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FG Münster, Urteil vom 12. August 2022 – 4 K 1469/20 U

Haftet die nominelle Geschäftsführerin, die lediglich Strohfrau des faktischen Geschäftsführers ist, nach § 69 AO?

Tatbestand

Die Klägerin war – bis in das Jahr 2017 – alleinige Gesellschafterin und die alleinige nominelle Geschäftsführerin und später Liquidatorin der im Jahr 2007 gegründeten T GmbH (zunächst Handelsregister Amtsgericht B-Stadt HRB xxx, dann Amtsgericht K-Stadt HRB xxx; im Folgenden: T GmbH).Randnummer2

Die T GmbH betrieb einen Handel mit X-Produkten und diversen xxx Geräten, u.a. mit dem Kauf und Verkauf von X-Geräten. Den Geschäftsbetrieb hatte die Klägerin als Einzelfirma im Jahr 2005 in N-Stadt gegründet. Später wurde ein Onlineshop eröffnet und der Vertrieb über das Internet, eBay, Amazon, Yatego und andere Vertriebsportale begonnen. Im Jahr 2007 erfolgte die Gründung der T GmbH mit Sitz in K-Stadt, die den Geschäftsbetrieb fortführte. Herr U. K., der Ehemann der Klägerin, war – dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig – (alleiniger) faktischer GeschäftsführerBitte wählen Sie ein Schlagwort:
faktischer Geschäftsführer
Geschäftsführer
der T GmbH; ihm wurde im Januar 2009 die fachliche Eignung nach § 30 Abs. 6 des Berufsbildungsgesetzes verliehen. Die steuerliche Beratung der T GmbH erfolgte durch die K1 GmbH.Randnummer3

Als die T GmbH keine Umsatzsteuerjahreserklärung für 2010 abgegeben hatte, schätzte der Beklagte die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Umsatzsteuer 2010 für die T GmbH auf xxxx € fest. Im Rahmen des hiergegen geführten Einspruchsverfahrens gab die T GmbH am 29.05.2012 eine von der Klägerin unterschriebene Umsatzsteuererklärung für 2010 ab, in der sie eine festzusetzende Umsatzsteuer in Höhe von yyyy € erklärte. Daraufhin änderte der Beklagte die Festsetzung mit Bescheid vom 29.06.2012 unter Beibehaltung des Nachprüfungsvorbehalts erklärungsgemäß ab.Randnummer4

Im April 2013 begann bei der T GmbH eine Betriebsprüfung betreffend die Umsatzsteuer 2008 bis 2013. Der Prüfer war der Auffassung, dass der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der F. Trading GmbH (F.) zu versagen sei, weil es sich um Scheinrechnungen gehandelt habe. Auf der Grundlage eines Zwischenberichts vom 22.04.2014 erließ der Beklagte einen nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) geänderten Umsatzsteuerbescheid 2010 vom 23.04.2014, mit dem er den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der F. in Höhe von insgesamt xy.xyx € versagte und die Umsatzsteuer 2010 auf yx.yxy € festsetzte. Die T GmbH focht den Bescheid an. Mit Schreiben vom 30.04.2014 forderte der Beklagte die T GmbH zur Zahlung von xy.xyx € für die Umsatzsteuer 2010 sowie zzzz € für Zinsen hierauf aus 25 Monaten im Zeitraum vom 01.04.2012 bis zum 30.04.2014 auf.Randnummer5

Mit hier streitgegenständlichem Haftungsbescheid nahm der Beklagte die Klägerin wegen einer Gesamthaftungssumme in Höhe von yy.yyy € in Anspruch, die sich aus der Haftung für Umsatzsteuer 2010 in Höhe von xy.xyx € und Nachzahlungszinsen hierzu in Höhe von zzzz € (bis zum 05.05.2014) zusammensetzt. Der Beklagte stützte den Haftungsbescheid auf § 69 AO, weil die Klägerin als alleinvertretungsberechtigte Geschäftsführerin der T GmbH die Pflicht gehabt habe, zutreffende Umsatzsteuervoranmeldungen und -jahreserklärungen abzugeben. Diese Pflicht habe die Klägerin mindestens grob fahrlässig aufgrund eines Vorsteuerabzugs aus Scheinrechnungen in Höhe von xy.xyx € verletzt. Der Beklagte verwies auf den Zwischenbericht der Betriebsprüfungsstelle vom 22.04.2014.Randnummer6

Den hiergegen eingelegten Einspruch begründete die Klägerin zunächst unter Verweis auf das Rechtsbehelfsverfahren gegen die Umsatzsteuerfestsetzung, woraufhin das Einspruchsverfahren ruhte.Randnummer7

Durch rechtskräftigen Beschluss vom 12.05.2015 (100 IN 43/15) lehnte das Amtsgericht I-Stadt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der T GmbH ab. Als Liquidatorin wurde die Klägerin in das Handelsregister eingetragen.Randnummer8

Der Beklagte erließ im Nachgang zur zwischenzeitlich fortgesetzten Betriebsprüfung, noch während des gegen den Umsatzsteueränderungsbescheid laufenden Einspruchsverfahrens, einen weiteren gemäß § 164 Abs. 2 AO geänderten Umsatzsteuerbescheid vom 26.10.2015, mit dem er Vorsteuern aus Rechnungen anderer Unternehmer (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes [UStG]) nur noch in Höhe von xyxy € berücksichtigte und die Umsatzsteuer 2010 auf xx.xxx € festsetzte. In dem gegen die abschlägige Einspruchsentscheidung geführten Klageverfahren entschied der 5. Senat des Finanzgerichts Münster mit Urteil vom 05.12.2019 5 K 247/16 U, dass die Umsatzsteueränderungsbescheide 2010 rechtmäßig seien und der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der F. zu Recht versagt worden sei, und zwar bereits deshalb, weil es in Bezug auf die leistende Person an der Ordnungsmäßigkeit der Rechnung gefehlt habe. Die Entscheidung, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, ist rechtskräftig geworden.Randnummer9

Anstelle der Klägerin bestellte die T GmbH im Jahr 2017 Herrn H. P., wohnhaft in Polen, zum Liquidator (Handelsregistereintragung vom 06.06.2017).Randnummer10

