterversammlung einberief (Anl. B 14), zu der Herr A. aber nicht erschien. Der aus § 50 Abs. 1 GmbHG resultierenden Pflicht zur unverzüglichen Einberufung einer Gesellschafterversammlung auf das bereits mit Schreiben vom 02. März 2020 formulierte Verlangen kam Herr A. also nicht nach.

ccc.
Dass einige der vorstehend genannten Umstände dem Mitgesellschafter erst nach der Beschlussfassung vom 03. Juli 2020 bekannt geworden sind, wie etwa die „Ergänzungsvereinbarung“ (Anl. B 21 ), steht der Berücksichtigung bei der gerichtlichen Prüfung und Abwägung nicht entgegen.
Maßgeblich ist zwar, ob im Zeitpunkt der Beschlussfassung ein wichtiger Grund vorlag (BGH, Urteil vom 04. April 2017 – II ZR 77/16-, Rn. 14, juris). Nach einer in der Literatur zum GmbH-Recht vertretenen Auffassung darf das Gericht seine Entscheidung bei der richterlichen Beschlusskontrolle nur auf solche Gründe stützen, die für den Beschluss der Gesellschafter „maßgebend“ waren (Diekmann, in MünchHdB GesR a.a.O. § 42 Rn. 68). Das setzt jedenfalls voraus, dass diese Gründe bei Beschlussfassung bereits vorlagen. Diese zum GmbH-Recht vertretene Auffassung korrespondiert mit der aktienrechtlichen Rechtsprechung zur Anfechtung von Entlastungsbeschlüssen, wonach im Aktienrecht eine Beschlussanfechtung nicht auf Umstände gestützt werden kann, die erst im Rahmen eines Anfechtungsprozesses aufgeklärt und bewiesen werden sollen (OLG Stuttgart, Urteil vom 08. Juli 2015 – 20 U 2/14 -, Rn. 188, juris). Dogmatisch lässt sich die Rechtsprechung zu Entlastungsbeschlüssen damit begründen, dass der im Einzelfall die erfolgreiche Anfechtung des Mehrheitsvotums rechtfertigende Vorwurf der treuwidrigen Stimmrechtsausübung wegen einer schwerwiegenden Pflichtverletzung des mehrheitlich entlasteten
Organmitglieds schwer zu begründen ist, wenn die Pflichtverletzung erst nach der Entlastungsentscheidung bekannt werden, also dem „objektiven Durchschnittsaktionär“ vor der Abstimmung auch nicht erkennbar vor Augen geführt worden sein kann (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 29. Februar 2012- 20 U 3/11 -, Rn. 247, juris).

Für das GmbH-Recht hat der BGH aber entschieden und wird auch in der Literatur vertreten, dass für die Geschäftsführerabberufung aus wichtigem Grund in Bezug auf das Nachschieben dieselben Grundsätze gelten wie für das Nachschieben von Kündigungsgründen: Es genügt also,
dass die Umstände im Zeitpunkt der Ausübung des außerordentlichen Kündigungsrechts bzw. der Abberufung aus wichtigem GrundBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Abberufung
Abberufung aus wichtigem Grund
bereits objektiv bestanden haben. Sie können im Rechtsstreit zur Begründung der Kündigung wie auch der Abberufung nachgeschoben werden, und
zwar unabhängig davon, ob sie dem Kündigenden bzw. den abberufenden Gesellschaftern im Zeitpunkt der Entscheidung bekannt oder unbekannt waren (vgl. BGH, Urteil vom 14. Oktober 1991 – II ZR 239/90-, Rn. 12, juris; Altmeppen, 10. Aufl. 2021 Rn. 44, GmbHG § 38 Rn. 44).

Bei der Zweipersonen-GmbH sieht der BGH sogar einen förmlichen Beschluss über das Nachschieben von Abberufungsgründen zu Recht als weder durch die Zuständigkeitsordnung innerhalb der Gesellschaft geboten noch der richtigen Sachentscheidung in irgendeiner Weise dienlichen Umweg und deshalb als überflüssig an. Die Gesellschaft kann daher im Rechtsstreit über die Abberufung eines Geschäftsführers aus wichtigem Grund grundsätzlich im Zeitpunkt des Widerrufs der Geschäftsführerstellung bereits bestehende, im Abberufungsbeschluss aber nicht bekanntgegebene weitere wichtige Gründe zur Stützung des Beschlusses nachträglich geltend machen (BGH, Urteil vom 14. Oktober 1991 – II ZR 239/90 -, Rn. 15, juris). Bei der Zweipersonen-Gesellschaft können also auch ohne erneute Beschlussfassung Gründe nachgeschoben
werden (so wird die Entscheidung auch von Diekmann, in MünchHdB GesR a.a.O. § 42 Rn. 68 interpretiert). Erst Recht muss sich jedenfalls die Zweipersonen-GmbH im Streit um die Wirksamkeit der Abberufung aus wichtigem GrundBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Abberufung
Abberufung aus wichtigem Grund
auf neuere, erst nach der Beschlussfassung erkannte
Tatsachen oder Umstände berufen dürfen, die den bereits bei Beschlussfassung tatsächlich vorliegenden und im Kern bereits bekannten wichtigen Grund für die Abberufung weiter untermauern.

Davon abzugrenzen sind neu aufkommende Abberufungsgründe, die bei der Zweipersonen-GmbH jedoch nach der Rechtsprechung des BGH auch ohne erneute Beschlussfassung nachgeschoben werden dürfen (dazu Diekmann, in MünchHdB GesR a.a.O. § 42 Rn. 68). Das OLG Stuttgart hat in einer Entscheidung ausgeführt, dass selbst Gründe, die erst nach dem Abberufungsbeschluss entstanden sind, zur Begründung der Abberufung und fristlosen Kündigung herangezogen werden dürfen, wenn sich aus der Gesamtbeurteilung ergibt, dass bereits im Zeitpunkt der Abberufung die Fortsetzung der Geschäftsführertätigkeit unzumutbar war (OLG Stuttgart, Urteil vom 30. März 1994 – 3 U 154/93 -, Rn. 42 juris; die Zulässigkeit des Nachschiebens offenlassend OLG Stuttgart, Beschluss vom 13. Mai 2013-14 U 12/13-, Rn. 40, juris).

ddd.
Der Kläger hatte auch ein Motiv zur Verschleierung des Sachverhalts: Nachdem tatsächlich entweder von vornherein ein unbefristeter Arbeitsvertrag (mündlich) geschlossen worden ist oder eine dann allerdings formunwirksame mündliche Abrede über eine befristete Tätigkeit zustande gekommen sein muss, die gem. § 14 Abs. 4 TzBfG i.V.m. § 126 BGB kraft Gesetzes zum Bestehen eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses führte, war im Hinblick auf den gesellschaftsvertraglichen Zustimmungsvorbehalt für Anstellungsverhältnisse mit einem Brutto-Jahresentgelt von über 35.000 EUR (§ 6 Abs. 6 lit. i des Gesellschaftsvertrags, Anl. K 4) zunächst vom vollen Jahresbetrag auszugehen. Bei einem Stundenlohn von 20 EUR brutto, durchschnittlich 40 Wochenarbeitsstunden (vgl. Anl. K 30) und bezahltem Urlaub war schon ohne Berücksichtigung der privaten Firmenwagennutzung von einer Überschreitung der genannten Grenze zur Zustimmungsbedürftigkeit auszugehen (nach den eigenen Berechnungen des Klägers, freilich bezogen auf den Mitarbeiter X, beläuft sich die jährliche Bruttovergütung bei diesen Parametern auf 41.599,20
EUR, BI. 155 d.A.). Die bestehende Zustimmungsbedürftigkeit und damit die Kompetenzüberschreitung bei Vertragsabschluss hat der Kläger durch Behauptung eines befristeten Arbeitsverhältnisses zunächst verschleiert.

Rechnet man noch den geldwerten Vorteil durch die aus Sicht des Gerichts erwiesene Firmenwagenüberlassung auch zur Privatnutzung hinzu (dazu BI. 92 d.A.; Anl. B 21 ), so ergibt sich eine noch deutlichere Überschreitung der gesellschaftsvertraglichen Zustimmungsvorbehaltsgrenze.
Auch diese Kompetenzüberschreitung hat der Kläger durch unglaubhafte, bis zuletzt falsche Informationen über eine angeblich unerlaubte Privatnutzung des Firmenwagens versucht zu verschleiern. Selbst in der Firmenwagenüberlassung ohne ausdrückliche Zulassung der Privatnutzung läge dann ein zusätzlicher Vergütungsbestandteil, wenn der Geschäftsführer von der Privatnutzung weiß und diese mindestens duldet. Darauf kommt es hier jedoch nicht an, denn das Gericht ist davon überzeugt, dass es sich bei der Berufung auf eine fehlende Erlaubnis der Privatnutzung ohnehin um eine Schutzbehauptung handelt.

eee.
Die Gewichtung der dem Geschäftsführer anzulastenden Pflichtverletzung bei der Prüfung des Vorliegens eines wichtigen Grundes für die Abberufung hängt vom Einzelfall ab.

In einer vorsätzlich falschen bzw. unvollständigen Information liegt eine so grobe Vertrauensverletzung, dass die Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des GmbH-Geschäftsführervertrages (so OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, Urteil vom 23. Februar 1994 – 7 U 5904/93 -, juris) wie auch die Abberufung gerechtfertigt ist.
Denn „es gehört zu den selbstverständlichen Kardinalpflichten eines Geschäftsführers, sowohl die Gesellschafter als auch die weiteren satzungsmäßig berufenen Organe der Gesellschaft … im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit über alle für deren und das Gesellschaftsinteresse wesentlichen Tatsachen zutreffend und vollständig zu informieren“ (KG Berlin, Urteil vom 16. Juni 2011 – 19 U 116/10 -, Rn. 19, juris).

Bereits der sich aus finanziellen Unregelmäßigkeiten ergebende, begründete Verdacht eines unredlichen Verhaltens eines Geschäftsführers kann dazu führen, dass das erforderliche Vertrauensverhältnis zwischen den Gesellschaftern unrettbar zerstört ist und ein wichtiger Grund vorliegt, der die Abberufung rechtfertigt (BGH, Urteil vom 11. Februar 2008 – II ZR 67/06). Wiederholte Kompetenzüberschreitungen des Geschäftsführers und die darin liegende Missachtung der Rechte der Minderheitsgesellschafterin bilden ebenfalls einen wichtigen Grund für die Abberufung eines Geschäftsführers (OLG DüsseldorfBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Düsseldorf
, Urteil vom 23. Februar 2012 – 1-6 U 135/110 -, Rn. 49, juris ).

Der Kläger hat, wie gezeigt, kompetenzwidrig unter Missachtung des gesellschaftsvertraglichen Zustimmungsvorbehalts namens der Gesellschaft einen mündlichen Arbeitsvertrag mit seiner Tochter geschlossen, auf diesbezügliche Informationsverlangen nach § 51a GmbHG erwiesenermaßen mit ausweichenden, unvollständigen und teils falschen Antworten reagiert und zudem versucht, eine Erörterung der Vorwürfe in einer Gesellschafterversammlung (mit dem Ziel des Mitgesellschafters, noch nicht einmal gleich die Abberufung, sondern zunächst eine Sonderprüfung durchzuführen) über lange Zeit zu verhindern. Das klägerische Fehlverhalten hat hier deshalb besonderes Gewicht, weil sich aus diesem Verhalten ein schon aus den Akten ersichtlicher besonderer Aufwand für den anwaltlich vertretenen Herrn F. beim Versuch ergeben hat, den Sachverhalt aufzuklären.

