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OLG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2014 – 20 U 3/13

AktG § 87; BGB § 315

1. Es kann offen bleiben, ob für Entscheidungen nach § 87 Abs. 2 AktG (und für deren Aufhebung als actus contrarius) nach Insolvenzeröffnung weiterhin formal der Aufsichtsrat der Gesellschaft zuständig bleibt (vgl. Hirte in Uhlenbruck, InsO, 13. Aufl. 2010, § 11 Rn. 185) oder ob diese Zuständigkeit als Teil des Verdrängungsbereichs ebenfalls auf den Insolvenzverwalter übergeht (vgl. Hüffer, AktG, 11. Aufl. 2014, § 87 Rn. 30). Denn selbst im Falle der fortwirkenden Zuständigkeit des Aufsichtsrates hätte ein entsprechender Beschluss wegen § 80 Abs. 1 InsO jedenfalls der Zustimmung des Insolvenzverwalters bedurft, weil die Auswirkungen des Beschlusses unmittelbar die Insolvenzmasse betreffen, so dass jedenfalls ein Fall der Kompetenzüberschneidung zwischen Aufsichtsrat und Insolvenzverwalter gegeben ist (vgl. Ott/Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 3. Aufl. 2013, § 80 Rn. 111 u. 112; Hüffer, AktG, 11. Aufl. 2014, § 264 Rn. 10 f.).

2. Der der Anwendungsbereich des § 87 Abs. 2 AktG ist grundsätzlich eröffnet, wenn sich die Lage der Gesellschaft nach der Festsetzung der Bezüge so verschlechtert hat, dass die Weitergewährung der vereinbarten Bezüge unbillig für die Gesellschaft ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung des Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung vom 31.07.2009, durch welches § 87 Abs. 2 AktG neu gefasst und inhaltlich verschärft wurde, ist bei Vorliegen eines Eröffnungsgrundes für das Insolvenzverfahren ohne weiteres von einer entsprechenden Verschlechterung der Lage der Gesellschaft und der daraus resultierenden Unbilligkeit der Fortzahlung der ungekürzten Bezüge des Vorstandes auszugehen (vgl. BT-Drs. 16/12278 S. 6; Hüffer, AktG, 11. Aufl. 2014, § 87 Rn. 25; Bürgers/Israel in Heidelberger Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2014, § 87 Rn. 14).

3. Nach der im Jahr 2009 erfolgten Neufassung des § 87 Abs. 2 AktG „soll“ der Aufsichtsrat bei Vorliegen der obigen Voraussetzungen die Bezüge des Vorstandes auf das in der konkreten Situation angemessene Niveau herabsetzen. Bei Ausübung dieses gesetzlichen Sonderrechts zur einseitigen Vertragsanpassung hat der Aufsichtsrat damit sowohl hinsichtlich des „Ob“ der Herabsetzung als auch des „Wie“ der konkreten Absenkung das ihm insoweit zukommende Ermessen fehlerfrei auszuüben.

4. Die grundsätzliche Entscheidung zur Herabsetzung der Vorstandsbezüge durch den Aufsichtsrat begegnet aufgrund der wirtschaftlich schwierigen Lage der Gesellschaft keinen Bedenken, weil auch der Vorstand einen Verantwortungsbeitrag zur späteren Krise der Gesellschaft geleistet hat. Unter diesen Umständen gibt § 87 Abs. 2 AktG als Regelfall eine Verpflichtung zur Herabsetzung der VergütungBitte wählen Sie ein Schlagwort:
Herabsetzung der Vergütung
Vergütung
des entsprechenden Vorstandsmitglieds vor, von der bei pflichtgemäßer Ermessensausübung nur bei Vorliegen besonderer Umstände Abstand genommen werden kann (vgl. BT-Drs. 16/13433 S. 10; Mertens/Cahn in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rn. 99; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rn. 66). Die Ursachen des wirtschaftlichen Niedergangs der Gesellschaft, insbesondere die Vereinbarung langfristiger Abnahmeverpflichtungen zu später nicht mehr am Markt realisierbaren Preisen, fallen aber auch in die Amtszeit des Vorstands und sind damit von diesem objektiv mitverursacht (vgl. BT-Drs. 16/12278 S. 6). Eine darüber hinausgehende Pflichtwidrigkeit des Handelns des betroffenen Vorstandes setzt § 87 Abs. 2 AktG nicht voraus (vgl. Koch WM 2010, 49, 55).