Anschließend an ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren und auf die Anklage vom 25.09.2018 stellte das Landgericht I-Stadt nach einer geständigen Einlassung des Ehemanns der Klägerin, Herrn U. K., ein gerichtliches Strafverfahren gegen die Klägerin nach § 153a der Strafprozessordnung ein und verurteilte den Ehemann der Klägerin im rechtskräftig gewordenen Urteil vom 18.03.2020 (xx KLs-x Js xxx/18) wegen (Umsatz-)Steuerhinterziehung. Dabei stellte es – u.a. aufgrund geständiger Einlassung – fest, dass der Ehemann der Klägerin diese insolvenzbedingt gebeten habe, für ihn zunächst als formelle Einzelkauffrau, ab 2007 dann als formelle Geschäftsführerin der neugegründeten T GmbH zu fungieren. Der Ehemann habe tatsächlich die Geschäfte geführt. Die Klägerin sei nur insoweit tätig geworden, als sie Unterschriften zu leisten hatte. Hierbei habe sie sich vollständig auf ihren Ehemann verlassen und habe keine Kenntnis von dem gehabt, was sie jeweils konkret unterschrieben habe. Der Ehemann als faktischer GeschäftsführerBitte wählen Sie ein Schlagwort:
faktischer Geschäftsführer
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der T GmbH habe im steuerlichen Veranlagungsjahr 2010 26 Scheinrechnungen der F. in einem Gesamtumfang von aaa.aaa € zzgl. bb.bbb € ausgewiesener Umsatzsteuer gegenüber der T GmbH erstellt, denen seitens der F. keine tatsächlichen Lieferungen und auch keine Umsatzsteuerzahlungen zugrunde gelegen hätten. Diese Scheinrechnungen habe der Ehemann der Umsatzsteuererklärung 2010 zugrunde gelegt, wodurch sich eine erklärte Umsatzsteuerschuld von lediglich yyyy € ergeben habe. Die so vorbereitete Steuererklärung habe er seiner über die Vorgänge unwissenden Ehefrau vorgelegt, die diese am 23.05.2012 unterzeichnet und sodann beim Beklagten eingereicht habe.Randnummer11

Im Zusammenhang mit der geständigen Einlassung des Ehemanns der Klägerin im Strafverfahren erfolgte eine (Teil-)Zahlung in Höhe von xbxb € auf die Umsatzsteuerschuld der T GmbH für das Jahr 2010.Randnummer12

Der Beklagte nahm sodann das ruhende Einspruchsverfahren betreffend den streitgegenständlichen Haftungsbescheid im April 2020 wieder auf. Der Ehemann der Klägerin meldete sich beim Beklagten telefonisch mit dem Bestreben, die Angelegenheit zu erledigen. Eine (weitere) Stellungnahme zum Haftungsbescheid erfolgte nicht.Randnummer13

Mit der Einspruchsentscheidung vom 11.05.2020 setzte der Beklagte die Haftungssumme – unter Hinweis auf die Verminderung des Umsatzsteuerrückstands für das Jahr 2010 – um xbxb € von yy.yyy € auf zz.zzz € herab und wies den Einspruch im Übrigen zurück. Er ergänzte die Begründung des Haftungsbescheides dahingehend, dass die Geschäftsführer-Stellung auch die Pflicht zur ordnungsgemäßen, also fristgemäßen und inhaltlich zutreffenden Steuererklärung beinhalte und zur pünktlichen Steuerentrichtung. Die Frist für die Abgabe der Umsatzsteuererklärung 2010 sei am 31.12.2011 abgelaufen, die Erklärung aber erst am 29.05.2012 eingereicht worden. Die Erklärung sei auch nicht zutreffend gewesen. Sowohl das Finanzgericht Münster als auch das Landgericht I-Stadt hätten festgestellt, dass der Ehemann der Klägerin als faktischer GeschäftsführerBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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Vorsteuerbeträge in Höhe von xy.xyx € aus Scheinrechnungen geltend gemacht habe, um die Umsatzsteuerschuld zu verringern. Die Klägerin habe dieses Vorgehen entweder gebilligt oder ihre Pflicht zur ordnungsgemäßen Überwachung versäumt. Wenn die Klägerin nicht in der Lage gewesen sein sollte, eine ordnungsgemäße Geschäftsführung durchzusetzen, wäre es ihre Pflicht gewesen, die Geschäftsführung niederzulegen. Die Duldung der Erstellung von Scheinrechnungen müsse auch zumindest als grob fahrlässig angesehen werden. Hierdurch sei der Haftungsschaden eingetreten. Die T GmbH habe ihre Gläubiger bis Mitte 2012 pünktlich bezahlt; nichts anderes ergebe sich aus der Bilanz zum 31.12.2010. Zahlungsschwierigkeiten seien nicht bekannt. Die erforderlichen Mittel seien aus den Verkäufen der X-Geräten auch vorhanden gewesen. Der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens sei von der Klägerin auch erst im Jahr 2015 gestellt worden. Die Haftung erstrecke sich auch auf steuerliche Nebenleistungen (Nachzahlungszinsen in Höhe von nz.zzz €). Vollstreckungsversuche gegenüber der T GmbH seien erfolglos geblieben, sodann sei das Insolvenzverfahren eröffnet worden, in dem eine Tilgung mangels Masse ausgeschlossen sei. Außergewöhnliche Umstände, die einer Haftungsinanspruchnahme (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) entgegenstünden, seien nicht ersichtlich. Er, der Beklagte, beabsichtige, neben der Klägerin auch ihren Ehemann als faktischen Geschäftsführer in Haftung zu nehmen.Randnummer14

Die Klägerin hat Klage erhoben.Randnummer15

Zum Sachverhalt erläutert sie, dass – anders als es im landgerichtlichen Strafurteil anklinge – keine neue Entscheidung getroffen worden sei, die GmbH mit dem Geschäftsbetrieb zu gründen. Es sei darauf hinzuweisen, dass der Geschäftsbetrieb der T GmbH bereits zuvor in einer Gesellschaft bürgerlichen RechtsBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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(GbR) zwischen ihrem Ehemann und einem anderen Geschäftspartner existiert habe, deren Insolvenz auf einer Straftat des Geschäftspartners beruht habe und nicht von ihrem Ehemann zu verantworten gewesen sei. Insofern habe es sich um eine Fortführung des zuvor erfolgreichen Geschäftsbetriebs gehandelt und der Familienunterhalt habe nur durch diese Einkunftsquelle sichergestellt werden können. Sie erläutert hierzu in der mündlichen Verhandlung, dass aus ihrer Sicht insolvenzrechtliche Beschränkungen einer (rechtlichen) Übernahme des Geschäftsführeramtes durch den Ehemann im Wege gestanden hätten und dass jedenfalls ein etwaiges Geschäftsführergehalt an den Insolvenzverwalter (des Ehemanns) bzw. an die Insolvenzmasse hätte abgeführt werden müssen. Insofern habe sie keine andere wahl gehabt, als das Unternehmen und die formelle Geschäftsführung zu übernehmen. Denn sie selbst habe ihre Ausbildung zur xxx abgebrochen und habe daher – und auch wegen der beiden 2004 und 2007 geborenen Kinder – keinen Beitrag zum Familienunterhalt leisten können. In der mündlichen Verhandlung gibt die Klägerin ergänzend an, dass sie aufgrund ihrer Mitarbeit im Unternehmen in der Zeit vor der Gründung der GmbH geschäftlich versiert sei.Randnummer16

