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OLG München, Urteil vom 07.12.2023 – 23 U 6109/21

Kündigung Handelsvertretervertrag

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 05.08.2021, Az. 12 HK O 18776/19, dahingehend abgeändert, dass festgestellt wird, dass die Beklagten keinen Anspruch auf Unterverdienst aus Provisions-/Zahlungsvereinbarungen gegenüber der Klägerin in Höhe von 30.161,30 € zum Stand 17.02.2020 haben und die Klage im Übrigen abgewiesen bleibt.

II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

III. Von den Kosten der ersten Instanz trägt die Klägerin 60 % und die Beklagten tragen samtverbindlich 40 %. Von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin 57 % und die Beklagten tragen samtverbindlich 43 %.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des aus dem Urteil gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.

1

Die Parteien streiten über gegenseitige Ansprüche nach Kündigung eines Handelsvertretervertrages.

2

Die Klägerin war seit 01.10.2014 als Versicherungsvertreterin für beide Beklagte tätig.

3

In ihrem Agenturvertrag vereinbarten die Parteien, dass die Klägerin neben Abschluss-, Bestandspflege- und Beteiligungsprovisionen folgende jederzeit widerrufliche Zu- bzw. Vorschüsse bekommen sollte: Für den Aufbau des Neugeschäfts 2.000 € monatlich, wovon bis zu 1.500 € mit Provisionen verrechenbar waren, einen nicht verrechenbaren Bürokostenzuschuss von 1.000 € monatlich sowie für den Aufbau des Bestands weitere nicht verrechenbare 2.500 € monatlich (LGU S. 2). Wegen der Einzelheiten wird auf den Vertretungsvertrag (Anlage K1) Bezug genommen.

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Ferner vereinbarten die Parteien ab 01.10.2014 eine Vorschusszahlung auf Differenzprovisionen (vgl. Anlage B1 S. 1 unten). Diese betrug zunächst 2.000 € monatlich (Anlage K27.021 Pos. 306) und war voll mit Provisionen verrechenbar (vgl. Anlage B1).

5

Am 01.10.2015 vereinbarten die Parteien für die Zeit vom 01.10.2015 bis zum 30.09.2016 einen Bürokostenzuschuss und eine Zahlung für den Aufbau des Bestandes von je 1.000 € monatlich (Anlage B1 Ziffern 2 und 4).

6

Ferner sagten die Beklagten eine Vorschusszahlung auf die Differenzprovision von weiterhin 2.000 € monatlich zu (Anlage B1 Ziffer 1). Dazu regelten die Parteien eine monatliche Verrechnung mit den anrechenbaren Beteiligungsprovisionen, eine Übertragung eines etwaigen Unterverdienstes auf den Folgemonat, sowie, dass ein Unterverdienst am Ende des Zahlungszeitraums an die Beklagten zurückzuzahlen sei.

7

Des Weiteren gewährten die Beklagten eine monatliche Zahlung von 2.000 € zum Aufbau des Neugeschäfts (Anlage B1 Ziffer 3). Sie stellten klar, dass es sich dabei zu 100 % um einen ggf. zurückzuerstattenden Provisionsvorschuss handele, mit dem alle Provisionen aus der Provisions-/Zahlungsvereinbarung zum Vertretervertrag verrechnet würden. Ein etwaiger Unterverdienst sollte auf den jeweils darauffolgenden Abrechnungszeitraum übertragen werden. Zur Tilgung des bisher aufgelaufenen Unterverdienstes einigten sich die Parteien auf eine Ratenzahlung von 500 € monatlich. Ein Rückstand bei Beendigung des Vertrages sollte in einer Summe zurückzuzahlen sein.

8

Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 01.10.2015 Bezug genommen (Anlage B1).

9

Mit Vereinbarung vom 18.10.2016 für den Zeitraum 01.10.2016 bis 31.12.2016 wurde ein Organisationskostenzuschuss von 1.000 € monatlich zugesagt; die Vorschüsse für die Differenzprovision und zum Aufbau des Neugeschäfts wurden jeweils (weiterhin) auf 2.000 € monatlich festgelegt. Zusätzlich wurden auch zur Tilgung des Unterverdienstes bezüglich der Differenzprovision Rückzahlungsraten von monatlich 500 € vereinbart. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 18.10.2016 verwiesen (Anlage K9 S. 4).