5. Der Aufsichtsrat hat bei seiner Entscheidung nach § 87 Abs. 2 AktG zugleich nachvollziehbare und von sachfremden Gesichtspunkten freie Erwägungen zur künftigen Höhe der abgesenkten Bezüge anzustellen, was der sich auf die wirksame Herabsetzung Berufende darzulegen und beweisen hat (vgl. Würdinger in Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 315 Rn. 54 mwN).

6. Bei einem Ermessensausfall ist der Herabsetzungsbeschluss unwirksam.

7. Dies gilt ungeachtet der in der Literatur umstrittenen Frage, ob dem Aufsichtsrat hinsichtlich der angemessenen Höhe der neu festzusetzenden Bezüge ein gewisser Ermessenspielraum zukommt (vgl. Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rn. 74; Annuß/Theusinger BB 2009, 2434, 2438) oder ob man aufgrund der Eingriffstiefe für den betroffenen Vorstand lediglich eine ganz bestimmte Entscheidung als angemessen ansehen will (vgl. Hüffer, AktG, 11. Aufl. 2014, § 87 Rn. 27), wobei aus Sicht des Senats die Nähe des § 87 Abs. 2 AktG zur Vergütungsregelung des § 87 Abs. 1 AktG dafür spricht, dass auch im Falle der Herabsetzung nicht nur eine ganz bestimmte Vorstandsvergütung als angemessen anzusehen ist, sondern sich die „angemessene Höhe“ der Bezüge im Sinne des § 87 Abs. 2 AktG stets in einem nicht trennscharf abgrenzbaren Bereich noch angemessener Entscheidungen bewegt (vgl. BT-Drs. 16/13433 S. 10). Insoweit wäre auch allein in der Tatsache einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen amtierenden und ausgeschiedenen Vorständen nicht per se eine pflichtwidrige Ermessensausübung zu sehen, soweit sich diese Differenzierung nachvollziehbar begründen lässt (vgl. OLG DüsseldorfBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Düsseldorf
, Urteil vom 17.11.2003 – 15 U 225/02 = NZG 2004, 141; Seibt in Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rn. 19; Mertens/Cahn in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rn. 98; Diller NZG 2009, 1006, 1008).

8. In jedem Fall ist es nach Auffassung des Senats ermessensfehlerhaft, bei der Neufestsetzung der Vorstandsvergütung durch den Aufsichtsrat ausschließlich auf die weiterhin durch den betroffenen Vorstand zu erbringende Tätigkeit und deren weiteren Nutzen für die Gesellschaft abzustellen. Zwar schließt die Neufassung des § 87 Abs. 2 AktG seit dem Jahr 2009 auch Eingriffe in die Rechtspositionen ausgeschiedener Vorstände nicht aus, was aus § 87 Abs. 2 S. 2 AktG folgt. Indes enthebt das bloße Ausscheiden – und damit die fehlende weitere Produktivität des früheren Vorstandes für die Gesellschaft – den Aufsichtsrat nicht von der Notwendigkeit einer Ermessensabwägung, in welcher Höhe die Bezüge für den ausgeschiedenen Vorstand weiterhin angemessen sind. Würde man hierbei mit dem Beklagten allein auf den weiteren Nutzen der Tätigkeit des jeweiligen Vorstandes für die Gesellschaft abstellen, könnten die Bezüge ausgeschiedener Vorstände im Falle einer ernsthaften Krise und insbesondere nach Insolvenzeröffnung stets ohne weiteres sogar bis auf null abgesenkt werden (vgl. aber offenbar in diese Richtung argumentierend Göcke/Greubel ZIP 2009, 2086, 2089). Ein solches Ergebnis würde im deutlichen Widerspruch zur Gesetzesbegründung stehen, wonach die amtierenden und ggf. früheren Vorstände aufgrund ihrer (nachwirkenden) Organpflichten einen eigenen Finanzierungsbeitrag zum Fortbestand der Gesellschaft leisten, nicht jedoch vollständig auf ihre Gehaltsansprüche zum Wohle der sonstigen Gläubiger verzichten sollen (vgl. BT-Drs. 16/12278 S. 6; Mertens/Cahn in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rn. 97; Weller NZG 2010, 7, 10 f.). Zudem würden bei einer derartigen Abwägung die berechtigten interessen des ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedes, welches regelmäßig auf die fortlaufenden Bezüge als Erwerbseinkommen angewiesen sein wird, vollkommen unberücksichtigt bleiben und einseitig auf die Interessenlage der übrigen Gesellschaftsgläubiger abgestellt.