Sie, die Klägerin, sei mit der Führung der T GmbH selbst nicht befasst gewesen. Hierfür sei allein ihr Ehemann zuständig gewesen. Es habe aber keinerlei Ansatzpunkt für Zweifel an der Eignung ihres Ehemanns als Geschäftsführer bestanden. Dies habe sich auch aus dem bisherigen Unternehmensverlauf ergeben, der erfolgreich gewesen sei und lediglich durch den äußeren Eingriff des vorherigen Geschäftspartners in die Schieflage geraten sei; hieraus könne ihr kein Vorhalt gemacht werden. Neben der fachlichen Kompetenz habe der Ehemann auch über die geschäftlichen Kontakte verfügt. Im Übrigen sei von der T GmbH auch ein Steuerberater eingeschaltet gewesen, der für die ordnungsgemäße Abwicklung der steuerlichen Belange zuständig gewesen sei. Aus ihrer, der Klägerin, Sicht habe auch vor diesem Hintergrund und angesichts des Erfolgs der Unternehmung kein Anlass zu einem Misstrauen bestanden. Es habe auch bei den Gesprächen mit ihrem Ehemann niemals einen Grund gegeben, dieses in Frage zu stellen. Überwachungsmaßnahmen seien, so führt die Klägerin weiter aus, in dem fraglichen Zeitraum 2009/2010 aber auch gar nicht möglich gewesen, da eine ihrer Töchter an Epilepsie erkrankt sei und sie, die Klägerin, in dieser Zeit sehr viel Zeit mit ihr im Krankenhaus habe verbringen müssen. Sie habe auch nie selbst „in die Bücher“ geschaut. Das hätte aber auch nichts geändert, weil nie herausgekommen wäre, dass ihr Ehemann Scheinrechnungen erstellt habe, wenn nicht die A-Bank eine Geldwäscheanzeige gemacht hätte. Ansonsten würde sie bis heute nicht wissen, was seinerzeit passiert sei. Sie habe das alles ohnehin erst im Gerichtsverfahren erfahren.Randnummer17

Sie wendet gegen die Haftungsinanspruchnahme ein, dass weder die objektiven noch die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen für eine Haftungsinanspruchnahme vorlägen. Die verspätete Abgabe der Umsatzsteuererklärung könne ihr nicht vorgeworfen werden, weil die T GmbH steuerlich beraten gewesen sei und sie sich darauf habe verlassen dürfen, dass die Erklärung fristgemäß erstellt werde. Es könne ihr auch nicht vorgeworfen werden, die Führung der Geschäfte einem Dritten, ihrem Ehemann, überlassen zu haben; hierbei handele es sich um eine geschäftspolitische Entscheidung, die wertungsfrei zu akzeptieren sei. Die Annahme einer Überwachungspflicht bzw. die Billigung der Erstellung der Scheinrechnungen werde vom Beklagten lediglich pauschal behauptet. Es habe sich erst im Laufe der gerichtlichen Verfahren gezeigt, dass ihr Ehemann Scheinrechnungen erstellt habe. Sie, die Klägerin, habe keinen konkreten Anlass zu Misstrauen oder zu einer ins Einzelne gehenden Prüfung gehabt; solches habe der Beklagte auch nicht konkret dargetan. Hinsichtlich der Auswahl und Überwachung sei aber auch nicht auf ihre fehlende Qualifikation abzustellen, sondern auf die gute Qualifikation des Ehemanns als Geschäftsführer (wie sie in der Vergangenheit – GbR – zum Ausdruck gekommen sei). Auch zur Kausalität der behaupteten Pflichtverletzung mache der Beklagte lediglich pauschale Ausführungen. Richtig sei, dass ihr, der Klägerin, eine Überwachungspflichtverletzung nicht vorgehalten werden könne, wenn selbst unterstellte Überwachungsmaßnahmen die Unregelmäßigkeiten nicht zutage gefördert hätten; alles andere wäre reine Spekulation. Dies zeige auch der tatsächliche Geschehensablauf. Die Vorsteuerverkürzung durch den Ehemann habe auf fingierten Geschäftsbeziehungen mit der F. über (nicht existierende) X-Geräte beruht, die taggleich („Zug-um-Zug“) abgewickelt worden seien bzw. sein sollen; einen Lagerbestand habe es nicht gegeben. Aufgrund der Nichtexistenz der Vorgänge gehe der Vorhalt, ihr sei eine Überwachung möglich gewesen, ins Leere. Auch der K1 GmbH als steuerliche Fachleute seien keine Unregelmäßigkeiten aufgefallen.Randnummer18

Die Klägerin beantragt,
den Haftungsbescheid vom 06.05.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.05.2020 aufzuheben,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.Randnummer19

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.Randnummer20

Er verweist auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung. Der Beklagte räumt zwar ein, dass die Klägerin die verspätete Erklärungsabgabe nicht zu vertreten habe. Allerdings müsse sich die Klägerin das Verschulden ihres Ehemannes, den sie als faktischen Geschäftsführer geduldet habe, zurechnen lassen. Auch sei eine mangelnde Überwachung grob fahrlässig. Der Beklagte tritt der klägerischen Darstellung entgegen, dass die Entscheidung zur Fortführung des Geschäftsbetriebs alternativlos gewesen sei. Der Klägerin sei ferner vorzuhalten, dass sie von vornherein nur als Geschäftsführerin auf dem Papier eingeplant gewesen sei und keine Fähigkeiten oder Kenntnisse gehabt habe, um die Tätigkeit des Geschäftsführers überhaupt zu überprüfen. Infolgedessen habe sie eine Verantwortung übernommen, der sie nicht habe gerecht werden können. In der mündlichen Verhandlung ergänzt der Beklagte, dass die Klägerin, soweit sie nunmehr geschäftliche Erfahrung behaupte, sich in Widerspruch zu ihren gesamten bisherigen Einlassungen setze. Der Beklagte geht zudem davon aus, dass eine ordnungsgemäße Überwachung des tatsächlichen Geschäftsbetriebs durchaus dazu hätte führen können, festzustellen, dass die in den Rechnungen enthaltenen X-Geräte tatsächlich gar nicht existiert hätten. Im Übrigen verweist der Beklagte darauf, dass der Grundsatz der anteiligen TilgungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Grundsatz
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nicht zur Anwendung komme, wenn es um die unberechtigte Auszahlung einer Steuervergütung – wie hier der Rückforderung der zu Unrecht ausgekehrten Vorsteuerbeträge – gehe.Randnummer21