Die nachträgliche, nach der Beschlussfassung vom 03. Juli 2020 erfolgte Auskunftserteilung und Dokumentenvorlage wie auch die nachträgliche Schadenswiedergutmachung durch Abschluss der „Ergänzungsvereinbarung“ und das schriftsätzliche Eingeständnis von Fehlverhalten sind dem Kläger zwar zugute zu halten, können aber das einmal zerstörte Vertrauen aus objektiver Sicht nicht wiederherstellen, wie auch der Verlauf der letztlich gescheiterten Vergleichsverhandlungen in der mündlichen Verhandlung vor Gericht am 17. November 2020 zeigt. Dasselbe gilt für das schriftsätzliche Eingeständnis des Klägers, dass er die zwischen Februar und Anfang Juli 2020 geltend gemachten Auskunftsansprüche des Herrn F. auch ohne anwaltliche Vertretung hätte erfüllen müssen (BI. 118 d.A.), denn das ist eine Selbstverständlichkeit.

fff.
Das Recht zur Abberufung wegen der vorstehend erörterten Vorkommnisse ist nicht verwirkt.

Die Abberufung aus wichtigem GrundBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Abberufung
Abberufung aus wichtigem Grund
muss allerdings innerhalb eines angemessenen Zeitraums seit Kenntnis des wichtigen Grundes erfolgen. Das Recht zur Abberufung kann verwirkt sein, wenn die Gesellschaft den Geschäftsführer über längere Zeit in Kenntnis der Abberufungsgründe
im Amt belässt. Die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB gilt hier jedoch nicht. Entscheidend kann sein, ob die Gesellschafterversammlung als das zuständige Organ konkludent zum Ausdruck bringt, dass die bekannt gewordenen Umstände für sie keinen Anlass zur Abberufung
darstellen, oder ob der betroffene Geschäftsführer gutgläubig annehmen darf, sein Verhalten werde geduldet (Diekmann, in MünchHdB GesR Band 3 5. Aufl.§ 42 Rn. 55, 56, 63). Die Möglichkeit der Verwirkung des Rechts zur Abberufung aus wichtigem GrundBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Abberufung
Abberufung aus wichtigem Grund
bedeutet nicht, ,,dass die Gesellschafter, um dieser Rechtsfolge zu entgehen, die Abberufung unter allen Umständen sofort auf die Tagesordnung der nächsten Gesellschafterversammlung setzen müssten. Es muss ihnen vielmehr grundsätzlich unbenommen sein, zuvor noch einen letzten Versuch zu unternehmen, mit dem Geschäftsführer auf der nächsten Gesellschafterversammlung zu einer Aussprache und einem Ausgleich zu kommen, und die Entscheidung über eine etwaige Abberufung solange zurückzustellen.“ (BGH, Urteil vom 14. Oktober 1991 – II ZR 239/90 -, Rn. 7, juris).

Herr F. hat, wie sich aus dem oben dargestellten Geschehensablauf ergibt, nach wechselhaften und widersprüchlichen Informationen seines Bruders legitimerweise versucht, eine Aussprache der Gesellschafter zu den berechtigten Fragen um das Anstellungsverhältnis und die Privatnutzung des Firmenwagens durch Frau C. zu erreichen. Schon die im
Zeitablauf gegebenen widersprüchlichen Angaben des Herrn A. und die neuen, teils erst nach BeschlussfassungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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nach Beschlussfassung
bekannt gewordenen Informationen zeigen, dass es sich entgegen der klägerischen Darstellung (BI. 10, 11 d.A.) bis zuletzt nicht um längst geklärte Angelegenheiten
oder „kalten Kaffee“ handelte. Dass Herr A. der Erörterung in einer Gesellschafterversammlung zunächst ausgewichen ist, indem er zunächst pflichtwidrig die am 02. März 2020 verlangte Gesellschafterversammlung nicht einberufen hat und anschließend zu der von seinem Bruder selbst einberufenen Gesellschafterversammlung am 05. Mai 2020 nicht erschienen ist, und dass er sich anschließend auch noch der Erörterung in einer Gesellschafterversammlung am 14. Mai 2020 entzogen hat, die trotz des „Corona“-Pandemiegeschehens jedenfalls im Freien hätte stattfinden können, spricht gegen jeglichen Aufklärungswillen. Dass er bei der Auskunftserteilung zur Frage der Privatnutzung zunächst gelogen hatte, wurde nach dem Abberufungsbeschluss durch Vorlage der „Ergänzungsvereinbarung“ noch deutlicher.

Auf eine Verwirkung des Rechts zur Abberufung aus wichtigem GrundBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Abberufung
Abberufung aus wichtigem Grund
kann sich der Kläger daher im Hinblick auf die Konditionen des Anstellungsverhältnisses mit Frau C. und im Hinblick auf die Angaben zur Firmenwagennutzung für private Zwecke nicht berufen.

cc.
Hinzu kommt das pflichtwidrige Verhalten des Klägers im Zusammenhang mit der Gesellschafterversammlung am 14. Mai 2020, die er letztlich durch die in der Sache unangemessene Drohung mit der Polizei torpedierte und verhinderte.

Soweit er die Versammlung im Interesse des Infektionsschutzes oder aus Sorge vor einer Infektion mit Blick auf die „COVID-19″-Pandemie trotz gewahrter Vorgaben der damaligen Corona-Verordnung nicht in den Innenräumen des Geschäftsgebäudes, in dem die Versammlung hätte stattfinden sollen, abhalten wollte, erscheint dies zwar noch nachvollziehbar, auch wenn Zweifel aufkommen müssen, ob das nicht eine reine Schutzbehauptung war, wenn es zutrifft, dass er am Mai 2020 vier Kaufinteressenten durch das Gebäude führte (so die Beklagte BI. 58 d.A.). Nicht mehr durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt und allenfalls durch eine „Blockadehaltung“ motiviert erklärbar ist aber, dass der Kläger offensichtlich nicht bereit war, die Versammlung gemeinsam mit seinem Bruder außerhalb des Gebäudes auf dem Firmengelände unter freiem Himmel abzuhalten, und weshalb er nicht auf den Vorschlag von Rechtsanwalt K. zu einer möglichen Beschlussfassung im Umlaufverfahren einging (Anl. B 17), sondern stattdessen mit der Polizei drohte.

Wie bereits ausgeführt, hätte der Kläger als Geschäftsführer am 14. Mai 2020 das nach § 50 Abs. 1 GmbHG berechtigte Verlangen seines Mitgesellschafters nicht sabotieren dürfen (zum Konterkarierungsverbot MüKoGmbHG/Liebscher, 3. Aufl. 2019, GmbHG § 50 Rn. 28, 29).

Das Argument der Verwirkung des Abberufungsgrundes überzeugt auch insoweit nicht. Mit dem Einberufungsverlangen vom 28. Mai 2020 hat Herr F. rechtzeitig alles zur Herbeiführung eines Abberufungsbeschlusses Erforderliche getan.

dd.
Auf die weiteren in der Klagerwiderung ebenfalls zur Begründung der Geschäftsführerabberufung herangezogenen Sachverhalte und Vorwürfe (etwa: kompetenzwidrige Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des Mitarbeiters X. unter Missachtung des Zustimmungsvorbehalts der Gesellschafterversammlung – allerdings schon im Jahr 2019; unterlassene unverzügliche Einberufung der GesellschafterversammlungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Einberufung
Einberufung der Gesellschafterversammlung
Gesellschafterversammlung
nach Verlust des hälftigen Stammkapitals – allerdings ebenfalls schon im Jahr 2019) kommt es nach alledem nicht an. Gleichfalls sind die im Schriftsatz vom 15. Dezember
2020 nachgeschobenen Abberufungs- und Kündigungsgründe (BI. 218 ff. d.A.) ohne Auswirkung auf das Prozessergebnis.

4.
Ungeachtet des Vorliegens schwerwiegender Pflichtverletzungen des Klägers als Geschäftsführer, die seine Abberufung auch gegen seinen Willen rechtfertigten, ist die Abberufung hier auch noch aus einem anderen Grund gerechtfertigt:

Wie bereits ausgeführt, ist höchstrichterlich entschieden, dass bei der Zwei-Personen-GmbH ein Geschäftsführer auch dann aus wichtigem Grund abberufen werden kann, wenn zwei oder mehrere Geschäftsführer untereinander so zerstritten sind, dass eine Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht mehr möglich ist. Für die Abberufung reicht in diesem Fall – auch ohne Abwägung der wechselseitigen „Verursachungsbeiträge“ – aus, wenn der betroffene Geschäftsführer einen wesentlichen, nicht zwingend den überwiegenden, Beitrag zu dem Zerwürfnis geleistet hat (BGH,
Beschluss vom 12. Januar 2009 – II ZR 27/08 -, Rn. 15, juris; OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Dezember 2012 – 14 U 10/12 -, Rn. 167, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 09. September 2014 -14 U 9/14-, Rn. 22, juris m.w.N.; OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG München
, Urteil vom 22. Juli 2010-23 U 4147/09-, Rn. 35, juris; LG Hamburg, Urteil vom 17. Mai 2013-412 HKO 132/12 -, Rn. 198, juris m.w.N.).

Zwar fehlt es im vorliegenden Fall seit 2018 an einer gleichzeitigen Geschäftsführertätigkeit beider Gesellschafter. Der Kläger war seit 2018 bis zu seiner Abberufung durch Beschluss vom 03. Juli 2020 einziger Geschäftsführer. Diese Formalie erscheint hier aber angesichts der personalistischen Struktur der GesellschaftBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Gesellschaft
Struktur der Gesellschaft
und angesichts des Willens beider Gesellschafter, sich um Details des Geschäfts zu kümmern, unerheblich. Die übrigen von der Rechtsprechung aufgestellten
Voraussetzungen für eine Geschäftsführerabberufung wegen zerrütteter Verhältnisse liegen hier vor. Insbesondere ist von einem schon seit Jahren bestehenden Zerwürfnis beider Gesellschafter auszugehen. Unter Berücksichtigung der im Tatbestand des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Historie, aber auch nach dem durch mehrstündiges Erleben geprägten Eindruck des Gerichts in der mündlichen Verhandlung am 17. November 2020 fehlt beiden Gesellschaftern, besonders aber dem Kläger der ernsthafte Wille zu vernünftigen Kompromissen zum Wohle des
Unternehmens. Die Verhandlung am 17. November 2020 hat erkennen lassen, dass wechselseitig tiefes Misstrauen besteht, das unüberwindlich erscheint und das zweifellos auch durch zögerliche, teils falsche Informationen des Klägers auf Auskunftsbegehren seines Bruders nach § 51a GmbHG und durch ausgeprägt „robustes“ Verhalten (Drohung mit der Polizei beim Versuch, die für den 14. Mai 2020 einberufene Gesellschafterversammlung abzuhalten) entscheidend verstärkt
wurde. Es ist nachvollziehbar, dass angesichts dessen eine künftige gedeihliche Zusammenarbeit weder auf Geschäftsführerebene noch auf Gesellschafterebene möglich sein wird.

5.
Im Ergebnis kann weder die Nichtigkeit des AbberufungsbeschlussesBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Nichtigkeit
Nichtigkeit des Abberufungsbeschlusses
vom 03. Juli 2020 festgestellt werden noch hat die gegen ihn hilfsweise gerichtete Anfechtungsklage Erfolg. Der Kläger wurde zu Recht und wirksam aus wichtigem Grund als Geschäftsführer abberufen.

II.

Beschluss zu TOP 2 (Kündigung Dienstverhältnis) – Klagantrag Ziff. 2 nebst Hilfsantrag

Mit Klagantrag Ziff. 2 und Hilfsantrag Ziff. 3a wendet sich der Kläger gegen den am 03. Juli 2020 ohne seine Mitwirkung allein mit den Stimmen des Herrn F. gefassten Beschluss über die Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
seines Geschäftsführer-Anstellungsvertrags aus wichtigem Grund.
Weder der Hauptantrag noch der Hilfsantrag hat Erfolg.