9. Aufgrund des mit der Neubestimmung der Vorstandsbezüge nach § 87 Abs. 2 AktG verbundenen erheblichen Eingriffs in den Anstellungsvertrag und damit in den Grundsatz der Vertragstreue („pacta sunt servanda“) ist diese Vorschrift insgesamt restriktiv unter Berücksichtigung der berechtigten interessen auch ausgeschiedener Vorstandsmitglieder auszulegen und darf nicht zu übermäßigen Kürzungen der Vorstandsgehälter herangezogen werden (vgl. OLG DüsseldorfBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Düsseldorf
, Urteil vom 17.11.2003 – 15 U 225/02 = NZG 2004, 141; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rn. 60; Mertens/Cahn in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rn. 94 u. 104; Hüffer, AktG, 11. Aufl. 2014, § 87 Rn. 24; Diller NZG 2009, 1006, 1007; Dauner-Lieb/Friedrich NZG 2010, 688, 689). Insbesondere ist es nicht zu rechtfertigen, den Vorständen ein Sonderopfer abzuverlangen, welches diese im Ergebnis unter das Gehalt leitender Angestellter des Unternehmens – die keine Gehaltskürzung nach § 87 Abs. 2 AktG zu befürchten haben – absinken lassen würde (vgl. BT-Drs. 16/13433 S. 10; vgl. OLG DüsseldorfBitte wählen Sie ein Schlagwort:
OLG
OLG Düsseldorf
, Urteil vom 17.11.2003 – 15 U 225/02 = NZG 2004, 141; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rn. 74; Koch WM 2010, 49, 57). Erwägenswert erscheint es demgegenüber, auf der Grundlage der konkreten Finanzsituation der Gesellschaft zu bestimmen, zu welchen Konditionen ein neu anzustellendes Vorstandsmitglied gewonnen werden bzw. ein neuer Anstellungsvertrag ausgehandelt werden könnte (vgl. Diller NZG 2009, 1006, 1007). Hierbei würde das angemessene Gehaltsniveau im Rahmen einer typisierten Vergleichsbetrachtung anhand der Kriterien des § 87 Abs. 1 AktG zu ermitteln sein (vgl. BT-Drs. 16/12278 S. 6; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rn. 71; Dauner-Lieb/Friedrich NZG 2010, 688, 689; Annuß/Theusinger BB 2009, 2434, 2438). Die angemessene Höhe der Vergütung richtet sich folglich zugleich nach den berechtigten interessen des Vorstands. Sie orientiert sich regelmäßig an der Vergütung, die ein vergleichbares Unternehmen für die Neuanstellung eines Vorstandsmitglieds aufwenden müsste.