Der Senat hat die Akten des Strafverfahrens xx KLs-x Js xxx/18 beigezogen. Der Berichterstatter hat die Streitsache mit den Beteiligten am 25.04.2022 erörtert; auf das Terminsprotokoll wird Bezug genommen.Randnummer22

Der Senat hat in der Sache am 12.08.2022 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet.Randnummer24

Eine Rechtsverletzung der Klägerin liegt nicht vor (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Haftungsinanspruchnahme durch Bescheid vom 06.05.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.05.2020 ist rechtmäßig. Der Beklagte konnte die Haftung dem Grunde und der Höhe nach auf §§ 191 Abs. 1, 69 AO stützen, insbesondere liegt das hierzu erforderliche grobe Verschulden der Klägerin vor.Randnummer25

1. Gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet.Randnummer26

Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig aufgebaut. Danach ist zunächst zu prüfen, ob in der Person, die das Finanzamt zur Haftung heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der jeweiligen Haftungsnorm erfüllt sind; dies ist eine vom Finanzgericht in vollem Umfang zu überprüfende rechtlich gebundene Entscheidung. Erst danach, auf der zweiten Stufe, entscheidet die Finanzbehörde nach ihrem Ermessen (ständige Rechtsprechung s. z.B. BFH-Urteil vom 20.09.2016 X R 36/15, BFH/NV 2017, 593).Randnummer27

2. Die tatbestandlichen Haftungsvoraussetzungen des § 69 AO liegen im Streitfall vor.Randnummer28

a) Gemäß § 69 Satz 1 AO haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis in Folge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Zu den potentiellen Haftungsschuldnern gehören u.a. die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen (§ 34 Abs. 1 AO). Gesetzlicher Vertreter einer GmbH ist deren Geschäftsführer (§§ 6, 35 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung [GmbHG]). Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AO haben die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen und die Geschäftsführer von nicht rechtsfähigen Personenvereinigungen deren steuerliche Pflichten zu erfüllen.Randnummer29

b) Die Klägerin war als (einzige) nominelle Geschäftsführerin und spätere Liquidatorin der T GmbH deren gesetzliche Vertreterin im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 AO (vgl. §§ 35 Abs. 1, 69 f. GmbHG, BFH-Urteil vom 14.06.2016 VII R 20/14, BFH/NV 2016, 1672), und zwar von der Gründung der Gesellschaft im Jahr 2007 bis in das Jahr 2017. Inwieweit die Klägerin diese Aufgabe tatsächlich erfüllt hat, ist tatbestandlich ebenso ohne Bedeutung wie der Umstand, dass ihr Ehemann, Herr U. K., tatsächlich die Geschäfte der T GmbH geführt hat (vgl. BFH-Urteil vom 11.03.2004 VII R 52/02, BStBl II 2004, 579). Da es den Eheleuten K. gerade auf die Bestellung der Klägerin als Geschäftsführerin ankam, liegt auch nicht etwa ein Scheingeschäft vor.Randnummer30

c) Die Klägerin hat die Erklärungs- und Entrichtungspflichten der T GmbH betreffend die Umsatzsteuer 2010, für deren Erfüllung sie als alleinige organschaftliche Geschäftsführerin gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 AO steuerrechtlich verantwortlich zeichnete, (objektiv) verletzt.Randnummer31

Zu den steuerlichen Pflichten der Geschäftsführer bzw. Liquidatoren einer GmbH gehört es insbesondere, rechtzeitig und ordnungsgemäß Steuererklärungen abzugeben (§ 149 AO) und die fälligen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO) aus den von ihnen verwalteten Mitteln zu begleichen (§ 34 Abs. 1 Satz 2 AO) oder zumindest für eine möglichst gleichmäßige Befriedigung sämtlicher Gläubiger zu sorgen (vgl. BFH-Urteil vom 14.06.2016 VII R 20/14, BFH/NV 2016, 1672).Randnummer32

Die T GmbH hat ihre Umsatzsteuererklärung für 2010 nicht fristgemäß und – was hier entscheidend ist – nicht ordnungsgemäß eingereicht (§ 149 AO, § 18 Abs. 3 UStG). Die Abgabe der Umsatzsteuererklärung 2010, an die der Beklagte für die Haftung anknüpft, wäre – aufgrund der steuerlichen Beratung der T GmbH (gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder vom 03.01.2011, BStBl I 2011, 44) – zum 31.12.2011 erforderlich gewesen. Die Klägerin hat sodann für die T GmbH am 29.05.2012 eine nicht ordnungsgemäße Umsatzsteuererklärung eingereicht. Darüber hinaus wies die Erklärung zu hohe Vorsteuern im Umfang von xy.xyx € aus. Letzteres ist zwischen den Beteiligten nicht kontrovers. Der Senat macht sich insoweit zudem die Feststellungen des – gegen den Ehemann der Klägerin ergangenen und auf dessen geständiger Einlassung fußenden – Strafurteils des Landgerichts I-Stadt vom 18.03.2020 xx KLs-x Js xxx/18, die zugleich zur strafrechtlichen Verfahrenseinstellung bezüglich der seinerzeit ebenfalls angeklagten Klägerin geführt haben, sowie die Feststellungen des gegenüber der T GmbH ergangenen Urteils des 5. Senats des Finanzgerichts Münster vom 05.12.2019 5 K 247/16 U zu eigen, über deren Richtigkeit auch in steuerlicher Hinsicht kein Streit besteht.Randnummer33