10

2016 gehörte die Klägerin zum Top-Club der besten Vermittler der Beklagten (Anlage K18, K20). 2017 belegte sie den zweiten Platz der Geschäftsstellen im Startwettbewerb der neuen Agenturen (Anlage K21).

11

Mit Wirkung ab 2017 ernannten die Beklagten die Klägerin zur Geschäftsstellenleiterin (Anlage K2), ausdrücklich als Dank und Anerkennung für herausragende Leistungen (Anlage K22).

12

Für den Zeitraum vom 01.01.2017 bis 28.02.2018 erhöhten die Beklagten den Vorschuss auf die Differenzprovision auf 3.000 € monatlich (Anlage K9 S. 8 Ziffer 13). Der Vorschuss für den Aufbau des Neugeschäfts wurde auf 1.500 € monatlich herabgesetzt; die Rückzahlungsraten für den diesbezüglichen Unterverdienst wurden ab 01.02.2017 auf 1.500 € monatlich erhöht. Wegen der Einzelheiten wird auf Anlage K9 S. 7 ff. verwiesen.

13

Am 05.03.2018 setzten die Beklagten für die Zeit vom 01.03.2018 bis 28.02.2019 den Organisationszuschuss auf 2.500 € monatlich fest, gewährten eine Zahlung für den Aufbau Bestand von 3.000 € monatlich (Anlage B3 Ziffern 2 und 3) und erhöhten den Vorschuss auf die Differenzprovision auf 4.000 €. Die vorherige Regelung zum Vorschuss für den Aufbau des Neugeschäfts wurde unverändert fortgeführt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 05.03.2018 Bezug genommen (Anlage B4).

14

Mit Schreiben vom 05.06.2019 erklärten die Beklagten, die Klägerin rückwirkend zum 01.05.2019 zur Subdirektorin herabzustufen. Zudem boten sie neue Zahlungsmodalitäten für den Zeitraum 01.05.2019 bis 29.02.2020 an (Vorschuss Bestand: 2.000 € monatlich; Vorschuss Overheadvergütung: 500 € monatlich; jeweils verrechenbar). Dabei wiesen sie auf den bestehenden Unterverdienst aus den Vorschüssen für die Differenzprovision von -35.161,30 € hin sowie darauf, dass der Unterverdienst bei Beendigung des Vertrages in einer Summe zurückzuzahlen sei. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 05.06.2019 verwiesen (Anlage K11). Die Klägerin hat das Angebot der Beklagten nicht angenommen.

15

Mit Schreiben von 30.09.2019 kündigten die Beklagten den Vertriebsvertrag mit der Klägerin ordentlich zum 31.12.2019 (Anlage K4).

16

Die Abrechnung 09/2019 ergab einen Provisionssaldo von +4.532,21 €, die Abrechnung 12/2019 von +1.080,29 €, die Abrechnung 01/2020 von +258,72 € und die Abrechnung von 02/2020 von +8.715,55 € jeweils zugunsten der Klägerin.

17

Der Unterverdienst der Klägerin hatte sich bis zur Kündigung wie folgt entwickelt: Am 01.01.2015 betrug er -10.110,08 € (Anlage K27 S. 021). Trotz einer Kulanzausbuchung der Beklagten in Höhe von 20.182,31 € (Anlage B1 S. 1 unten) lag er am 31.12.2015 bei -22.511,50 € (Anlage K27.032). Am 17.12.2018 war er auf -39.695,90 € angestiegen (Anlage K25.019). Mit Schreiben vom 14.10.2019 forderten die Beklagte von der Klägerin die Zahlung von -43.593,12 € bis 28.10.2019 (Anlage K10.001). Den Unterverdienst nach Verrechnungen mit den zuletzt noch erteilten Abrechnungen 09/2019 bis 02/2020 beziffern die Beklagten zum 17.02.2020 mit -30.161,30 €.

