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OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.04.2021 – OVG 12 S 6/21

§ 69 Abs 1 AO 1977, § 8b Abs 7 KStG, § 7 Abs 1 S 1 GewStG, § 182 Abs 1 AO 1977, § 184 Abs 1 AO 1977, § 191 Abs 1 AO 1977, § 34 AO 1977

Die Haftung des Vertreters nach § 69 i.V.m. § 34 AO (juris: AO 1977) setzt eine zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids materiell-rechtlich entstandene oder im Sinne des § 166 AO (juris: AO 1977) bestandskräftig festgesetzte Steuerschuld des Vertretenen voraus.

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 8. Januar 2021 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 6. August 2020 wird angeordnet.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 26. November 2020 gegenüber der D…AG und gegenüber der I…AG aufzuheben.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 89.219,66 EUR festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO maßgebliche Beschwerdevorbringen rechtfertigt die Änderung des angefochtenen Beschlusses.

I. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die vom Antragsgegner bereits ins Werk gesetzten Vollstreckungsmaßnahmen die Zulässigkeit des Eilantrags gemäß § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO angenommen.

Nach dem unwidersprochen gebliebenen Beschwerdevorbringen überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Haftungsbescheids vom 6. August 2020, weshalb die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 4. September 2020 gegen diesen Bescheid nach § 80 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO anzuordnen ist. Die Beschwerde zeigt ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids auf (zu diesem Maßstab § 80 Abs. 4 Satz 3 HS 1 VwGO).

Rechtsgrundlage hierfür ist § 69 Satz 1 i. V. m. § 191 Abs. 1 Abgabenordnung (AO). Danach haften u. a. die in § 34 AO bezeichneten Vertreter juristischer Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Voraussetzung ist danach, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids eine Steuerschuld des Vertretenen entweder materiell-rechtlich entstanden oder aber i. S. d. § 166 AO bestandskräftig festgesetzt worden ist (Rüsken, in: Klein, AO, 14. Aufl., § 69 Rn. 24).

Der Antragsteller bestreitet auch mit der Beschwerde, dass die mit den Messbescheiden des Finanzamts Potsdam vom 14. März 2019 und 23. Juli 2019 für die Veranlagungszeiträume 2013 bis 2015 (neu) festgesetzten Steueransprüche bestehen. Er rügt insoweit eine unzutreffende Anwendung des § 8b Abs. 7 KStG durch das Finanzamt und hat namens der von ihm vertretenen P…GmbH (im Folgenden nur: Steuerschuldnerin) gegen die Messbescheide Einspruch eingelegt, über den nach bisherigem Kenntnisstand noch nicht bestandskräftig entschieden worden ist.

Der Antragsgegner beruft sich demgegenüber ausweislich der Begründung des angefochtenen Haftungsbescheids darauf, nach § 1 Abs. 2 Nr. 4 i. V. m. §§ 182 Abs. 1, 184 Abs. 1 AO bei der Festsetzung der Gewerbesteuer an die Gewerbesteuermessbescheide des Finanzamts gebunden zu sein. Das trifft indes nur im Verhältnis zwischen dem Antragsgegner als Steuergläubiger und der Steuerschuldnerin zu, gilt jedoch nicht gegenüber dem Antragsteller als Haftungsschuldner (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. November 1996 – 2 BvR 1157/93 – BStBl II 1997, 415, juris Rn. 25 ff.; BFH, Urteil vom 25. November 2015 – I R 85/13 – BFHE 252, 217, juris Rn. 25; Ratschow, in: Klein, a. a. O., § 184 Rn. 11; Rüsken, in: Klein, a. a. O., § 191 Rn. 13b).