Dass die Klägerin in der T GmbH nicht tatsächlich die Geschäfte führte, sondern nur als Strohfrau fungierte, ändert an der objektiv vorliegenden Pflichtverletzung nichts. Denn die Verantwortlichkeit eines Geschäftsführers für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten der GmbH ergibt sich allein aus der nominellen Bestellung zum GeschäftsführerBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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(s. BFH-Beschluss vom 26.11.1997 I B 81/97, BFH/NV 1998, 559). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der prinzipiellen Möglichkeit der Aufgabenverteilung innerhalb einer (mehrköpfigen) Geschäftsführung und der Erwägung, dass die Klägerin diese Verantwortung auf ihren Ehemann (als faktischen Geschäftsführer) übertragen haben könnte. Denn auch wenn mehrere Geschäftsführer vorhanden sind, kann die Verteilung der Geschäfte nur begrenzt, aber nicht vollständig aufgehoben werden (ständige Rechtsprechung z.B. BFH-Urteil vom 17.09.2019 VII R 5/18, BFHE 266, 104 m. w. N.). Hier aber war die Klägerin als Strohfrau anzusehen, der in der Geschäftsführung keinerlei eigener Verantwortungsbereich verblieb. Dies ergibt sich in tatsächlicher Hinsicht bereits aus dem Vortrag der Klägerin selbst sowie aus den Feststellungen des landgerichtlichen Strafurteils vom 18.03.2020 (xx KLs-x Js xxx/18) und des Urteils des 5. Senats vom 05.12.2019 5 K 247/16 U. Den darüber hinaus bestehenden, erheblichen rechtlichen Zweifeln daran, ob diese interpersonelle Aufteilung der Geschäfte überhaupt auch im Verhältnis zu einem nur faktischen Geschäftsführer möglich wäre (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 12.05.2009 VII B 266/08, BFH/NV 2009, 1589, BFH-Urteil vom 10.05.1988 VII R 24/85, BFH/NV 1989, 72, s. auch Jatzke in: Gosch, AO/FGO, § 69 AO Rz. 51; derartiges erwägend indessen Finanzgericht Münster, Urteil vom 30.04.2019 12 K 620/15EFG 2019, 1257 [Rev. anh. BFH VII R 23/19]), muss auch deshalb nicht nachgegangen werden, weil eine anzuerkennende Aufgabenteilung darüber hinaus eine vorweg getroffene, eindeutige schriftliche Festlegung darüber erfordert, welcher Geschäftsführer für welchen Bereich zuständig ist (ständige Rechtsprechung z.B. BFH-Urteil vom 17.09.2019 VII R 5/18, BFHE 266, 104 m. w. N.), und für derartiges nichts ersichtlich ist.Randnummer34

d) Hinsichtlich dieser, der Haftungsinanspruchnahme zugrundeliegenden Pflichtverletzungen hat die Klägerin – selbst unter der Prämisse, sie habe tatsächlich keine positive Kenntnis von den betreffenden Vorgängen in der Gesellschaft gehabt und deshalb nicht bereits vorsätzlich gehandelt – grob fahrlässig gehandelt.Randnummer35

Grob fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlich großem Maße verletzt. Dazu gehört, dass er unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen oder die einfachsten, ganz nahe liegenden Überlegungen nicht anstellt. Eine Haftung kommt demnach nur bei „gravierenden Sorgfaltspflichtverletzungen“ in Betracht (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23.09.2008 VII R 27/07, juris; BFH-Beschluss vom 03.12.2004 VII B 178/04, juris).Randnummer36

Die objektive Pflichtwidrigkeit indiziert in der Regel einen solchen Schuldvorwurf (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 11.11.2008 VII R 19/08, BFHE 223, 303, BStBl II 2009, 342; vom 22.04.2015 XI R 43/11, BStBl II 2015, 755 und vom 27.09.2017 XI R 9/16, BStBl II 2018, 515).Randnummer37

Dies gilt auch im Streitfall, wobei darüber hinaus ein grobes Verschulden aber auch positiv festzustellen ist. Ein solches Verschulden liegt im Streitfall bereits darin, dass die Klägerin die Geschäftsführung der GmbH übernommen und nachfolgend nicht – zeitlich vor den haftungsrelevanten Pflichtverletzungen – niedergelegt hat („Übernahmeverschulden“), obwohl von der Gründung der GmbH im Jahr 2007 an klar war, dass sie die Geschäftsführung tatsächlich inhaltlich nicht übernehmen würde und dies während ihrer gesamten Amtszeit auch tatsächlich nicht tat. Vielmehr agierte der Ehemann der Klägerin plangemäß als „faktischer GeschäftsführerBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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Geschäftsführer
“, und zwar allein, umfassend, selbstständig und unkontrolliert. Dies steht in tatsächlicher Hinsicht nach Aktenlage und auch aufgrund der Einlassungen der Klägerin selbst fest; ergänzend verweist der Senat auf die landgerichtlichen Feststellungen im Strafurteil vom 18.03.2020 xx KLs-x Js xxx/18. Dass aber die Übernahme einer Geschäftsführer-Stellung nur „auf dem Papier“ und ohne irgendeine tatsächliche Einflussnahme auf die Führung der Geschäfte, mithin die vollumfängliche Überlassung und Duldung der Führung der Geschäfte an bzw. durch einen Dritten, eine gravierende Sorgfaltspflichtverletzung begründet, muss jedem der am Rechtsverkehr teilnimmt, einleuchten. Im Fall der Klägerin kommen zwei Dinge erschwerend hinzu: Zum einen diente die gewählte Gestaltung der Geschäftsführung der T GmbH – wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nochmals deutlich gemacht hat – dem Zweck, (angenommene) insolvenzrechtliche Beschränkungen des Ehemannes zu umgehen. Zum anderen wäre die Klägerin, wie sie insbesondere im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter im Einzelnen geschildert hat, nach ihrer persönlichen Situation und ihren Lebensumständen – nicht zuletzt aufgrund der Krankheit ihrer Tochter – gar nicht imstande gewesen, auch nur dem Grunde nach die Geschäftsführungsfunktion oder auch nur eine Überwachungsfunktion tatsächlich auszuüben. In einer solchen Situation die Geschäftsführung als Strohfrau zu übernehmen, jahrelang zu behalten und einen faktischen (Hintergrund-)Geschäftsführer zu dulden, ist grob schuldhaft (vgl. auch Jatzke in: Gosch, AO/FGO, § 69 AO, Rz. 26). Eine nur nominell zum Geschäftsführer bestellte Person, wie die Klägerin, kann sich auch nicht damit entlasten, sie habe – aus welchen Gründen auch immer – keine Möglichkeit gehabt, innerhalb der Gesellschaft ihre rechtliche Stellung als Geschäftsführer zu verwirklichen und die steuerlichen Pflichten zu erfüllen; für diesen Fall muss sie ihr Amt unmittelbar niederlegen bzw. durfte es vorliegend erst gar nicht antreten (z.B. BFH-Beschluss vom 22.07.1997 I B 44/97, BFH/NV 1998, 11; BFH-Urteile vom 07.05.1985 VII R 111/78, BFH/NV 1987, 210 und vom 02.07.1987 VII R 104/84, BFH/NV 1988, 6; vgl. auch BFH-Beschluss vom 05.03.1985 VII B 52/84, BFH/NV 1987, 459). Eine Ausnahme kann allenfalls in äußersten Zwangslagen anerkannt werden (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 22.07.1997 I B 44/97, BFH/NV 1998, 11). Der Hinweis, sie sei zur Übernahme der Geschäftsführung der T GmbH „gezwungen“ gewesen, um den (angemessenen) Unterhalt ihrer Familie zu sichern, genügt hierzu – und auch sonst zur Exkulpation – erkennbar nicht. Der Beklagte verweist insoweit zutreffend darauf, dass die Möglichkeit, den familiären Lebensunterhalt zu sichern, auch anderweitig möglich gewesen sei. Die Aufrechterhaltung eines bestimmten Lebensstandards kann jedenfalls nicht durch die Täuschung des Rechtsverkehrs über die tatsächlichen Verhältnisse in der T GmbH erreicht werden. Das liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Ob die Klägerin, wie sie zuletzt – ohne nähere Substantiierung – behauptet hat, geschäftlich hinreichend versiert gewesen wäre, ist bei dieser Sachlage nicht mehr von Bedeutung.Randnummer38