18

Die Klägerin meint, dass der mit der Auszahlung der Vorschüsse über die Vertragsjahre hinweg aufgelaufene Unterverdienst im Zeitpunkt der Vertragsbeendigungserklärung ein unzumutbares Kündigungshindernis für sie dargestellt habe. Daher sei die in den Vorschussvereinbarungen liegende Rückzahlungsabrede unwirksam. Die Beklagten könnten daher keine Rückzahlung eines noch ausstehenden Unterverdienstes verlangen. Umgekehrt könne die Klägerin noch die Auszahlung der Provisionen verlangen, die die Beklagten in der Vertragslaufzeit und auch danach noch mit den Vorschüssen verrechnet habe. Letzteres bedeute, dass die Klägerin noch 6.500 € für 2016, 19.208 € für 2017 und 14.088,39 € für 09/2019 bis 02/2020 beanspruchen könne. In erster Instanz hat die Klägerin des Weiteren noch 6.000 € für 2015 begehrt, für die Jahre 2015 und 2016 insgesamt also 12.500 €.

19

Die Klägerin hat in erster Instanz nach zwei Klageerweiterungen zuletzt beantragt:

I. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich 12.500 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

II. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich weitere 14.088,39 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

III. Es wird festgestellt, dass die Beklagten keinen Anspruch aus Unterverdienst aus Provision-/Zahlungsvereinbarungen gegenüber der Klägerin in Höhe von 30.161,30 € zum Stand 17.02.2020 haben.

IV. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich weitere 19.208,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

20

Die Beklagten haben

Klageabweisung beantragt.

21

Sie behaupten, dass sie zu Beginn des Vertragsverhältnisses davon ausgegangen seien, dass die nach ihrem Lebenslauf sehr vertriebserfahrene Klägerin die Vorschüsse ins Verdienen bringen würde, zumal ab ihrer Beförderung zur Geschäftsstellenleiterin. Es sei objektiv möglich gewesen, dass ein Versicherungsvertreter wie die Klägerin die Vorschüsse verdient hätte. Hinzu komme, dass an die Klägerin über die Vertragsjahre hinweg (inklusive der verrechenbaren Vorschüsse) ganz erhebliche Auszahlungen von über 390.000 € getätigt worden seien.

22

Die Beklagten meinen, dass deshalb der am Ende noch ausstehende Unterverdienst von lediglich ca. 30.000 € kein unzumutbares Kündigungshindernis für die Klägerin, die auch Rücklagen hätte bilden können, darstelle.

23

Mit Endurteil vom 05.08.2021 hat das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen nach § 540 Abs. 1 ZPO Bezug genommen wird, die Klage abgewiesen. Zur Begründung führt es aus, dass ein unzumutbares Kündigungshindernis v.a. angesichts der erheblichen Zahlungen an die Klägerin nicht gegeben sei. Wegen der Einzelheiten wird auf das Landgerichtsurteil verwiesen.

24

Gegen die Entscheidung des Landgerichts wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung. Sie verfolgt unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Sachvortrags mit Ausnahme des Begehrens auf Zahlung von 6.000 € für das Jahr 2015 ihre erstinstanzlichen Ziele weiter.

25

Die Klägerin hat zuletzt beantragt:

I. Das Urteil des Landgerichts München I vom 05.08.2021, Az. 12 HK O 18776/19, zugestellt am 09.08.2021, wird aufgehoben.

II. Die Beklagten werden verurteilt der Klägerin samtverbindlich 6.500,00 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

III. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich weitere 14.088,39 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

IV. Es wird festgestellt, dass die Beklagten keinen Anspruch auf Unterverdienst aus Provisions-/Zahlungsvereinbarungen gegenüber der Klägerin in Höhe von 30.161,30 € zum Stand 17.02.2020 haben.

V. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin samtverbindlich weitere 19.208,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

26

Die Beklagte hat die

Zurückweisung der Berufung beantragt.

27

Auch sie wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag.

28

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, den Hinweisbeschluss des Senats vom 09.11.2023 (Bl. 171/175 d.A.) sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 30.11.2023 Bezug genommen.

II.

29

Die negative FeststellungsklageBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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hat Erfolg; die zulässigen Leistungsklagen sind demgegenüber unbegründet.