1.
Die Wirksamkeit des Beschluss scheitert nicht an der vermeintlich weggefallenen Beschlussfähigkeit der Gesellschafterversammlung. § 9 Abs. 3 des Gesellschaftsvertrages regelt zwar, dass eine Gesellschafterversammlung nur beschlussfähig ist, wenn mindestens 75% des Stammkapitals vertreten ist. Die Beschlussfähigkeit der Gesellschafterversammlung am 03. Juli 2020 war jedoch anfänglich gegeben (vgl. oben 1.), denn 100% des Kapitals waren anwesend, und auch der
Kläger hatte sich zu Beginn bei der Abstimmung zu TOP 1 noch beteiligt. Dass der Kläger nach dem Abberufungsbeschluss den Raum verlassen hat, führt nicht zum Wegfall der einmal gegebenen Beschlussfähigkeit der Versammlung. Der Kläger hat damit lediglich entschieden, von seinem Mitwirkungsrecht keinen Gebrauch mehr zu machen (OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Köln
, Beschluss vom 21. Dezember 2001 – 2 Wx 59/01 -, Rn. 52, juris; OLG BrandenburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Brandenburg
Urteil vom 09. Mai 2007 – 7 U 84/06, BeckRS 2009, 5851, beck-online; ebenso MüKoGmbHG/Liebscher, 3. Aufl. 2019, GmbHG § 48 Rn. 114 m.w.N. bei Fn. 230; BeckOK GmbHG/Schindler, 46. Ed. 1.11.2020, GmbHG § 48
Rn. 57). Die Berufung auf die fehlende Beschlussfähigkeit hinsichtlich der übrigen Tagesordnungspunkte käme einer vorsätzlichen Beschlussvereitelung gleich und wäre jedenfalls im vorliegenden Fall treuwidrig und unbeachtlich (zur Bewertung des Nichterscheinens zur Versammlung zum Zwecke der Beschlussverhinderung trotz ordnungsgemäßer Ladung als Treupflichtverletzung OLG Stuttgart, Beschluss vom 25. Oktober 2011 – 8 W 387/11 -, Rn. 10, juris). Etwas anderes mag gelten, wenn – was hier nicht der Fall ist (vgl. oben) – ein Einberufungsmangel vorliegt und ein Gesellschafter zunächst trotzdem zur Versammlung erscheint, sie dann aber unter gerechtfertigter Berufung auf den Einberufungsmangel wieder verlässt oder ihr nur „unter Protest“
weiter beiwohnt (OLG HammBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Hamm
, Urteil vom 27. November 1991 – 8 U 51/91 -, Rn. 6, juris).

2.
Es lag auch ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 BGB vor, der die Fristlose KündigungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Fristlose Kündigung
Kündigung
des Geschäftsführer-Anstellungsvertrags rechtfertigte. Auf die Ausführungen unter 1. kann Bezug genommen werden. Die Pflichtverletzungen des Klägers machten es der Gesellschaft unzumutbar, ihn als Geschäftsführer bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen.

3.
Wegen der übrigen klägerseits geltend gemachten Beschlussmängel wird auf die Ausführungen unter 1. verwiesen.

III.

Klaganträge Ziff. 4 und 5 (Feststellung der Nichtauflösung bzw. des Fortbestandes des Geschäftsführer-Anstellungsvertrages)

Mit Klagantrag Ziff. 4 begehrt der Kläger die Feststellung, dass sein Geschäftsführeranstellungsvertrag nicht durch die am 17. Juli 2020 zugestellte außerordentliche Kündigung aufgelöst worden
sei; mit Klagantrag Ziff. 5 begehrt er die Feststellung, dass der Vertrag auch nicht durch andere Beendigungstatbestände ende.

Auch diese Begehren haben keinen Erfolg. Der zwischen dem Kläger und der Gesellschaft bestehende Geschäftsführer-Anstellungsvertrag endete fristlos mit Zugang der Kündigungserklärung am 17. Juli 2020.

1.
Der Geschäftsführeranstellungsvertrag wurde aufgrund der zu TOP II und zu TOP VI (Ermächtigung des Herrn F. zur Beschlussumsetzung) gefassten wirksamen Beschlüsse zu Recht aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung gekündigt. Wegen des Vorliegens wichtiger Kündigungsgründe kann auf die obigen Ausführungen Bezug genommen werden (zur unterlassenen Einholung der Zustimmung der GesellschafterversammlungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Gesellschafterversammlung
Zustimmung
Zustimmung der Gesellschafterversammlung
zu einem bestimmten Geschäft als Kündigungsgrund i.S.d. § 626 BGB vgl. BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2007 – II ZR 289/06, NJW-RR 2008, 774, beck-online).

2.
Die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB ist gewahrt.
Zu berücksichtigen ist, dass die Frist gemäß § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB erst mit Kenntnis des zur Kündigung berechtigten Organs beginnt. Bei der außerordentlichen Kündigung des Anstellungsvertrages eines GmbH-Geschäftsführers beginnt die Zwei-Wochen-Frist im Fall der Zuständigkeit
der Gesellschafterversammlung daher erst dann zu laufen, wenn der Sachverhalt einer Gesellschafterversammlung unterbreitet wird und deren Einberufung nicht unangemessen hinausgezögert wurde (BGH, Urteil vom 15. Juni 1998 – II ZR 318-96; BeckOGK/Günther, 1.11.2020, BGB § 626Bitte wählen Sie ein Schlagwort:
BGB
BGB § 626
Rn. 187; MüKoBGB/Henssler, 8. Aufl. 2020, BGB § 626Bitte wählen Sie ein Schlagwort:
BGB
BGB § 626
Rn. 332).

Von einer unangemessenen Verzögerung der Gesellschafterversammlung am 03. Juli 2020 kann in Bezug auf die vorstehend ausführlich erläuterten Abberufungs- und zugleich Kündigungsgründe keine Rede sein. Wie aus der im Tatbestand dargestellten zeitlichen Abfolge ersichtlich, hatte
Herr F. zunächst über Monate vergeblich versucht, über sein Einberufungsverlangen vom 02. März 2020 Klarheit über den Sachverhalt zu bekommen. Nachdem dies am 14. Mai 2020 wegen der vom Kläger faktisch blockierten Durchführung der GesellschafterversammlungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Durchführung der Gesellschafterversammlung
Gesellschafterversammlung
gescheitert war (dazu oben 1. 3. b. cc), reagierte der Kläger auf das fristgerechte erneute Einberufungsverlangen vom 28. Mai 2020 nicht mit einer unverzüglichen Einberufung, sondern berief die Versammlung erst am letzten Tag der ihm gesetzten Frist ein. Auf die dadurch selbst verursachte Verzögerung kann sich der Kläger im Rahmen des § 626 Abs. 2 BGB nicht berufen.

IV.

Klagantrag Ziff. 6 (Geschäftsführerbestellung des Herrn F.) und Hilfsantrag

Die gegen den Beschluss über die Geschäftsführerbestellung des Herrn F. gerichteten Klaganträge (Nichtigkeitsfeststellungsklage, hilfsweise Beschlussanfechtung) sind ebenfalls unbegründet.

Die Geschäftsführerbestellung war im Einberufungsverlangen vom 28. Mai 2020 ordnungsgemäß angekündigt (Anl. B 19). Der Beschlussfassung standen weder die Begleitung des Mitgesellschafters durch Rechtsanwalt K. noch die Abwesenheit eines anwaltlichen Begleiters des Klägers entgegen (vgl. oben 1.). Die Beschlussfähigkeit der Versammlung am 03. Juli 2020 blieb auch nach Verlassen des Versammlungsraums durch den Kläger erhalten (wie oben II. 1.). Sonstige Anfechtungsgründe sind nicht ersichtlich.

V.

Klagantrag Ziff. 7 (Prüfung von Ansprüchen gegen Herrn A.) und Hilfsantrag

Der Kläger wendet sich auch gegen den Beschluss vom 03. Juli 2020 über die Prüfung und Geltendmachung von Ansprüchen gegen ihn. Er begründet die Anfechtung damit, es fehle an der Identifizierbarkeit der Umstände, die einen Schadensersatzanspruch begründen sollen (BI. 22 d.A.). Die Anfechtungsklage, d.h. Hilfsantrag Ziff. 7a, hat insoweit Erfolg.

In der Tat hatte Herr F. ausweislich des von Rechtsanwalt K. verfassten Protokolls zu TOP V eine Prüfung und Geltendmachung von Ansprüchen „unter allen erdenklichen Gesichtspunkten“ beantragt (Anl. K 14). Geht es um die gerichtliche Geltendmachung von ErsatzansprüchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Ersatzansprüchen
Geltendmachung von Ersatzansprüchen
gegen Gesellschafter und Geschäftsführer, ist jedoch grundsätzlich erforderlich, reicht aber auch aus, dass der die Abstimmung beantragende Gesellschafter im Einzelnen umreißt, worin die Pflichtverletzung und der Tatbeitrag der einzelnen Mitgesellschafter besteht. Dabei müssen die maßgeblichen Vorfälle im wesentlichen Kern benannt und der Anspruch identifizierbar bezeichnet sein. Nur dann ist die Intention des Gesetzgebers gewahrt, durch das Beschlusserfordernis nach § 46 Nr. 8 GmbHG sicherzustellen, dass ohne den Willen der Gesellschafterversammlung innere Angelegenheiten nicht nach außen getragen werden (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG München
, Urteil vom Januar 2017 – 23 U 1994/16 -, Rn. 42, juris). Zwar werden im Protokoll unter TOP I zur Abberufung des Klägers als Geschäftsführer zahlreiche Pflichtverletzungen u.a. gegen den Gesellschaftsvertrag und gegen Geschäftsführerpflichten (u.a. § 51 a GmbHG) im Kern umrissen. Es fehlt aber am zweifelsfreien Bezug des eigenständigen Beschlusses über die Prüfung und Geltendmachung möglicher Ansprüche auf die im Protokoll dokumentierte Begründung des Abberufungsbeschlusses.

VI.

Klagantrag Ziff. 8 (Ermächtigung des Herrn F.) und Hilfsantrag

Der Hauptantrag und der Hilfsantrag, der sich gegen den Beschluss über die Ermächtigung des Herrn F. richtet, die zur Umsetzung der gefassten Beschlüsse notwendigen Maßnahmen durchzuführen, hat keinen Erfolg. Der gefasste Beschluss ist von § 46 GmbHG gedeckt. Anfechtungsgründe sind nicht ersichtlich.


VII.

Nachterminliche Schriftsätze, Nebenentscheidungen

Der nachgelassene Schriftsatz vom 15. Dezember 2020 wurde berücksichtigt, enthält aber keinen neuen entscheidungserheblichen Sachvortrag.

Der nicht nachgelassene Schriftsatz des Klägers vom 14. Januar 2021 gibt keinen Anlass zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung. Das gilt auch unter Berücksichtigung der Literaturzitate auf Seite 4 des Schriftsatzes.

Die einseitige Erledigungserklärung zu Klagantrag Ziff. 1 ist als nachterminliche Klagänderung nicht berücksichtigungsfähig, maßgeblich sind die bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellten Anträge. Im Übrigen würde sie auch nicht zu einem anderen Ergebnis führen, denn sie würde nur dann zum Erfolg führen, wenn eine ursprünglich zulässige und begründete Klage durch Eintritt des erledigenden Ereignisses unzulässig oder unbegründet würde. Klagantrag Ziff. 1 war jedoch von Anfang an unbegründet (vgl. oben 1.). Der Kläger ist auch vor Eintritt der
Rechtskraft dieses Urteils aufgrund der vorläufigen Wirksamkeit des protokollierten Beschlusses bereits seit 03. Juli 2020 nicht mehr Geschäftsführer. Durch die spätere Amtsniederlegung, die ins leere geht, wäre auch das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage gegen den Abberufungsbeschluss nicht entfallen, selbst wenn die Klage – wie nicht – ursprünglich begründet gewesen wäre. Denn dann hätte der Beschluss ebenfalls Rechtswirkungen entfaltet.