Hieraus ergibt sich unmittelbar, dass sich die Klägerin nicht damit entlasten kann, dass sie berechtigt gewesen sei, einen (faktischen) Geschäftsführer einzusetzen und dass dessen Verschulden ihr nicht zugerechnet werden könne. Es kommt dabei auch nicht darauf an, dass, wie die Klägerin meint, sich ein ihr allenfalls vorzuwerfendes Überwachungsverschulden nicht (kausal) auf die Entstehung des Haftungsschadens ausgewirkt habe. Denn diese Überlegungen verkennen den Charakter des Übernahmeverschuldens (vgl. auch Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht, Urteil vom 08.09.2015 1 K 71/14, ZInsO 2016, 531) und gehen schon im Ausgangspunkt fehl, weil das Übernahmeverschulden der Klägerin – vorgelagert – für sämtliche Vorgänge in der Geschäftsführung kausal geworden ist. Eine Geschäftsführerin, wie die Klägerin, darf die Führung der Geschäfte durch einen anderen nicht dulden (BFH-Beschluss vom 12.10.1999 VII B 54/99, GmbHR 2000, 395). Die Klägerin hat zudem vorsätzlich von vornherein von einer Einflussnahme auf die Geschäftsführung sowie von jedweder Überwachungsmaßnahme abgesehen und gegenüber dem Rechtsverkehr den falschen Eindruck erweckt, dass sie für eine ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte sorge (vgl. dazu z.B. BFH-Beschluss vom 16.02.2006 VII B 122/05, BFH/NV 2006, 1051). Bei einer solchen Sachlage durfte die Klägerin auch nicht auf die ordnungsgemäße Erfüllung der steuerlichen Pflichten der GmbH durch ihren Ehemann vertrauen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 22.07.1997 I B 44/97, BFH/NV 1998, 11; vom 05.03.1998 VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325). Denn fehlt es gänzlich an einer Überwachung der (faktischen) Geschäftsführung und wird diese – wie hier – vollständig und vorsätzlich aus der Hand gegeben, muss sich der Geschäftsführer den Vorwurf schweren Verschuldens entgegenhalten lassen; ein Vertrauen in die beauftragte Person entschuldigt nicht (vgl. BFH-Beschluss vom 25.04.1989 VII S 15/89, BFH/NV 1989, 757; BFH-Urteil vom 10.05.1988 VII R 24/85, BFH/NV 1989, 72). Danach stellt sich die Frage, ob eine etwaige ordnungsgemäße Überwachung eines faktischen Geschäftsführers die Steuerhinterziehung zutage gefördert hätte, im Fall eines Strohmanns (bzw. einer Strohfrau) schon aus Rechtsgründen nicht, wenn und weil der Geschäftsführer in jedem Fall die ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt, wenn er Mitarbeitern – oder wie hier sogar dem alleinigen faktischen Geschäftsführer – freie Hand lässt und praktisch seine Aufsichtspflicht weder ausübt noch organisatorische Vorkehrungen für eine geeignete Überwachung trifft (vgl. BFH-Urteil vom 10.05.1988 VII R 24/85, BFH/NV 1989, 72, sowie BFH-Beschluss vom 12.05.2009 VII B 266/08, BFH/NV 2009, 1589).Randnummer39