10. Daneben sprechen nach Auffassung des Senats auch systematische Gründe gegen eine Anwendung des § 87 Abs. 2 AktG nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, jedenfalls soweit der Insolvenzverwalter von der in § 113 InsO eingeräumten Möglichkeit der Kündigung des Anstellungsvertrages des Vorstandsmitglieds Gebrauch macht. Denn die Insolvenzordnung enthält bereits ein abgestuftes System, um einen Interessenausgleich zwischen den Organmitgliedern und den übrigen Gesellschaftsgläubigern herbeizuführen, indem § 113 InsO es dem Insolvenzverwalter gestattet, den bestehenden Anstellungsvertrag mit einer Frist von maximal drei Monaten ordentlich zu kündigen. Dem verbleibenden Verfrühungsschaden, der nach § 87 Abs. 3 AktG ohnehin auf zwei Jahre begrenzt ist, kommt dabei ebenso wie rückständigen Gehaltsansprüchen lediglich der Rang einer einfachen Insolvenzforderung zu. Somit wird die Insolvenzmasse allein mit den Gehaltsansprüchen aus der Zeit zwischen Insolvenzeröffnung und Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung, mithin mit maximal drei Monatsgehältern, als Masseforderungen belastet. Weitergehende Begrenzungen der Vorstandsvergütung werden von der Insolvenzordnung dagegen nicht für notwendig erachtet. Es erscheint daher nicht interessengerecht, eine darüber hinausgehende umfassende Gehaltskürzung nunmehr über den Umweg des § 87 Abs. 2 AktG zuzulassen (vgl. Hirte in Uhlenbruck, InsO, 13. Aufl. 2010, § 11 Rn. 185; Göcke/Greubel ZIP 2009, 2086, 2087). Zudem bliebe bei einem derartigen Verständnis der Vorschrift ungeklärt, weshalb im Falle der Insolvenz allein der (ausgeschiedene) Vorstand einer Aktiengesellschaft und nicht zugleich der Geschäftsführer einer insolventen GmbH ein derartiges Sonderopfer erbringen müsste, weil die Vorschrift des § 87 Abs. 2 AktG als Sonderrecht der Aktiengesellschaft nicht analog auf andere Körperschaften angewendet werden kann (vgl. BT-Drs. 16/13433 S. 10; Rieble in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2009, § 315 Rn. 219; Würdinger in Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, 315 Rn. 86; Hirte in Uhlenbruck, InsO, 13. Aufl. 2010, § 11 Rn. 127; Annuß/Theusinger BB 2009, 2434, 2438; aA OLG KölnBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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OLG Köln
, Beschluss vom 06.11.2007 – 18 U 131/07, zitiert nach BeckOnline).

11. Der Aufsichtsratsbeschluss ist unwirksam, wenn er nicht ausreichend bestimmt ist; dies ist der Fall, wenn er weder den betroffenen Personenkreis noch die Höhe der herabgesetzten Vorstandsbezüge erkennen lässt (vgl. Mertens/Cahn in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2010, § 87 Rn. 102; Rieble in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2009, § 315 Rn. 296; Busche in Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 133 Rn. 39).

12. Eine Bestimmung der angemessenen Höhe der Vorstandsbezüge im Sinne des § 87 Abs. 2 AktG durch das Gericht setzt eine nachprüfbare Ermessensentscheidung des Aufsichtsrates voraus; fehlt es an dieser, müsste das Gericht eine eigene Erstentscheidung vornehmen, was der eindeutigen Zuweisung dieser Aufgabe an den Aufsichtsrat in § 87 Abs. 2 AktG widerspricht.

13. Bei den Gehaltsansprüchen ab Insolvenzeröffnung handelt es sich nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO um Masseverbindlichkeiten, sodass der Gläubiger unmittelbar Zahlung verlangen kann (vgl. Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 3. Aufl. 2013, § 55 Rn. 171; Seibt in Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 87 Rn. 23).

Schlagworte: Aufsichtsrat, Entschließungs- Auswahlermessen, Ermessensentscheidung, Gesamtwürdigung, Gesellschaft, Herabsetzung der Vergütung, Insolvenz, Interessenabwägung, Krise, unangemessene Vergütung, Vergütung