Die Voraussetzungen des § 156 Abs. 2 ZPO für eine obligatorische Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung liegen offensichtlich nicht vor. Nach § 156 Abs. 1 ZPO kann das Gericht zwar die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung auch ansonsten anordnen. Hiervon möchte
das Gericht jedoch hier keinen Gebrauch machen, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich die Beklagte der einseitigen Erledigungserklärung anschließen wird, und weder Vergleichsverhandlungen im Termin am 17. November 2020 noch die außergerichtlichen Verhandlungen zwischen den Gesellschaftern zum Erfolg geführt haben und das Gericht auch keine Anhaltspunkte dafür sieht, dass sich die Parteien aufeinander zu bewegen würden. Soweit in der Literatur die einseitige Erledigungserklärung nach Schluss der mündlichen Verhandlung generell als Anlass zur Wiedereröffnung gesehen wird (MüKoZPO/Schulz, 6. Aufl. 2020 Rn. 96, ZPO § 91a Rn. 96), kann dem nicht gefolgt werden, weil ansonsten ein Kläger die Entscheidung durch
derartige nachterminliche Prozesserklärungen verzögern könnte, und die dort zitierte Entscheidung (LG Hamburg vom 20. Oktober 1994 – 316 S 164/94 FHZivR 41 Nr. 7947, beck-online) betrifft nicht die Frage der Wiedereröffnung, sondern die Frage der Zulässigkeit einer Berufung nach
Eintritt eines erledigenden Ereignisses nach Schluss der mündlichen Verhandlung, aber vor Urteilsverkündung. In der weiteren zitierten Entscheidung des OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Köln
sah das Gericht bei einseitiger Erledigungserklärung nach Schluss der mündlichen Verhandlung gerade keine Veranlassung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Köln
, Urteil vom 27. September 2016 – 9 U 26/16-, Rn. 84, juris).

Der festgesetzte Streitwert entspricht dem klägerseits vorgeschlagenen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 1, Satz 2 ZPO.

Löffler I www.K1.de I www.gesellschaftsrechtskanzlei.com I Gesellschaftsrecht I Gesellschafterstreit I Zwei Personengesellschaft I Erfurt I Thüringen I Sachsen I Sachsen-Anhalt I Hessen I Deutschland 2022

Schlagworte: Abberufung, Abberufung aus wichtigem Grund, Abberufung des Geschäftsführers, Abberufung des Geschäftsführers aus wichtigem Grund, Abberufung des GmbH-Geschäftsführers, Abberufung eines Geschäftsführers in der Zwei-Personen-GmbH, Abberufung Geschäftsführer GmbH, Abberufung von der Geschäftsführung, Abberufung von Organmitgliedern, Anwesenheit nicht teilnahmeberechtigter Personen, Auskunfts-/Einsichts-/Informations-/Kontrollrechte, Auskunftsanspruch, Auskunftspflichten, Auskunftsverlangen, Ausnahme wenn Verschulden des Gesellschafters so schwer ins Gewicht fällt dass allein seine Abberufung gerechtfertigt ist, Außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrages, Beendigung des Anstellungsvertrags aus wichtigem Grund, Beginn der Zweiwochenfrist nach § 626 BGB, Behinderung der Teilnahme an der Gesellschafterversammlung, bei Gesamtbetrachtung aller Umstände ist Struktur der Zwei-Personen-GmbH zu berücksichtigen, bei Streit kommt es in der Schwebezeit allein auf die materielle Rechtmäßigkeit der Abberufung an, Beschlussfeststellungskompetenz, Beschlussfeststellungskompetenz bei jeweils hälftiger Beteiligung, Besonderheiten bei der Zwei-Personen-GmbH, Besonderheiten in der Zwei-Personen-Gesellschaft, Besonderheiten in Zwei-Personen-GmbH, Bestellung und Abberufung Anstellung und Kündigung, Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern, Beweislasterleichterung, Beweislastumkehr, Darlegung, Darlegungs- und Beweislast, Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines wichtigen Grundes, Definition Geschäftsführungsbefugnis, Einberufung, Einberufungsfrist bei Einberufungsverlangen, Einberufungspflicht, Einberufungsrecht, Einberufungsverlangen, Einberufungszuständigkeit, Einstweiliger Rechtsschutz im Abberufungsstreit, Entbehrlichkeit wegen Förmelei, Entscheidungskompetenz der Geschäftsführer, Entscheidungskompetenz der Gesellschafter, Entzug des Auskunfts- und Einsichtsrechts nach § 51 a GmbHG, Erfordernis eines Abberufungsbeschlusses oder unnötige Förmelei, Evidente Verletzung von Einberufungsvorschriften, Fehlende Beschlussfähigkeit, Feststellung der Beschlussfähigkeit, Feststellungskompetenz, Firmenfahrzeug, Förmelei, Förmliche Einberufungsvoraussetzungen, Geschäftsführungsbefugnis, Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 8 GmbHG, Gesellschafterstreit, GmbH-Geschäftsführeranstellungsvertrag, Gründe für die Abberufung, Haftung nach § 43 GmbHG, Haftung wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht gemäß § 43 Abs. 1 GmbHG, Handeln ohne Gesellschafterzustimmung, jeder Gesellschafter kann abberufen werden, jeder Gesellschafter kann abberufen werden selbst wenn sein Beitrag zum Zerwürfnis geringer ausfällt, kein wichtiger Grund wenn in Person des anderen Gesellschafters ebenso ein wichtiger Grund vorliegt, Kompetenzüberschreitung, Kündigung des Anstellungsvertrags aus wichtigem Grund, Mangelhafte Ankündigung des Beschlussgegenstandes, Mehrheitsbeschluss bei paritätisch besetzter Zweimann-GmbH nur bei Stimmrechtsausschluss eines Gesellschafters, meist wechselseitige Anträge auf Abberufung, Missachtung eines Zustimmungsvorbehalts in Satzung, Missbrauch von Geschäftsführungsbefugnissen, Mitwirkungs- und Auskunftspflichten, nachhaltige Weigerung der Einsicht in Geschäftsunterlagen oder Auskunft, nachhaltiger Verstoß gegen die Beschränkungen der Geschäftsführungsbefugnis, Nachschieben von Anfechtungsgründen, Nachschieben von Gründen, Nahe Angehörige, objektive Beweislast, Objektiver Zweifel ob eine Maßnahme die Kompetenz der Geschäftsführung überschreitet, Offenbare Unrichtigkeit, Pflichtverletzung nach § 43 Abs. 2 GmbHG, Pflichtverletzung nach § 43 Abs. 3 GmbHG, Recht auf Hinzuziehung eines Beraters, Sachliche Einberufungsvoraussetzungen, sekundäre Beweislast, sekundäre Darlegungslast, Teilnahmeberechtigte Personen, Teilnahmerecht in Gesellschafterversammlungen, tiefgreifendes Zerwürfnis zwischen den Gesellschaftern als zusätzlicher Grund nach § 38 Abs.2 GmbHG, Treuepflicht und Zustimmungspflicht, Treuwidrige Ausnutzung der Beschlussfähigkeit, Versammlungsleiter, Verstoß gegen § 12 Abs. 1 BORA, Vertrauensverletzung, Verwirkung der Abberufung aus wichtigem Grund, Verwirkung des Widerrufs, vorsätzliche Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis, Waffengleichheit, Wenn in Person des anderen Gesellschafters ebenso ein wichtiger Grund vorliegt, Wichtiger Grund, wichtiger Grund liegt tatsächlich vor, Zustimmungserfordernis, Zustimmungspflicht bei notwendiger Geschäftsführungsmaßnahme, Zustimmungsvorbehalt anderer Gesellschaftsorgane, Zustimmungsvorbehalte zu Geschäftsführungsangelegenheiten, Zwei Mann GmbH, Zwei Personen GmbH, Zwei-Personen-Gesellschaft, Zwei-Personen-Gesellschaft Check, Zwei-Personen-GmbH Abberufung, zweigliedrige Gesellschaft

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OLG Stuttgart Urteil vom 14.1.2021 – 2 U 34/20

Donnerstag, 14. Januar 2021

§ 287 ZPO; § 14 Abs. 6 MarkenG

Zur Schätzung eines nach den Grundsätzen der Lizenzanalogie zu ersetzenden Schadens, wenn eine bekannte Marke (für ein Gerüstsystem) verwendet wird, um den Leser zum Öffnen einer Werbesendung für ein eigenes Produkt (kompatibles Gerüstsystem) zu veranlassen, indem durch die Gestaltung der Werbesendung der Eindruck erweckt wird, diese stamme vom Hersteller des bekannten Produkts.

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 14.01.2020, Az. 17 O 607/19, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1.1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 33.550,00 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.02.2017 zu zahlen.

1.2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

3. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin 32,5% und die Beklagte 67,5%. Von den Kosten in erster Instanz tragen die Klägerin 37,5% und die Beklagte 62,5%.

4. Dieses Urteil und das angefochtene Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 14.01.2020, Az. 17 O 607/19, sind vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.

5. Die Revision wird zugelassen.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 49.678,41 EUR

Gründe

I.

1.

Die Klägerin ist die führende Herstellerin von Gerüsten und Gerüstsystemen in Deutschland und Europa. Sie ist Inhaberin zahlreicher Marken, u.a. der deutschen Wortmarke „X“, eingetragen für Gerüste jeder Bauart (Anlage K4, Bl. 25).

Die Beklagte produziert und vertreibt ein Gerüstsystem, bei dem es sich um einen Nachbau des Gerüstsystems „A“ der Klägerin handelt.

Am 08.02.2017 versandte die Beklagte gleich gestaltete Briefe an insgesamt 34.962 Empfänger. An mehreren Stellen war das Wort „X“ gegenüber den weiteren Angaben grafisch deutlich hervorgehoben. So enthielten die Briefumschläge neben dem jeweiligen Adressaten die folgende Angabe:

In den Briefumschlag eingelegt war ein Werbeblatt mit folgenden Angaben auf der Vor- und Rückseite:

Außerdem enthielten die Briefumschläge eine Preisliste/Bestellliste mit folgender Angabe:

Die Werbematerialien waren darüber hinaus im Zeitraum vom 01.02.2017 bis 16.03.2017 auf der Internetseite der Beklagten abrufbar.

Mit Schreiben vom 15.03.2017 mahnte die Klägerin die Beklagte wegen dieser Werbeaktion ab (Anlage K9, Bl. 30). Auf die Abmahnung der Klägerin gab die Beklagte am 07.04.2017 eine strafbewehrte Unterlassungserklärung ab, in der sich die Beklagte u.a. verpflichtete, der Klägerin sämtlichen Schaden zu ersetzen, der dieser durch die bezeichneten Verletzungshandlungen entstanden war und künftig noch entstehen würde (Anlage K10, Bl. 31). Die Klägerin nahm die Unterlassungserklärung an (Anlage K11, Bl. 32).

Nach einigem Streit über die Richtigkeit der von der Beklagten bis dahin erteilten Auskünfte erteilte die Beklagte gegenüber der Klägerin schließlich die Auskunft, dass sie im Zeitraum vom 01.02.2017 bis 30.04.2017 in Deutschland mit den markenverletzend beworbenen Gerüstbauteilen einen Umsatz von netto 669.523,67 EUR erzielt habe (Anlage K14, Bl. 35). Ihren Gewinn bezifferte die Beklagte auf 104.762 EUR. Die Klägerin geht unter Berücksichtigung einer weiteren Rechnung von einem Gesamtumsatz von 670.980,17 EUR aus.

Auf der Basis dieses Umsatzes verlangte die Klägerin von der Beklagten Schadensersatz in Höhe einer fiktiven Lizenzgebühr, die sie mit 8% des erzielten Nettoumsatzes und damit i.H.v. 53.678,41 EUR bezifferte (Anspruchsschreiben vom 15.02.2019, Anlage K15, Bl. 36). Die Beklagte hielt demgegenüber lediglich eine Lizenzgebühr in einer Höhe zwischen 2.500 EUR bis 5.000 EUR für angemessen, was etwa 5 bis 10% des tatsächlich erzielten Gewinns entspräche (Schreiben vom 01.03.2019, Anlage K16, Bl. 37).