Aber selbst wenn man – entgegen der Einschätzung des Senats – auch in der hiesigen Konstellation einer Strohfrau als Geschäftsführerin und bei Vorliegen eines Übernahmeverschuldens für eine Haftungsinanspruchnahme darüber hinaus noch im Sinne einer (hypothetischen) Kausalität die Effektivität einer gebotenen Überwachungsmaßnahme voraussetzen würde, wie dies bei der Übertragung einzelner Aufgaben, wie insbesondere die Erledigung steuerlicher Pflichten auf Mitarbeiter oder Dritte mitunter gefordert wird (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 30.08.1994 VII R 101/92, BFHE 175, 509, BStBl II 1995, 278; vom 27.11.1990 VII R 20/89, BFHE 163, 106, BStBl II 1991, 284; anders möglicherweise BFH-Urteil vom 10.05.1988 VII R 24/85, BFH/NV 1989, 72; BFH-Beschluss vom 31.10.2005 VII B 57/05, BFH/NV 2006, 246), wäre von einem groben Verschulden der Klägerin auszugehen. Denn ein haftungsbegründendes grob fahrlässiges Verhalten läge auch dann bereits vor, wenn die Überwachungsmaßnahmen, zu deren Vornahme im Einzelfall Anlass bestand, geeignet gewesen wären, die Beanstandungen zu verhindern (vgl. BFH-Urteile vom 27.11.1990 VII R 20/89, BFHE 163, 106, BStBl II 1991, 284 und vom 30.08.1994 VII R 101/92, BFHE 175, 509, BStBl II 1995, 278; BFH-Beschluss vom 18.08.1999 VII B 106/99, BFH/NV 2000, 541). Welche Überwachungsmaßnahmen im Einzelfall hätten getroffen werden müssen, hängt dabei weitgehend von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. statt vieler BFH-Urteil vom 10.05.1988 VII R 24/85, BFH/NV 1989, 72). Der Senat hält angesichts dessen darüber hinaus dafür, dass ein nomineller Geschäftsführer, der tatsächlich nicht an der Geschäftsführung teilnimmt, sich umfassend über den Geschäftsgang unterrichten muss, und zwar nicht lediglich in Gestalt von Auskünften der überwachten Person, sondern durch eingehende Einsichtnahme in Vorgänge und Unterlagen (ggf. auch durch Beauftragung fachkundiger, dritter Personen). Er muss nämlich eine Basis dafür schaffen, dass bei normalen Umständen mit der ordnungsgemäßen Erledigung der Geschäfte gerechnet werden kann. Bereits hieran fehlt es im Streitfall. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Geschäftsführung über hinreichende Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, um die Vorgänge in der Gesellschaft nachzuvollziehen. Die Klägerin gibt zuletzt selbst an, „geschäftlich versiert“ gewesen zu sein. Davon abgesehen kann sich auf sein eigenes UnvermögenBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, seinen Aufgaben als Geschäftsführer nachzukommen, niemand berufen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 05.03.1998 VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325, vom 07.03.1995 VII B 172/94, BFH/NV 1995, 941). Hätte die Klägerin indessen pflichtgemäß an der Geschäftsführung teilgenommen und ihren faktischen Geschäftsführer überwacht, indem sie sich selbst mit der erforderlichen Intensität über den Geschäftsgang in der T GmbH im Einzelnen unterrichtet hätte, hätte nach der Überzeugung des Senats die ernsthafte Möglichkeit bestanden, den Sachverhalt betreffend die (Schein-)Rechnungen zur Sprache und Aufklärung zu bringen. Bereits der Umstand, dass die Klägerin hiervon nichts mitbekommen haben will, zeigt die grobe Pflichtwidrigkeit ihres Handelns. Immerhin handelte es sich um Eingangsrechnungen in Höhe von über aaa.bbb €, die – wie die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben – den normalen Umsatz der T GmbH bei weitem überstiegen. Zudem war immer das gleiche Unternehmen als Zulieferer (F.) betroffen. Unüblich war auch die immer gleiche Abwicklung der Ausgangsumsätze (taggleiche Bargeschäfte). Im Rahmen einer Gesamtschau besteht für den Senat kein Zweifel daran, dass solche Geschäftsvorfälle einer pflichtgemäß handelnden Geschäftsführung bekannt geworden wären. Dies hätte in Ansehung der auch im Rahmen der Betriebsprüfung und der strafrechtlichen Ermittlungen aufgegriffenen Indizien (Gestaltung der Rechnungen, reine Barabwicklung etc.) zu einer Aufklärung führen können. Dass es hierdurch zwingend zur Entdeckung gekommen wäre, ist für ein haftungsrelevantes Verschulden im Rahmen des § 69 AO nicht erforderlich; dieses Risiko trägt die Klägerin, die von der Überwachung der Geschäftsführung gänzlich Abstand genommen hat. Denn erforderlich, aber auch ausreichend ist bereits die Eignung der angezeigten Überwachungsmaßnahmen für die Entdeckung der Unregelmäßigkeiten. Die Klägerin kann insoweit auch nicht mit Erfolg darauf verweisen, dass auch die steuerliche Beratung der T GmbH die Scheinrechnungen nicht als solche erkannt habe und die (Finanz-)Behörden von der Umsatzsteuerhinterziehung erst, wie die Kläger meint, zufällig und durch eingehende Ermittlungen Kenntnis erlangt haben. Anders als ein Geschäftsführer haben diese hingegen keinen unbeschränkten „Inneneinblick“ in den praktischen Ablauf der täglichen Geschäfte, der hier für die Steuerhinterziehung ursächlich war und zu deren Überwachung die Klägerin gerade verpflichtet war.Randnummer40

Die Klägerin kann sich bei diesem Verschuldensvorwurf aus mehreren Gründen schließlich auch nicht damit entlasten, die T GmbH habe für steuerliche Belange einen Steuerberater eingeschaltet, wie es einer pflichtgemäßen Geschäftsführung entspreche (vgl. dazu z.B. BFH-Urteil vom 30.08.1994 VII R 101/92, BFHE 175, 509, BStBl II 1995, 278). Die Beauftragung eines Steuerberaters reicht für sich besehen ferner zur Entschuldigung auch nicht aus, weil ein Geschäftsführer dafür sorgen muss, dass der Steuerberater auch tatsächlich tätig wird (vgl. BFH-Beschluss vom 26.07.1994 VII B 142/92, juris). Bereits dies kann die Klägerin, die an der Geschäftsführung tatsächlich nicht teilgenommen hat, nicht für sich in Anspruch nehmen. Darüber hinaus betrifft der Vorwurf des Übernahmeverschuldens aber bereits die vorgelagerte Übernahme des Geschäftsführeramtes als solche. An der tatsächlichen Geschäftsführung, zu der auch die Beauftragung eines Steuerberaters gehört, hat die Klägerin nicht teilgenommen. Wiederum abgesehen davon wird die konkrete Haftungsursache im Streitfall nicht durch die Steuerberatung, sondern, wie dargelegt, durch den von der Klägerin eingesetzten und geduldeten faktischen Geschäftsführer gesetzt. Diese Ursache liegt hier im Kern auch nicht in umsatzsteuerspezifischen Einzelheiten, derentwegen ein Steuerberater die Alleinverantwortung tragen würde. Vielmehr betrifft er die tatsächlichen Grundlagen des Geschäfts der T GmbH und die Handlungen des faktischen Geschäftsführers, der die inkriminierten Scheinrechnungen erstellt hat, die wiederum Eingang in die umsatzsteuerlichen Erklärungen der T GmbH gefunden haben. Auch das ist kein Umstand, durch den sich die Klägerin durch die Einschaltung eines Steuerberaters entlasten könnte.Randnummer41

e) Der Beklagte geht bei der Haftungsinanspruchnahme auch zutreffend und in richtiger Höhe von einem kausalen Haftungsschaden aus.Randnummer42

aa) Im Fall eines unberechtigten Vorsteuerabzugs besteht der Schaden in der Begründung eines Umsatzsteuervergütungsanspruchs, der im Ergebnis zu einer entsprechenden Minderung der Steuerschuld und zu einem nicht angemeldeten nominalen Steuerbetrag führt (vgl. BFH-Beschluss vom 12.09.2014 VII B 99/13, BFH/NV 2015, 161). Zwischen Pflichtverletzung und Schadenseintritt muss ein Verursachungszusammenhang in dem Sinne bestehen, dass der Haftungsschaden ohne die Pflichtverletzung nicht eingetreten wäre (vgl. BFH-Urteil vom 06.03.2001 VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100 m. w. N.). Zur Begründung der Kausalität bedarf es auch der Feststellung, ob der Steuerschuldner, nachdem die Steuer entstanden war, überhaupt in der Lage gewesen war, diese zu bezahlen, ihm mithin ausreichende Mittel zur Verfügung standen (BFH-Urteil vom 06.03.2001 VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100).Randnummer43

bb) Der zuletzt noch vom Beklagten angesetzte Gesamthaftungsbetrag von zz.zzz € ist nicht zu beanstanden.Randnummer44