30

1. Die negative FeststellungsklageBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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(Berufungsantrag Ziff. IV) ist zulässig und begründet.

31

1.1. Das Feststellungsinteresse der Klägerin (§ 256 Abs. 1 ZPO) folgt daraus, dass sich die Beklagten eines Anspruchs auf Rückzahlung des Unterverdienstes in Höhe von 30.161,30 € berühmen.

32

1.2. Die negative FeststellungsklageBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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ist begründet.

33

Die Beklagten haben keinen Anspruch gegen die Klägerin auf Rückzahlung eines noch bestehenden Unterverdienstes aus den vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Parteien in Höhe von 30.161,30 € am 17.2.2020.

34

Denn die in den Vereinbarungen zu den Vorschüssen für die Differenzprovision und für den Aufbau des Neugeschäfts liegende Absprache, dass nicht ins Verdienen gebrachte Vorschüsse spätestens mit Beendigung des Vertriebsvertrages zurückzuzahlen sind, ist gemäß § 134 BGB, § 89 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2 und § 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB unwirksam.

35

1.2.1. Grundsätzlich darf gemäß § 89 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz HGB die Kündigungsfrist für den Unternehmer nicht kürzer sein als für den Handelsvertreter. Nach § 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB darf das Recht des Handelsvertreters zur außerordentlichen Kündigung nicht beschränkt werden. Bei beiden Normen handelt es sich um zwingende Schutzvorschriften zugunsten des Vertreters, der nicht einseitig in seiner Entschließungsfreiheit beschnitten werden darf (BGH NJW 2016, 242 Tz. 27; ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22). Eine danach unzulässige Beschneidung liegt mittelbar vor, wenn an die Kündigung des Vertreters wesentliche, eine Vertragsbeendigung erschwerende Nachteile geknüpft werden (BGH NJW 2016, 242 Tz. 27; ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22). Ob die Nachteile von solchem Gewicht sind, dass sie zu einer unwirksamen Kündigungserschwernis führen, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (BGH NJW 2016, 242 Tz. 27; ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22). Ihre Beantwortung hängt insbesondere von der Höhe der gegebenenfalls zurückzuerstattenden Zahlungen und dem Zeitraum, für den sie zu erstatten sind, ab (BGH ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22).

36

1.2.2. Nach diesen Grundsätzen ist hier insoweit von einer unzumutbaren Kündigungserschwernis auszugehen, als die Klägerin nach den vertraglichen Vereinbarungen dazu verpflichtet war, einen Unterverdienst in Höhe von noch rund 30.000 € bei Beendigung des Handelsvertretervertrages auf einmal zurückzuzahlen.

37

Zwar ist dieser Unterverdienst über viele Jahre und also einen längeren Zeitraum aufgelaufen. Dabei hat er jedoch von Anfang an stetig zugenommen. Anfang 2015 lag er bei -10.110,08 € (Anlage K27 S. 021), Ende 2015 bei -22.511,50 € (Anlage K27 S. 032), wobei die Beklagten kurz zuvor im Oktober 2015 20.182,31 € an weiterem Unterverdienst kulanzweise ausgebucht hatten (Anlage B1 S. 1 unten). Im Dezember 2018 betrug er -39.695,90 € (Anlage K25 S. 019), Mitte Januar 2019 -41.389,49 € (Anlage K30 S. 068) und wenige Tage nach der Kündigungserklärung am 14.10.2019 -43.593,12 € (Anlage K10 S. 001). Dieses beständig zunehmende, erhebliche Soll steht wirtschaftlich einem hohen Kredit gleich, der bei Vertragsbeendigung in einer Summe zurückzuzahlen war (vgl. das Schreiben der Beklagten vom 14.10.2019, Anlage K10 S. 001) und folglich in seiner konkreten Entwicklung und Ausformung geeignet war, die Entschließungsfreiheit der Klägerin in Bezug auf eine Vertragsbeendigung unzumutbar zu beeinträchtigen.