Die Klägerin hat in erster Instanz beantragt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 53.678,41 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 1. Februar 2017 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt:

Die Klage wird abgewiesen.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in erster Instanz wird auf die Schriftsätze und auf die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Landgerichts Bezug genommen.

2.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Klägerin könne gem. § 14 Abs. 6 MarkenG von der Beklagten im Wege des Schadensersatzes nach den Grundsätzen der Lizenzanalogie 8% des der Höhe nach unstreitigen Umsatzes von 670.980,17 EUR verlangen.

In Ermangelung anderer geeigneter Anknüpfungspunkte sei an die in den Zeitraum der Werbung fallenden Umsätze anzuknüpfen. Eine Lizenzgebühr i.H.v. 8% dieses Umsatzes erscheine sachgerecht, weil in dem Werbeschreiben die in den Fachkreisen überragend bekannte Bezeichnung „X“ mehrfach blickfangmäßig hervorgehoben werde, so dass auf den ersten Blick der Eindruck vermittelt werde, es handele sich um ein Angebot der Klägerin. Anders als bei der üblichen Einräumung von Markenlizenzen gingen etwaige auf die Verwendung der Marke zurückzuführende Umsätze der Beklagten zu Lasten der Klägerin, die entsprechende Umsatzeinbußen erleide. Dies und die Gefahr des dauerhaften Verlusts von Kunden mache die wirtschaftliche Bedeutung der Werbung deutlich.

Keine größere Bedeutung habe die Frage, wie hoch der prozentuale Gewinn der Beklagten am erzielten Umsatz sei, weil die Werbeaktion auch dazu diene, zukünftige Kunden und Umsätze zu generieren. Der erzielte Gewinn stelle deshalb keine Obergrenze für die angemessene Lizenzgebühr dar.

Im Ergebnis bedeute dies, dass die Beklagte pro Werbeschreiben ca. 1,50 EUR als Schadensersatz zu entrichten habe. Dies erscheine nicht unrealistisch.

3.

Die Beklagte wendet sich gegen das Urteil, soweit sie zu einer höheren Zahlung als 4.000 EUR verurteilt wurde. Zur Begründung führt sie Folgendes aus:

Das Landgericht habe bei seiner Entscheidung rechtsfehlerhaft fast alle Tatsachen, die von der Beklagten vorgetragen worden seien, nicht berücksichtigt und unkritisch und ohne nähere Begründung die von der Klägerin angesetzte Höhe des Lizenzsatzes übernommen.

a)

Die Beklagte habe vorgetragen, dass die üblichen Lizenzsätze bei Markenverletzungen zwischen 1 und 5% lägen. Das Landgericht hätte demnach zunächst einen üblichen Lizenzsatz ermitteln müssen, um anhand von diesem den konkreten Lizenzsatz ermitteln zu können.

Der Ansatz von 8% sei vollkommen willkürlich. Soweit das Landgericht dies damit begründe, dass die streitgegenständliche Verletzung wegen der blickfangartigen Werbung nicht weniger schwer wiege wie eine klassische Markenverletzung, setze es zu Unrecht die markenrechtswidrige Hervorhebung mit Verstößen einer rechtswidrigen Kennzeichnung gleich.

Da das Landgericht auch versäumt habe festzustellen, welcher Prozentsatz des Umsatzes für eine einfache oder normale Markenverletzung angemessen wäre, sei auch völlig offen, warum hierfür nicht auch 1 oder 3% angemessen sein sollten.

Tatsächlich habe die Klägerin zu einem üblichen Lizenzsatz in der Branche der Parteien nichts substantiiert vorgetragen, sondern sich lediglich auf eine Entscheidung des OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Hamburg
bezogen, die für eine andere Branche und unter anderen Umständen 8% aus einem fiktiven Pauschalbetrag zugesprochen habe.

b)

Entgegen der Ansicht des Landgerichts gebe es außer dem Umsatz auch anderweitige geeignete Anknüpfungspunkte. Dies stelle das Landgericht selbst fest, wenn es pro Werbeschreiben ca. 1,50 EUR als Schadensersatz für realistisch halte.

Desweiteren wäre neben der vom Landgericht als möglich erachteten Stücklizenz auch eine Pauschallizenz denkbar. Diese läge auch näher, da Umsätze Werbeaktionen regelmäßig nicht zugeordnet werden könnten und sich die Lizenz daher eher an Art und Umfang der Werbung als an den damit erzielten Umsätzen orientieren werde.

Nach der Rechtsprechung des BGH sei es für die Bemessung des Schadens im Wege der Lizenzanalogie erforderlich, die branchenüblichen Vergütungssätze und Tarife als Maßstab heranzuziehen (BGH, GRUR 2019, 292, Rn. 19). Das Landgericht habe jedoch keine Feststellungen dazu getroffen, dass eine Berechnung der Lizenzgebühr anhand des Umsatzes branchenüblich sei.

Eine Lizenzgebühr von 1,50 EUR pro Werbeflyer sei unrealistisch. In dem von der Klägerin herangezogenen Fall des OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Hamburg
(Urteil vom 09.02.2017 – 5 U 222/12) habe die dortige Klägerin für einen markenrechtsverletzenden Prospekt selbst eine angemessene Lizenzgebühr von einem Cent pro verteiltem Prospekt angegeben. Dabei sei es in diesem Fall um die berühmte Marke von Volkswagen in einem Prospekt von A.T.U. gegangen. Bei einem Cent pro Werbeflyer läge der angemessene Lizenzschaden bei 349,62 EUR, was eine realistischere Größe wäre, weil Postwurfsendungen/Mailings wie die streitgegenständlichen ohnehin von der Mehrzahl der Empfänger umgehend und ungelesen vernichtet würden und die Reaktionsquote im Regelfall bei nicht mehr als 1%, eher noch deutlich darunter liege.

c)

Das Landgericht übergehe desweiteren, dass die Beklagte grundsätzlich berechtigt gewesen sei, auf die bestehende Vermischungszulassung mit den Gerüsten der Klägerin hinzuweisen und in diesem Zusammenhang die Marke der Klägerin auch zu nennen. Die Intensität der Markenverletzung sei daher gering.

Das Landgericht berücksichtige ferner nicht, dass sich die von den Parteien angebotenen Gerüstbauteile ausschließlich an Fachkreise richteten, die vor einer Kaufentscheidung Informationen zu allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungen einholen würden. Aus der Zulassung ergebe sich, dass sich diese nur auf Gerüste der Beklagten und nicht der Klägerin beziehe. Vor diesem Hintergrund unterliege der Fachverkehr auch keinen Fehlvorstellungen und gebe es auch keine Marktverwirrung.

Außerdem habe das Landgericht nicht berücksichtigt, dass mit der Werbung weniger als 1/6 der insgesamt am deutschen Markt bestehenden über 200.000 Betriebe, die als potentielle Kunden in Betracht kämen, angesprochen worden seien. Ggf. hätte das Landgericht auf ein Beweisangebot zu diesem streitigen Vortrag hinwirken müssen.

Entgegen der Ansicht des Landgerichts sei die Umsatzrendite der Beklagten relevant (BGH, GRUR 2010, 239, Ströbele/Hacker/Tiering, § 14 Rn. 702). Die Umsatzrendite der Beklagten habe deutlich unter 7% gelegen, im Jahr 2017 bei lediglich 5,21% (Anlagen KPW1 und 2; Zeugnis des Steuerberaters der Beklagten). Die vom Landgericht angesetzte Lizenzgebühr übersteige die Umsatzrendite der Beklagten deutlich.

Das Landgericht habe mit dem Gewinn, den die Beklagte ausweislich ihrer Auskunft erzielt habe, die falsche Bezugsgröße gewählt, denn relevant für die Berechnung im Wege der Lizenzanalogie sei nicht der tatsächliche Gewinn, sondern der Gewinn, den die Parteien bei Abschluss eines Lizenzvertrags prognostiziert hätten. Hierzu fehle jeglicher Vortrag der Klägerin. Die Wirkung der streitgegenständlichen Werbung auf den Gewinn sei gering gewesen, denn die klägerische Marke hätte die Beklagte wegen des zulässigen Hinweises auf die Vermischungszulassung ohnehin nennen dürfen. Tatsächlich beziehe sich der Umsatz größtenteils auf Bestandskunden, die ungeachtet der Werbung bei der Beklagten bestellt hätten. Auch habe sich der Umsatz vor und während der streitgegenständlichen Werbung in der gleichen Größenordnung bewegt.

Die Klägerin habe versucht, beide Schadensberechnungsmethoden (Verletzergewinn und Lizenzanalogie) zu vermischen und das Landgericht sei dem rechtsirrig gefolgt. Dass der vom Landgericht im Wege der Lizenzanalogie zugesprochene Betrag nicht mehr angemessen sei, ergebe sich aus einer Kontrollüberlegung zum Verletzergewinn. Der zugesprochene Betrag entspräche mehr als 50% des gesamten Gewinns der Beklagten, obwohl die Klägerin nur den anteiligen Gewinn verlangen könnte, der auf der Markenrechtsverletzung beruhe. Da die Rechtsverletzung nur in der Werbung erfolgt sei und nicht am Produkt und die Auskunft auch Umsätze beinhaltet habe, die nicht unbedingt auf der Werbung beruht hätten (Bestandskunden und Kunden, die die Werbung nicht gesehen oder ignoriert haben), wären bei einem Verletzergewinn maximal 5% angemessen, was 5.238,10 EUR entsprechen würde.

Die Beklagte/Berufungsklägerin beantragt,

das Urteil des LG Stuttgart (17 O 617/19) wie folgt abzuändern:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 4.000,00 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.02.2017 zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Klägerin/Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das landgerichtliche Urteil als richtig.

Dass das Landgericht als Berechnungsgrundlage den Nettoumsatz herangezogen habe, den die Beklagte mit den markenverletzend beworbenen Produkten erzielt habe, entspreche den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen (OLG DüsseldorfBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Düsseldorf
, BeckRS 2015, 13605, Rn. 292 mwN). Andere Berechnungsweisen wären mit großen Unsicherheiten verbunden gewesen.

Die Behauptung der Beklagten, dass die meisten Umsätze mit Bestandskunden erzielt worden seien, die ungeachtet der Werbung bei der Beklagten bestellt hätten, werde bestritten. Die Behauptung sei auch irrelevant, weil sich ein vernünftiger Lizenzgeber nicht auf ein Lizenzmodell eingelassen hätte, bei dem er nachweisen müsste, dass der Lizenznehmer mit der Werbung Neukunden gewonnen habe. Der BGH habe eine solche Aufteilung zwischen Alt- und Neukunden ausdrücklich verworfen (BGH GRUR 2010, 239, Rn. 37 f.).

Das Landgericht habe keinen wie auch immer gearteten üblichen Lizenzsatz ermitteln müssen. Denn es gebe für die streitgegenständliche Verletzungsform keine marktübliche Lizenz.

Auch wenn man wie von der Beklagten gefordert eine „übliche“ Lizenzhöhe von bis zu 5% zugrunde legen würde, ergäbe sich aufgrund der verschiedenen lizenzerhöhenden Faktoren im vorliegenden Fall, insbesondere der überragenden Bekanntheit der verletzten Marke, des großen Adressatenkreises und der mehrfachen hervorgehobenen Benutzung der Marke eine Lizenzhöhe von mindestens 8%.

Eine prozentuale Umsatzlizenz entspreche der Interessenlage bei einer fiktiven Lizenz, bei der der Markeninhaber am wirtschaftlichen Erfolg partizipieren möchte, der durch den Eingriff in sein Markenrecht erwirtschaftet worden sei. Ob es daneben weitere konkrete Möglichkeiten der Schadensberechnung gebe, sei irrelevant.