Aus der Umsatzsteuer 2010 verbleibt insoweit ein haftungsbefangener Rückstand in Höhe von rr.rrr €. Der ursprüngliche Verkürzungsbetrag bei der Umsatzsteuer der T GmbH für das Jahr 2010 in Höhe von bb.bbb € ist im Ausgangspunkt nicht streitig und durch das Finanzgericht Münster im Urteil vom 05.12.2019 5 K 247/16 U sowie durch das Landgericht I-Stadt im Urteil vom 18.03.2020 (xx KLs-x Js xxx/18) festgestellt. Dies bedarf keiner weiteren Erörterung. Der Haftungsbescheid bezog hiervon zunächst einen Betrag in Höhe von xy.xyx € ein und die Einspruchsentscheidung berücksichtigt zutreffend die Zahlung auf die Umsatzsteuerschuld der T GmbH in Höhe von xbxb €.Randnummer45

Die Haftung erstreckt sich daneben – rechtlich zulässig – auf die angefallenen Zinsen (§ 233 AO), und zwar in Höhe von zzzz € (Zinslauf bis 05.05.2014), der bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung unverändert blieb. Fehler in diesem Bereich sind weder geltend gemacht noch drängen sich solche auf. Fragen der Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes sind für den hier in Rede stehenden Verzinsungszeitraum nicht aufgeworfen; der Zinsanspruch wird durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 (BVerfGE 158, 282), nicht berührt. Danach ist die Vollverzinsung nach § 233a AO zwar ab 2014 als verfassungswidrig anzusehen, die alte Rechtslage bleibt aber bis zum Jahr 2018 weiterhin anwendbar. Dies gilt auch für eine Haftungsinanspruchnahme.Randnummer46

cc) Die (schuldhafte) Pflichtverletzung in Gestalt der unzutreffenden Umsatzsteuererklärungen bzw. -voranmeldungen ist für den Haftungsschaden ersichtlich auch ursächlich gewesen, da sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Steuerschaden entfiele. Der Beklagte hat die Haftung der Klägerin insbesondere zu Recht nicht der Höhe nach aufgrund des Grundsatzes der anteiligen Tilgung beschränkt. Substantielle Einwände hat die Klägerin hierzu nicht vorgebracht und sind für den Senat auch nicht ersichtlich, zumal es bei der Umsatzsteuer für die Frage des Vorhandenseins der für die Tilgung der Steuerrückstände erforderlichen Liquidität nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses von Nachforderungsbescheiden, sondern auf denjenigen der Fälligkeiten der Steuerschulden, hier der nicht ordnungsgemäß erbrachten Umsatzsteuervorauszahlungen ankommt (vgl. BFH-Urteil vom 07.05.1985 VII R 111/78, BFH/NV 1987, 210).Randnummer47

3. Ein Ermessensfehler bei der Haftungsinanspruchnahme ist nicht erkennbar.Randnummer48

Nach § 102 Satz 1 FGO ist die gerichtliche Prüfung einer finanzbehördlichen Ermessensentscheidung darauf beschränkt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind (sog. Ermessensüberschreitung), ob das Finanzamt von seinem Ermessen in einer dem Zweck der (Ermessens-)Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (sog. Ermessensfehlgebrauch) bzw. ein ihm zustehendes Ermessen nicht ausgeübt hat (sog. Ermessensunterschreitung) oder ob die Behörde die verfassungsrechtlichen Schranken der Ermessensbetätigung, insbesondere also den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz missachtet hat (z.B. BFH-Urteil vom 24.04.2014 IV R 25/11, BFHE 245, 499, BStBl II 2014, 819). Kommen mehrere Haftungsschuldner in Betracht, genügt es, dies zu erkennen zu geben und die Inanspruchnahme des oder der weiteren Haftungsschuldner zu erwägen (vgl. BFH-Urteil vom 11.03.2004 VII R 52/02, BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579). Maßgebend für die gerichtliche Überprüfung einer Ermessensentscheidung sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letztinstanzlichen Verwaltungsentscheidung, hier der Einspruchsentscheidung (BFH-Urteil vom 22.05.2001 VII R 79/00).Randnummer49

Nach diesen Maßgaben ist die Haftungsinanspruchnahme nicht zu beanstanden. Der Beklagte geht bei seiner Entscheidung vom zutreffenden Sachverhalt aus und hat sowohl zum Entschließungs- als auch zum Auswahlermessen nachvollziehbare Ausführungen gemacht. Er hat insbesondere auch die Inanspruchnahme des faktischen Geschäftsführers berücksichtigt. Gegen diese Erwägungen gibt es nichts zu erinnern. Es handelt sich um ein mögliches, mithin rechtmäßiges Ergebnis der Ermessensausübung; das Gericht ist nicht befugt, eigenes Ermessen anstelle des Ermessens der Finanzverwaltung auszuüben.Randnummer50

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision war nach Maßgabe des § 115 Abs. 2 FGO nicht zuzulassen. Hieran ändert die beim BFH anhängige Revision zum Aktenzeichen VII R 23/19 nichts. Anlass der Entscheidung des 12. Senats im zugrunde liegenden Urteil vom 30.04.2019 12 K 620/15 (EFG 2019, 1257) die Revision zuzulassen, war die Höhe des auf 6 % festgelegten Zinssatzes (§ 238 AO). Die in der Entscheidung des 12. Senats die Haftung begründenden Fragen sind in der Rechtsprechung des BFH geklärt und werden hier auf den Einzelfall angewendet.

Schlagworte: AO § 69, faktischer Geschäftsführer, Geschäftsführerhaftung, Geschäftsführerhaftung bei GmbH, Geschäftsführerhaftung GmbH, GmbH-Geschäftsführerhaftung, Grundsätze über die faktische Organstellung, Haftung des Geschäftsführers, Haftung Geschäftsführer