38

Selbst wenn man unterstellt, dass die Beklagten ursprünglich bei Vertragsbeginn davon ausgingen, die vertriebserfahrene Klägerin werde die Vorschüsse ins Verdienen bringen, wäre diese Vorstellung alsbald durch die tatsächliche Entwicklung widerlegt worden. Anstatt die Vorschüsse dementsprechend anzupassen und zu reduzieren, haben die Beklagten indes gegen Ende der Vertragszeit die Differenzprovision sogar nochmals sprunghaft erhöht (im März 2018 von 3.000 € auf 4.000 € monatlich), obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits ein Unterverdienst der Klägerin von rund -15.000 € (Differenzprovision) und über -22.000 € (Aufbau Neu) bestand (Anlage B4 S. 1 unten und Ziffer 3). Auf diese Weise haben sie den auf der Klägerin lastenden Schuldendruck nochmals verstärkt, anstatt ihn abzumildern.

39

So kam es, dass die Klägerin sich am Ende der Vertragszeit einer gravierenden Rückzahlungsforderung der Beklagten in Höhe von über 30.000 € gegenübersah (Anlagen K16, K17). Diese Schuld wog für die Klägerin umso schwerer, als nach Ausspruch der Kündigung, während des Laufs der ordentlichen Kündigungsfrist ab Oktober 2019, die Beklagten nahezu alle nach Abzügen noch verbleibenden Provisionsverdienste der Klägerin mit dem aufgelaufenen Unterverdienst verrechneten, so dass die Klägerin ab Oktober 2019 praktisch keine Einnahmen mehr hatte. Trotz dieser Verrechnungen blieben noch gut 30.000 € Schulden übrig.

40

Die insgesamt über die Jahre 2014 bis 2019 erfolgten erheblichen Auszahlungen der Beklagten an die Klägerin führen entgegen der Meinung des Landgerichts und entgegen der Meinung des Beklagtenvertreters (Schriftsatz vom 13.11.2023 S. 1 f., Bl. 176 f. der Akte) zu keiner anderen Bewertung. Die Auszahlungen in der Vergangenheit ändern nichts daran, dass die Klägerin sich im Kündigungszeitpunkt hohen Schulden gegenübersah, ohne weitere Einnahmen zu haben. Hierin liegt das Kündigungshemmnis begründet. Es ist hier gerade das Problem, dass die Beklagten über die Jahre (viel) zu hohe Vorschüsse an die Klägerin ausbezahlt haben, ohne diese zeitnah auch nur annähernd vollständig zurückzufordern, so dass es bei Vertragsbeendigung zu einer allzu hohen Rückforderung und damit zu einem entscheidenden Kündigungshemmnis kam.

41

Dabei können die Beklagten der Klägerin auch nicht mit Erfolg vorhalten, keine ausreichenden Rückstellungen aus den an sie geleisteten Zahlungen gebildet zu haben. Vielmehr hätten umgekehrt die Beklagten ihre Vorschusszahlungen angemessen regulieren können und müssen. Das folgt aus der Ratio der §§ 89 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2, 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB, die den im Allgemeinen wirtschaftlich schwächeren Handelsvertreter davor bewahren wollen, einseitig in seiner Entschließungsfreiheit beschnitten zu werden (BGH NJW 2016, 242 Tz. 27; ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 22). Dieser Schutz ist nicht auf Rückstellungen bildende Handelsvertreter beschränkt. Das gilt jedenfalls in der vorliegenden Konstellation, in der ein erheblicher Teil der Zahlungen, etwa der Bürokostenzuschuss oder die zur Aufbaufinanzierung gezahlten Vorschüsse, der Aufrechterhaltung und dem Ausbau des Geschäftsbetriebs der Klägerin und damit gerade nicht der Rückstellungsbildung zu dienen bestimmt war.

42

Insgesamt ist nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls die hier gegebene Rückzahlungsvereinbarung hinsichtlich des verbleibenden Unterverdienstes mit dem Schutzzweck der §§ 89 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2, 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB nicht mehr vereinbar.

43

2. Die Leistungsklagen der Klägerin (Berufungsanträge Ziffern II., III., V.) sind zulässig, aber unbegründet.

44

Die Klägerin begehrt in der Berufungsinstanz noch für die Jahre 2016 und 2017 sowie für den Zeitraum von 09/2019 bis 02/2020 die Auszahlung ihrer Ansicht nach noch ausstehender, weil zu Unrecht mit den ausgezahlten Vorschüssen verrechneter Provisionen. Hierauf hat sie indes keinen Anspruch mehr.