Eine Schadensersatzhöhe von ca. 1,50 EUR pro Werbeschreiben wäre ohne weiteres angemessen. Die Beklagte lasse bei dem Vergleich mit dem Schadensersatzbetrag im Fall des OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Hamburg
(BeckRS 2017, 149297, Rn. 5) außer Betracht, dass es im vorliegenden Fall um Werbung für Gerüstbauteile mit einem Bestellwert von mehreren tausend Euro gehe und nicht um Kfz-Inspektionen zum Preis von 49 EUR wie im Fall des OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Hamburg
. Angesichts dieses potentiellen Bestellwerts sei eine Lizenzgebühr von 1,50 EUR pro Flyer eine überschaubare Investition, selbst wenn die Reaktionsquote lediglich 1% betragen sollte, was im Übrigen zu bestreiten sei.

Dabei seien auch die möglichen Folgeumsätze einer erfolgreichen Kundenakquise zu berücksichtigen, denn aufgrund des bauaufsichtlichen Zulassungssystems zögen Investitionen in ein bestimmtes Gerüstsystem regelmäßig größere Folgeinvestitionen in dieses Gerüstsystem nach sich.

Der Hinweis der Beklagten auf das Urteil des BGH in GRUR 2019, 292 – Foto eines Sportwagens – gehe an der Sache vorbei, weil es in dem zitierten Fall um Schadensersatz für die Verletzung von Lichtbildwerken gegangen sei und es für die Nutzung von Lichtbildern – anders als hier – eine branchenübliche Lizenzierungspraxis gebe.

Die Umsatzrendite sei zwar grundsätzlich einer der Faktoren, die bei der Bestimmung der Lizenzhöhe zu berücksichtigen sein könnten. Die Besonderheit der Werbeaktion der Beklagten liege aber darin, dass sie unter hervorgehobener Verwendung der überragend bekannten Marke „X“ den gesamten deutschen Markt für Gerüstbauteile beworben habe und damit versucht habe, Kunden abzuwerben, was im Gerüstbau – wie oben dargelegt – mit erheblichen Folgeumsätzen verbunden sei. Deshalb sei die Feststellung des Landgerichts richtig, dass der Rendite im vorliegenden Fall keine maßgebliche Bedeutung zukomme.

Hinzu komme, dass auch ein Marktverwirrungsschaden eingetreten sei, der zusätzlich lizenzerhöhend zu berücksichtigen sei, denn mehrere Kunden der Klägerin hätten sich im Anschluss an die Werbesendung bei der Klägerin erkundigt, ob diese nunmehr eine Zweitmarke „Y“ gestartet habe (Zeugnis Dipl-Ing. I).

Im Übrigen werde die von der Beklagten behauptete Umsatzrendite von 5,21% bestritten, denn diese stehe im Widerspruch zum eigenen Vortrag (7% laut Klagerwiderung), zu der ursprünglich vorgelegten Gewinnberechnung (Anlage K20, Bl. 68: Gewinn 105.930,57 EUR : Verkaufserlöse 711.671,32 EUR = Umsatzrendite 14,9%) und zu der sich aus der zuletzt erteilten Auskunft ergebenden Rendite (Anlage K14, Bl. 35: Gewinn 104.742,06 EUR : Umsatz 669.523,67 EUR = Umsatzrendite 15,6%).

Die Kontrollüberlegung der Beklagten zum Verletzergewinn sei nicht richtig. Der Verletzergewinn begrenze den nach der Lizenzanalogie berechneten Schaden nicht. Zudem sei die Werbekampagne auf eine langfristige Umsatzsteigerung angelegt gewesen.

Es liege kein Fall einer geringen Markenverletzung vor. Die Beklagte habe vielmehr die überragend bekannte Marke „X“ in überaus dreister Weise vorsätzlich verletzt. Auf die Schutzschranke des § 23 Abs. 1 Nr. 3 MarkenG könne sich die Beklagte bei der konkret gewählten Form ihrer Werbung nicht berufen. Das Landgericht habe dies zu Recht berücksichtigt.

Dass sich die streitgegenständliche Werbung nur an Fachkreise richte, sei nicht lizenzmindernd zu berücksichtigen. Zunächst sei die Werbung nicht lediglich an Unternehmer versandt worden, sondern sei zusätzlich für jedermann im Internet abrufbar gewesen. Ein wichtiger Erfolg der Werbekampagne sei bereits dadurch eingetreten, dass sich die angeschriebenen Unternehmer wegen der überragend bekannten Marke „X“ überhaupt erst mit der Werbung der Beklagten beschäftigt hätten, noch bevor sie sich über die technischen Eigenschaften der beworbenen Produkte hätten informieren können.

Entgegen der Ansicht der Beklagten habe das Landgericht keinen Beweis darüber erheben müssen, ob mit den 34.962 Empfängern der Briefwerbung der Markt vollständig abgedeckt gewesen sei. Das Landgericht habe es für maßgeblich erachten dürfen, dass die Beklagte in großem Umfang mit der überragend bekannten Marke „X“ der Klägerin geworben habe.

Wegen der Einzelheiten und wegen des weiteren Vortrags der Parteien in zweiter Instanz wird auf die eingereichten Schriftsätze und das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist teilweise begründet.

1.

Dass der Klägerin gegen die Beklagte dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch aus § 14 Abs. 6 Satz 1 MarkenG zusteht, hat das Landgericht zutreffend bejaht und wird von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen. Der Schadensersatzanspruch kann nach § 14 Abs. 6 Satz 3 MarkenG auf der Grundlage des Betrags berechnet werden, den die Beklagte als angemessene Vergütung hätte entrichten müssen, wenn sie die Erlaubnis zur Nutzung der Marke eingeholt hätte.

Daneben steht der Klägerin auch ein Schadensersatzanspruch aus Ziff. 4 der strafbewehrten Unterlassungserklärung der Beklagten vom 07.04.2017 zu. In dieser Erklärung hat sich die Beklagte verpflichtet, der Klägerin sämtlichen Schaden zu ersetzen, der dieser durch Verletzungshandlungen aus dem Werbeschreiben entstanden ist und künftig noch entstehen wird. Davon auszugehen ist, dass nach dem Willen der Vertragsparteien auch dieser Schadensersatzanspruch entsprechend den allgemeinen, im Markenrecht geltenden Grundsätzen zu berechnen ist, d.h. auch im Wege der Lizenzanalogie berechnet werden kann, da für die Parteien kein Anlass bestand, vertraglich eine andere Rechtsfolge zu wählen.

2.

Der Senat schätzt den entstandenen Schaden gem. § 287 ZPO auf 33.550,00 EUR.

a)

Grundgedanke der Schadensberechnung im Wege der Lizenzanalogie ist, dass der Verletzer als Schadensersatz jedenfalls das schulden soll, was für eine rechtmäßige Nutzung der Marke hätte bezahlt werden müssen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Markeninhaber bereit gewesen wäre, eine Lizenz zu erteilen, und ob der Verletzer bereit gewesen wäre, eine Vergütung in der geschuldeten Höhe zu zahlen. Ebenso kommt es nicht darauf an, ob das konkret verletzte Schutzrecht tatsächlich lizenziert wird, ob überhaupt ein realer (konkreter) Schaden entstanden ist und ob der Verletzer einen Gewinn erzielt hat (Thiering in Ströbele/Hacker/Thiering, Markengesetz, 12. Aufl. 2018, § 14, Rn. 695).

Geschuldet ist, was bei vertraglicher Einräumung ein vernünftiger Lizenzgeber gefordert und ein vernünftiger Lizenznehmer bezahlt hätte, wenn beide Parteien die im Zeitpunkt der Entscheidung gegebene Sachlage gekannt hätten. Der Verletzer soll nicht schlechter, aber auch nicht besser als ein vertraglicher Lizenznehmer gestellt werden. Maßgeblich ist der objektive Wert der angemaßten Benutzungsberechtigung (Thiering, aaO., § 14, Rn. 698).

Die im Einzelfall angemessene Lizenzgebühr kann, weil sie auf hypothetischen Berechnungen basiert, in der Regel nur aufgrund einer wertenden Betrachtung und bei gleichzeitiger Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls gemäß § 287 Abs. 1 ZPO nach freier richterlicher Überzeugung bestimmt werden. Dabei sind alle Umstände zu berücksichtigen, die vernünftig denkende Parteien im Rahmen ihrer (fiktiven) Lizenzverhandlungen berücksichtigt hätten (Goldmann in BeckOK Markenrecht, 23. Ed. Stand 01.10.2020, § 14 Rn. 766).

Allgemeine Bemessungsfaktoren für die Höhe der Lizenzgebühr sind der Bekanntheitsgrad und der Ruf der verletzten Marke, das Alter der Marke, das Ausmaß der Verwechslungsgefahr, insbesondere der Grad der Zeichenähnlichkeit und der Grad der Warenähnlichkeit sowie die Bandbreite marktüblicher Lizenzsätze. Darüber hinaus ist auch die Dauer der Verletzungshandlungen zu berücksichtigen (Thiering, aaO., § 14, Rn. 699).

Zu den berücksichtigungsfähigen Faktoren gehört auch die in der jeweiligen Branche üblicherweise zu erzielende Umsatzrendite, denn die in der jeweiligen Branche üblichen Umsatzerlöse hätten bei freien Lizenzverhandlungen Einfluss auf die Höhe der Vergütung. Davon auszugehen ist, dass ein vernünftiger Lizenznehmer regelmäßig keine Lizenzgebühr vereinbaren wird, die doppelt so hoch ist wie der zu erwartende Gewinn, weshalb eine geringe Umsatzrendite einen den Lizenzsatz reduzierenden Faktor darstellt. Umgekehrt kann sich eine hohe Umsatzrendite aber auch erhöhend auf den Lizenzsatz auswirken (Thiering, aaO., Rn. 702).

b)

Die Berechnung der fiktiven Lizenzgebühr auf der Basis einer Umsatzlizenz, wie von der Klägerin in ihrer Schadensberechnung vorgenommen, ist nicht zu beanstanden.

Was für eine Lizenzgebühr geschuldet ist, richtet sich nach dem Lizenztyp. Im Grundsatz kommen zwei Arten der Lizenz in Betracht, einmal die Pauschallizenz, bei der die Lizenz gegen Zahlung eines einmaligen Pauschalbetrags gewährt wird, oder die Stücklizenz, bei der der Lizenzbetrag von der Stückzahl des lizenzierten Produkts abhängig gemacht wird (Goldmann in BeckOK Markenrecht, aaO., § 4, Rn. 767). Die Umsatzlizenz, bei der der Lizenznehmer einen festgelegten Prozentsatz seines Erlöses entrichtet, ist ein Sonderfall der Stücklizenz (Goldmann, ebenda).

Eine Umsatzlizenz kommt auch dann in Betracht, wenn – wie hier – das verletzte Kennzeichen ausschließlich in der Werbung verwendet wird (Goldmann in BeckOK Markenrecht, aaO., § 14 Rn. 768.1; OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, BeckRS 2017, 149297 – Große Inspektion für Alle [Betragsverfahren]). Der Berechnung einer fiktiven Lizenzgebühr auf der Basis einer Umsatzlizenz steht dabei nicht entgegen, dass es bei der Werbung keinen Umsatz gibt, der sich allein auf das markenrechtsverletzende Verhalten des Schädigers bezieht, wenn dieser – wie hier – eigene Produkte vertreibt und diese abgesehen von der markenverletzenden Werbung auch ordnungsgemäß feilbietet. Der Unterschied zwischen der Benutzung der Marke für eine Produktionsnachbildung und der Benutzung im Zusammenhang mit einer Werbung für eine eigene – erlaubte – Tätigkeit ist vielmehr bei der Höhe des zu bildenden fiktiven Lizenzsatzes zu berücksichtigen, so wie es auch das OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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in der zitierten Entscheidung getan hat (OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, Urteil vom 09.02.2017, 5 U 222/12, juris, Rn. 78 „maßvoll milder“).

Gegen die vom Landgericht gewählte Berechnungsmethode kann ferner nicht eingewandt werden, dass sich die Lizenzgebühr auch an der Art und dem Umfang der beanstandeten Werbemaßnahme, insbesondere an der Anzahl der versandten Werbeschreiben, orientieren könnte. Zwar besteht grundsätzlich die Möglichkeit, die Höhe der zu zahlenden Lizenz nach der vom Verletzer betriebenen Werbung zu bemessen (vgl. BGH, GRUR 2006, 143, 146 – Catwalk). Die Anknüpfung der Lizenzgebühr an Art und Umfang des Werbeaufwands ist aber nicht per se besser geeignet als die Anknüpfung an den Umsatz, um die Höhe der fiktiven Lizenzgebühr zu ermitteln. Denn auch bei der Anknüpfung an die Art und den Umfang der Werbemaßnahme müsste die für das einzelne Werbeschreiben angemessene Gebühr anhand allgemeiner Kriterien ermittelt werden. Gleiches gilt für die Ermittlung der Gebühr, die für den Werbeauftritt im Internet zu zahlen wäre. Dass auf diesem Weg genauer bzw. besser eingeschätzt werden könnte, welche Höhe die fiktive Lizenzgebühr hat, ist nicht ersichtlich, wie schon der Streit der Parteien darüber zeigt, ob ein Betrag von 1,50 EUR pro Werbeflyer realistisch wäre.

c)

Im vorliegenden Fall erscheint ein fiktiver Lizenzsatz von 5% angemessen.

aa)

Eine eigene Lizenzierungspraxis der Klägerin, die Maßstab für den anzuwendenden Lizenzsatz sein könnte (vgl. hierzu Goldmann in BeckOK MarkenR, aaO., § 14, Rn. 770), gibt es nicht. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Klägerin Lizenzen für die streitgegenständliche Wortmarke vergibt.

bb)

Entgegen den Angriffen der Berufung kann auch nicht auf branchenübliche Vergütungssätze abgestellt werden, denn branchenübliche Vergütungssätze gibt es laut Klägerin nicht und die Beklagte bestreitet diese Behauptung der Klägerin nicht substantiiert. Die Beklagte verlangt lediglich, dass die Klägerin zu den branchenüblichen Vergütungssätzen vorträgt, hält aber keinen Vortrag dazu, dass es diese Vergütungssätze überhaupt gibt bzw. welche Höhe diese Vergütungssätze haben.

cc)

Die marktübliche Lizenz muss daher nach allgemeinen Kriterien geschätzt werden. Dabei kommt den „üblichen Lizenzsätzen“ als Ausgangspunkt der Beurteilung eine besondere Bedeutung zu (BGH, GRUR 2010, 239, Rn. 25 – BTK; Goldmann in BeckOK MarkenR, aaO., § 14, Rn. 769).

Der BGH hat einen Rahmen zwischen 1% und 5% vom Netto-Umsatz nicht beanstandet (BGH GRUR 2010, 239, Rn. 25 – BTK). Rechtsprechung und Literatur geben diese Spanne bei Marken- und Kennzeichenverletzungen nahezu übereinstimmend an (vgl. Goldmann in BeckOK Markenrecht, aaO., § 14, Rn. 769 mwN; Thiering, aaO., § 14 Rn. 707). Die gerichtliche Praxis bewegt sich selbst bei äußerst wertvollen, berühmten Marken und Unternehmenskennzeichen wie „Mercedes“ fast durchgängig in dieser Bandbreite (LG Düsseldorf, BeckRS 2004, 11251). Nur ganz selten finden sich höhere Werte (OLG MünchenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, NJOZ 2001, 1442: 15% – BOSS HUGO BOSS) oder niedrigere Werte (OLG HammBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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BeckRS 2009, 23081: 0,25% – Haushaltsschneidewaren II). Die angegebene Spanne bleibt aber auch in solchen Fällen der anerkannte Rahmen und die Abweichung wird jeweils gesondert gerechtfertigt (Goldmann in BeckOK MarkenR, aaO., § 14 Rn. 769; zur Kritik hieran, weil der Korridor mit 0% bis 20% breiter sei, vgl. Goldmann, aaO., Rn. 769.1 und Binder, GRUR 2012, 1168; letzterer auch instruktiv zur Historie der „1% – 5%“ in Literatur und Rechtsprechung).

dd)

Unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falls ist ein Lizenzsatz von 5%, d.h. ein Lizenzsatz am oberen Rand der „üblichen Lizenzsätze“ angemessen. Im Einzelnen:

(i)

Eine wichtige Rolle für die Bemessung des Lizenzsatzes ist der Bekanntheitsgrad und der Ruf des verletzten Kennzeichens (BGH, GRUR 2010, 239, Rn. 25 – BTK; GRUR 1966, 375, 378 – Meßmer Tee II; OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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BeckRS 2014, 174 sub 3.a) – Fair Play II; Goldmann in BeckOK MarkenR, aaO., § 14, Rn. 772).

Der Bekanntheitsgrad der klägerischen Marke bei Gerüstbauunternehmen ist nach dem unbestrittenen und zudem durch Gutachten belegten (Anlage K5, Bl. 26) Vortrag der Klägerin überragend. Er liegt bei 88,5%.

Da es nach dem Klägervortrag in Deutschland nur etwa 2.500 Gerüstbau-Betriebe gibt, ist allerdings zu berücksichtigen, dass ein Großteil der streitgegenständlichen Werbebriefe nicht an Gerüstbaubetriebe versandt wurden, sondern an sonstige Betriebe, die Gerüste nur in kleineren Mengen benötigen, wie z.B. Maler, Stuckateure oder Maurer. Dass die Klägerin auch in diesen Verkehrskreisen einen Bekanntheitsgrad von annähernd 90% hätte, ist nicht dargelegt. Es wäre aber verfehlt, eine überragende Bekanntheit nur in Bezug auf den kleinen Teil der Werbeadressaten anzunehmen, bei dem es sich um Gerüstbauunternehmen handelt. Dies ließe zum einen unberücksichtigt, dass Gerüstbau-Unternehmen die Hauptabnehmer der Produkte der beiden Parteien sind. Von den in der als Anlage K20 vorgelegten Auskunft erfolgten 145 Bestellungen sind immerhin 41 Bestellungen von Firmen erfolgt, die schon ihrem Namen nach als Gerüstbauunternehmen zu erkennen sind. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Bekanntheitsgrad der klägerischen Marke bei anderen Berufsgruppen, die gleichfalls häufiger Gerüste benötigen, zwar geringer ist als bei Gerüstbauunternehmen, dass er aber auch bei diesen Fachkreisen immer noch relativ hoch ist. Der Bekanntheitsgrad der Klägerin ist daher ein gewichtiges Argument für einen höheren Lizenzsatz.

(ii)

Das Ausmaß der Verwechslungsgefahr durch die Verletzungshandlung der Beklagten ist als sehr hoch einzustufen, denn die Beklagte hat das Zeichen der Klägerin für dieselben Waren verwendet wie die Klägerin.

Insbesondere die Gestaltung des Briefumschlags ist dabei von ausschlaggebender Bedeutung, denn sie vermittelt durch die hervorgehobene Wortmarke der Klägerin nicht nur bei flüchtigem Hinsehen den Eindruck, dass die Werbesendung von der Klägerin stammt. Die Beklagte nutzt die klägerische Marke hier dazu, um die Werbeadressaten zur Öffnung der Werbesendung zu verleiten unter Vorspiegelung der Tatsache, dass es sich um ein Werbeschreiben der Klägerin handeln würde. Und vertieft sich der Kunde in die Werbesendung, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er sich ernsthaft mit dem Angebot der Beklagten beschäftigt und schlussendlich möglicherweise auch eine Bestellung tätigt, deutlich an.

Damit ist auch die Intensität der Beeinträchtigung der klägerischen Marke durch die Nutzung des identischen Zeichens sehr hoch (vgl. hierzu Goldmann in BeckOK Markenrecht, aaO., § 14, Rn. 773). Die Argumentation der Beklagten in diesem Zusammenhang, dass die Intensität der Markenverletzung gering sei, weil die Beklagte grundsätzlich berechtigt gewesen sei, auf die bestehende Vermischungszulassung hinzuweisen, verkennt den entscheidenden Unterschied, der darin liegt, dass das Werbeschreiben in seiner äußeren Aufmachung den Eindruck erweckt, es stamme von der Klägerin oder zumindest von einem mit der Klägerin verbundenem Unternehmen. Aus diesem Grund handelt es sich auch entgegen der Ansicht der Beklagten nicht um eine Benutzung der klägerischen Marke, die „gerade so“ die Grenze zur Markenverletzung überschreite. Und deshalb ist es auch nicht richtig, dass die angesprochenen Fachkreise die Verwendung der Marke der Klägerin zusammen mit dem Hinweis auf die Vermischungszulassung als bloßen Hinweis auf die behördlich genehmigte Kompatibilität der Produkte der Parteien verstünden.

Damit einher geht – wie vom Landgericht zutreffend hervorgehoben – für die Klägerin die Gefahr, dass sie Kunden verliert, die durch diese Werbemethode statt bei ihr bei der Beklagten bestellen. Und aufgrund der Besonderheit, dass Gerüstsysteme untereinander nicht beliebig kompatibel sind, hat eine solche Kaufentscheidung für ein Gerüstsystem der Beklagten zur Folge, dass auch für Folgeinvestitionen die Wahrscheinlichkeit steigt, dass der Kunde bei der Beklagten kauft, auch wenn Letzteres wegen der Vermischungszulassung der Produkte der Beklagten mit denen der Klägerin nicht zwingend ist.

(iii)

In diesem Zusammenhang ist ferner zu berücksichtigen, dass die Beklagte mit der streitgegenständlichen Werbe-E-Mail immerhin knapp 35.000 Empfänger unmittelbar angesprochen hat und zudem über die Veröffentlichung der Werbematerialien auf ihrer Internetseite auch den gesamten deutschen Markt für Gerüste und Gerüstbauteile.

Der Streit der Parteien darüber, ob dieser deutsche Markt aus 200.000 potentiellen Kunden besteht und die Werbe-E-Mail daher nur etwa 1/6 dieser potentiellen Kunden erreicht habe – so die Beklagte – oder nur aus ca. 2.500 Gerüstbauunternehmer – so die Klägerin – erscheint dabei von untergeordneter Bedeutung, weil es sich bei den ca. 2.500 Gerüstbauunternehmern in Deutschland unzweifelhaft um die Kundengruppe handelt, die im Schnitt den größten Bedarf an Gerüstbaumaterialien hat und die von der Beklagten daher nach Möglichkeit mit der Werbe-E-Mail bedacht worden sein dürfte, während der Umstand, dass nicht jeder Maler- oder Lackierbetrieb eine derartige Mail erhalten hat, von geringerem Gewicht ist.

(iv)

Zu berücksichtigen ist ferner das Alter der klägerischen Marke, weil ein höheres Alter mit einer höheren Rechtssicherheit für den Lizenznehmer verbunden ist. Auch dies spricht für eine tendenziell höhere Lizenzgebühr, denn die klägerische Marke ist immerhin bereits seit dem Jahr 1988 eingetragen.

(v)

Ein Kriterium für die Bemessung der Lizenzgebühr ist ferner die Stärke der jeweiligen Verhandlungsposition (Goldmann in BeckOK Markenrecht, aaO., § 14, Rn. 771). Eine besonders starke Verhandlungsposition des Rechtsinhabers kann sich ebenso wie eine besonders schwache Position des Lizenznehmers bei tatsächlich ausgehandelten Lizenzverträgen lizenzerhöhend auswirken. Dabei muss allerdings der Umstand ausgeblendet werden, dass der Verletzer das verletzte Kennzeichen tatsächlich benutzt hat und damit – in der Rückschau – auf eine Lizenzierung angewiesen gewesen wäre, um rechtmäßig handeln zu können (Goldmann in BeckOK MarkenR, aaO., § 14, Rn. 771.1).