45

2.1. Gemäß § 134 BGB i.V.m. § 89 a Abs. 1 Satz 2 HGB ist nur die Abrede unwirksam, dass der Handelsvertreter bei Beendigung seines Vertrages einen dann noch vorhandenen Unterverdienst ausgleichen muss (BGH ZVertriebsR 2023, 191 Tz. 30). Nur insoweit ist eine Kündigungserschwernis gegeben. Der Vertrag im Übrigen bleibt dagegen wirksam und bildet den Rechtsgrund für die erfolgten monatlichen Zahlungen, die dem Handelsvertreter (wie eine monatliche Festvergütung oder Garantieprovision) verbleiben (BGH a.a.O. Tz. 30). Die Eigenschaft dieser Zahlungen als Provisionsvorschüsse bleibt unberührt mit der Folge, dass der Handelsvertreter keine Provision nachfordern kann, soweit ihm die Vorschüsse verbleiben (BGH a.a.O. Tz. 30).

46

Dies gilt entgegen der Meinung des Klägervertreters (Schriftsatz vom 17.11.2023 S. 2 unter 2.) auch für Überhangprovisionen, die erst nach Vertragsende (hier: im Januar und Februar 2020) angefallen sind. Auch diese sind nicht mehr nachforderbar, weil und soweit der Klägerin zuvor gezahlte höhere, noch nicht verdiente Provisionsvorschüsse verbleiben: (Auch) die Überhangprovisionen sind dann durch die vorherigen Vorschusszahlungen bereits vorab getilgt worden. Die Klägerin kann ihre Bezahlung nicht doppelt verlangen.

47

2.2. Nach diesen Grundsätzen kann die Klägerin die eingeklagten Provisionen in Höhe von 6.500 € für 2016, in Höhe von 19.208 € für 2017 und in Höhe von 14.088,39 € aus den Abrechnungen 09/2019 (4.532,21 €), 12/2019 (1.080,29 €), 01/2020 (258,72 €) und 02/2020 (8.715,55 €) nicht mehr verlangen. Denn es bestanden unstreitig jeweils (deutlich) höhere diesbezügliche Unterverdienste, d.h., die Klägerin hatte zuvor schon noch nicht ins Verdienen gebrachte Vorschusszahlungen erhalten, auf die vereinbarungsgemäß künftige anfallende Provisionen verrechnet werden.

48

2.3. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch mehr auf Auszahlung weiterer Vorschüsse für die Zeit nach der Kündigungserklärung im September 2019 bis zur Vertragsbeendigung Ende Dezember 2019.

49

Zwar kann ein solcher Vorschussanspruch im Kündigungszeitraum bestehen, wenn der Entzug eines vorher rechtsverbindlich vereinbarten Vorschusses im Moment der Kündigungserklärung ein unzumutbares Kündigungshindernis darstellen würde (so die Konstellation im Verfahren 23 U 3183/21, auf das der Klägervertreter im Schriftsatz vom 17.11.2023 S. 3 Bezug nimmt).

50

Jedoch gab es hier keine Rechtsgrundlage für Vorschusszahlungen im Kündigungszeitraum mehr, die durch die Kündigung hätte entzogen werden können. Die letzte Vorschussvereinbarung der Parteien war bis zum 28.02.2019 befristet (Anlage B3) und bei Kündigungserklärung am 30.09.2019 schon abgelaufen. Das Angebot einer neuen Vorschussvereinbarung durch das Schreiben vom 05.06.2019 (Anlage K11) hatte die Klägerin nicht mehr angenommen (Klageschrift S. 5, Schriftsatz vom 17.11.2023 S. 5).

51

3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 92 Abs. 1 ZPO.

52

4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

53

5. Die Revision war nicht nach § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung. Auch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert die Entscheidung des Revisionsgerichts nicht.

Schlagworte: Argenturvertrag, Handelsvertreter, Handelsvertretervertrag, negative Feststellungsklage