Dieses Kriterium spricht hier für eine tendenziell höhere Lizenzgebühr, denn die Klägerin hat eine starke Verhandlungsposition, da sie nach dem unbestritten gebliebenen Vortrag in der Klageschrift die führende Herstellerin von Gerüsten und Gerüstsystemen in Deutschland und Europa ist, ihr Marktanteil bei Gerüstsystemen in Deutschland bei über 45% liegt und sich ihre Gerüstsysteme als Referenzmaßstab durchgesetzt haben.

(vi)

Zu berücksichtigen ist ferner ein Marktverwirrungsschaden, der darin liegt, dass durch die streitgegenständliche Verletzungshandlung falsche Vorstellungen über die Herkunft der Waren der Beklagten erweckt wurden. Für die Entstehung eines solchen Schadens besteht bei der Verletzung einer benutzten Marke – wie hier – eine tatsächliche Vermutung (Thiering in Ströbele/Hacker/Thiering, aaO., § 14, Rn. 716). Demgemäß hat auch die Klägerin vorgetragen, dass sich mehrere ihrer Kunden im Anschluss an die Werbesendung erkundigt hätten, ob die Klägerin eine Zweitmarke „Y“ gestartet habe.

Der Senat geht allerdings davon aus, dass sich der Marktverwirrungsschaden in Grenzen hält. Dass es sich bei den von der Klägerin geschilderten Anfragen um mehr als nur einige wenige Einzelfälle gehandelt hat, lässt sich dem Vortrag der Klägerin nicht entnehmen. Und der überwiegende Teil der sachkundigen Adressaten der Werbung dürfte im Regelfall spätestens bei der Bestellung bemerkt haben, dass er nicht bei der Klägerin bzw. bei einem mit ihr verbundenen Unternehmen kauft.

(vii)

Bei der Dauer der Verletzungshandlung ist zu berücksichtigen, dass die Werbesendung nur einmal versandt wurde, die Werbematerialien aber vom 01.02.2017 bis 16.03.2017 auf der Webseite der Beklagten eingestellt und allgemein zugänglich waren. Davon auszugehen ist, dass die markenverletzende Werbung zudem auch eine gewisse Nachwirkung hat (vgl. OLG HamburgBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, Urteil vom 09.02.2017, 5 U 222/12, juris, Rn. 68).

Im Hinblick auf diese Nachwirkung erscheint der vom Landgericht herangezogene Zeitraum vom 01.02.2017 bis 30.04.2017 zur Beurteilung des Umsatzes angemessen. Einwendungen hiergegen hat die Beklagte mit ihrer Berufung nicht erhoben.

(viii)

Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Beklagte keine fremden Erzeugnisse nachgebildet oder vertrieben hat, sondern lediglich in ihrer Werbung die Marke der Klägerin zur Erzeugung einer Verwechslungsgefahr verwendet hat.

Denn dadurch verhält es sich im vorliegenden Fall anders als bei einer Markenverletzung, die dadurch erfolgt, dass die Marke des Verletzten auf dem Produkt angebracht wird. Hätte die Beklagte im vorliegenden Fall gemäß dieser zuletzt genannten Variante Gerüstsysteme angeboten oder verkauft, die mit der Marke der Klägerin versehen wären, so stünde außer Frage, dass jedes mit der Marke der Klägerin versehene Produkt der Beklagten zu dem Umsatz zählt, aus dem die Lizenzgebühr zu berechnen ist. Sind jedoch nicht die Gerüstteile selbst mit der Marke versehen, sondern wurde die Marke „nur“ in der Werbung verwendet, so muss berücksichtigt werden, dass die Berechnung auf der Basis einer Umsatzlizenz dazu führt, dass alle im fraglichen Zeitraum verkauften Gerüstbauteile der Beklagten als Umsatz zugrunde gelegt werden, nicht nur die, die aufgrund der streitgegenständlichen Werbung verkauft wurden und damit gleichsam als mit der Marke der Klägerin versehen betrachtet werden können. Dem lässt sich auch nicht dadurch begegnen, dass Umsätze mit Altkunden außer Betracht bleiben, denn die Aufteilung von Umsätzen unter Kausalitätsüberlegungen ist bei der Bemessung des Lizenzentgelts wenig praktikabel. Gegen eine solche Aufteilung spricht zudem der Umstand, dass diese Art der Lizenz eine Vergütung für die Benutzung des Kennzeichens und nicht für deren wirtschaftlichen Erfolg darstellt (BGH, Urteil vom 29.07.2009, I ZR 169/07 – BTK – juris, Rn. 38).

Bei der vorliegenden Art der Markenverletzung fällt deshalb besonders ins Gewicht, dass der Umsatz der Beklagten auch im fraglichen Zeitraum nur zu einem geringen Prozentsatz auf der streitgegenständlichen Werbung beruht. Die Beklagte hat insoweit unbestritten vorgetragen, dass sich ihre Umsätze vor, während und nach der Werbung in der gleichen Größenordnung bewegt hätten. Dies ist bei der Bemessung der Höhe des fiktiven Lizenzsatzes, der an den Gesamtumsatz anknüpft, der mit den beworbenen Gerüstbauteilen erzielt wurde, lizenzmindernd zu berücksichtigen.

(ix)

Der Schätzung des fiktiven Lizenzsatzes auf 5% steht die Umsatzrendite der Beklagten nicht entgegen.

Ein vernünftiger Lizenznehmer wird allerdings regelmäßig kein Lizenzentgelt vereinbaren, das doppelt so hoch ist wie der zu erwartende Gewinn, auch wenn sich dem Lizenznehmer aufgrund der Benutzung eines wertvollen Unternehmenskennzeichens häufig die Chance eröffnet, mit höheren Preisen kalkulieren zu können. Je geringer jedoch die branchenübliche Umsatzrendite und je umkämpfter damit der Markt ist, desto weniger wird es dem Lizenznehmer möglich sein, höhere Preise am Markt durchzusetzen. Die branchenübliche Umsatzrendite hat deshalb Einfluss auf den objektiven Wert der Nutzungsberechtigung (BGH, ebenda).

Nach dem von der Beklagten in der erteilten Auskunft (Anlage K14) vorgetragenen Gewinn lag die Umsatzrendite bei 15,6% (104.742,06 EUR ./. 669.523,67 EUR) und damit deutlich über dem fiktiven Lizenzsatz. Nicht zu folgen ist dabei dem Begehren der Beklagten, bei der Berechnung der Umsatzrendite den um die Gemeinkosten geschmälerten Gewinn zugrunde zu legen, denn diese Gemeinkosten hätte die Beklagte ohnehin gehabt und die Kosten für die konkrete Werbung sind berücksichtigt. Aber selbst unter Berücksichtigung aller Gemeinkosten hätte die Umsatzrendite nach dem Vortrag der Beklagten in erster Instanz um die 7% betragen. Aus dem Vortrag in zweiter Instanz zur Rendite ergibt sich nichts Anderes, da auf die Rendite im Zeitraum vom 01.02.2017 bis 30.04.2017 abzustellen ist und nicht auf die Rendite für das gesamte Jahr.

Soweit die Beklagte einwendet, dass für die Berechnung im Wege der Lizenzanalogie nur der Gewinn relevant sei, den die Parteien bei Abschluss eines Lizenzvertrags prognostiziert hätten, und nicht der tatsächlich erzielte Gewinn, rechtfertigt dies keine andere Bewertung. Die Beklagte trägt keinen Umstand vor, der dafür spräche, dass die Parteien Anfang Februar 2017 eine geringere Umsatzrendite prognostiziert hätten.

Und der weitere Einwand in diesem Zusammenhang, dass der größte Teil des Umsatzes mit Bestandskunden erzielt worden sei, die ohnehin bei der Beklagten bestellt hätten, verkennt, dass sich ein Lizenzgeber gerade nicht auf ein Lizenzmodell einlassen würde, bei dem er nachweisen müsste, dass der Lizenznehmer mit der Werbung Neukunden gewonnen hat (BGH GRUR 2010, 239, Rn. 37f.).

(x)

Nicht richtig ist der Einwand der Beklagten, dass die Klägerin bei der Berechnung ihres Schadensersatzes die Schadensberechnungsmethoden „Verletzergewinn“ und „Lizenzanalogie“ vermischt habe. Insbesondere ist die von der Beklagten vorgenommene Berechnung eines Verletzergewinns in Höhe von etwas mehr als 5.000 EUR kein Beleg dafür, dass der im Wege der Lizenzanalogie berechnete Schadensersatzanspruch nicht deutlich höher liegen kann. Die Höhe des Schadensersatzes ist nicht deshalb zu begrenzen, weil eine andere als die gewählte Berechnungsmethode zu einem abweichenden, niedrigeren Ergebnis führt. Im Einzelfall unterschiedliche Ergebnisse beeinträchtigen die Freiheit der Wahl der Berechnungsmethode nicht (Goldmann in BeckOK MarkenR, aaO., § 14, rn. 814). Dahinstehen kann daher, ob der Berechnung der Beklagten zur Höhe ihres angeblichen Verletzergewinns überhaupt zu folgen wäre.

(xi)

Aufgrund der obigen Umstände erschiene dem Senat ohne Berücksichtigung des Umstands, dass die Markenverletzung in der Werbung erfolgt ist, ein Lizenzsatz von etwa 15% für angemessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Spanne üblicher Vergütungssätze teilweise ohnehin deutlich über 5% hinausgeht (vgl. die Tabelle zur Häufigkeitsverteilung von Lizenzraten bei Binder, GRUR 2012, 1168, 1187). Ein Lizenzsatz von 15% entspräche in etwa der Gewinnspanne der Beklagten, die bei einer Lizenzvereinbarung wegen der Auswirkungen in der Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit voll abgeschöpft worden wäre, da sich die streitgegenständliche Werbung für die Beklagte wegen der damit verbundenen „Türöffnungsfunktion“ selbst dann lohnen würde, wenn zunächst unter dem Strich kein Gewinn hängen bliebe. Einer Schadensschätzung in dieser Höhe stünde daher der Erfahrungssatz, dass vernünftig denkende Parteien jedenfalls keinen Lizenzsatz vereinbaren, der die durchschnittliche Umsatzrendite seiner Branche erheblich übersteigt (BGH GRUR 2010, 239, Rn. 49 f. – BTK), nicht entgegen.

Im Hinblick darauf, dass die Lizenzgebühr an einen Umsatz anknüpft, der nur zu einem geringen Teil auf der Markenverletzung der Beklagten beruht, hält der Senat jedoch eine deutliche Herabsetzung dieses andernfalls angemessenen Lizenzsatzes für gerechtfertigt und bemisst den insoweit erforderlichen Abschlag auf zwei Drittel, d.h. auf zehn Prozentpunkte. Dies führt unter Berücksichtigung der oben genannten Umstände im Rahmen der Schadensschätzung nach § 287 ZPO zu einer fiktiven Lizenzgebühr von 5% des Umsatzes der Beklagten, wie er in ihrer Auskunft angegeben worden war.

d)

Der zugrunde zu legende Netto-Umsatz (vgl. Goldmann in BeckOK MarkenR, § 14, Rn. 769) betrug nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts 670.980,17 EUR. 5% hiervon sind 33.549,01 EUR bzw. – geringfügig aufgerundet – 33.550,00 EUR.

3.

Zinsen sind ab dem Zeitpunkt zuzusprechen, ab dem Lizenzgebühren zu entrichten gewesen wären (Thiering, aaO., § 14 Rn. 714). Dies wäre bei einer unterstellten Lizenzierung zum 01.02.2017 nach den Feststellungen des Landgerichts das Datum der Lizenzierung gewesen. Einwände hiergegen erhebt die Berufung nicht.

III.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision ist zuzulassen. Wie bei einer Markenverletzung wie der vorliegenden der Schaden im Wege der Lizenzanalogie zu berechnen ist, ist höchstrichterlich noch nicht entschieden.

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Schlagworte: Lizenzanalogie, MarkenG § 14 Abs. 6, Markenrechte, Markenverletzung, Verletzergewinne

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