Ob die Steuerschuld des Steuerschuldners zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids materiell-rechtlich bestand, kann gegenüber dem Haftungsschuldner nur unter den Voraussetzungen des § 166 AO dahingestellt bleiben, setzt also voraus, dass die Steuer dem Steuerpflichtigen gegenüber unanfechtbar festgesetzt worden ist und der Dritte in der Lage gewesen wäre, die Steuerfestsetzung anzufechten. Der Antragsteller war als Geschäftsführer der Steuerschuldnerin berechtigt, die ihr gegenüber ergangenen Steuerfestsetzungen anzugreifen (§ 35 Abs. 1 Satz 1 GmbHG; zum Fortbestand der Vertretungsbefugnis nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 2006   – IX ZR 282/03 – ZInsO 2006, 260 – juris Rn. 6 ff.), hat dies aber auch getan. Von einer Unanfechtbarkeit von Steuerschulden der Steuerschuldnerin i. S. d. § 166 AO könnte daher nur insoweit noch ausgegangen werden, als das Finanzamt oder der Antragsgegner im Insolvenzverfahren Steuerforderungen zur Tabelle angemeldet und der Antragsteller dem nicht im Prüfungstermin bzw. im Falle der Anordnung eines schriftlichen Verfahrens schriftlich widersprochen hätte (vgl. BFH, Urteil vom 27. September 2017 – XI R 9/16 – BFHE 259, 221, juris Rn. 28 ff. m.w.N.; Urteil vom 29. August 2018 – XI R 57/17 – NZI 2019, 89, juris Rn. 60 ff.). Dafür lässt sich dem angefochtenen Haftungsbescheid nichts entnehmen und ist auch sonst nichts ersichtlich.

Der Antragsteller zeigt auch hinreichende Zweifel am Bestehen der materiell-rechtlichen Steuerschuld auf. In den vom Antragsteller für die Steuerschuldnerin beim Finanzamt eingereichten Körperschaftsteuererklärungen (zu deren Maßgeblichkeit auch für die Gewerbesteuer siehe § 7 Abs. 1 Satz 1 GewStG) vom 16. Februar bzw. 28. März 2018 wurde der Veräußerungsgewinn aus dem Verkauf der Anteile an der E… ausgewiesen. In Übereinstimmung mit der vom Antragsteller vorgelegten Einschätzung des seinerzeitigen Steuerberaters vom 27. März 2014 (Anlage A 12 zur Beschwerdebegründung) wurde die Frage, ob es sich bei der Steuerschuldnerin um ein Kredit- oder Finanzdienstleistungsunternehmen i. S. d. § 8b Abs. 7 KStG handelt, verneint. In Kenntnis dieser Umstände und der bisherigen Geschäftstätigkeit der Steuerschuldnerin hat das Finanzamt noch im Juni 2018 die Körperschaftssteuer für 2015 auf 0 festgesetzt und einen Verlustvortrag i. H. v. 2… Euro anerkannt (Anlage A 11 zur Beschwerdebegründung). Gründe für die offenbar davon abweichende Einschätzung des Finanzamts in den Bescheiden vom 14. März und 23. Juli 2019 hat der Antragsgegner weder in seinem Haftungsbescheid noch im hiesigen Rechtsschutzverfahren dargelegt. Dem wird im Widerspruchs- und ggf. anschließenden Klageverfahren nachzugehen sein.

Die Beschwerde zeigt dessen ungeachtet auch ernstliche Richtigkeitszweifel auf, soweit der angefochtene Haftungsbescheid ein schuldhaftes, also vorsätzliches oder grob fahrlässiges Handeln des Antragstellers annimmt. Zwar indiziert eine objektive Pflichtwidrigkeit in der Regel den Schuldvorwurf gegenüber dem nach § 69 i. V. m. § 34 AO haftenden Vertreter; das schließt jedoch eine vom Vertreter glaubhaft zu machende Entlastung im Einzelfall nicht aus (BFH, Urteil vom 29. August 2018, a. a. O. Rn. 38). Der Obliegenheit des nach § 34 AO Verantwortlichen, bei Zweifeln an einer Steuerschuld fachkundigen Rat einzuholen (BFH, a. a. O. Rn. 39), hat der Antragsteller bereits im Jahr 2014 genügt. Auch das Finanzamt ist noch im Juni 2018 davon ausgegangen, dass die inmitten stehenden Veräußerungsgewinne nach § 8b Abs. 2 KStG der Steuerpflicht nicht unterliegen. Vor diesem Hintergrund ist es zweifelhaft, ob der Antragsteller schon vor der Kenntnis von den geänderten Messbescheiden zumindest grob fahrlässig handelte, indem er keine Rücklage aus dem Veräußerungserlös bildete, um eine etwaige Steuerforderung daraus begleichen zu können. Zum Zeitpunkt des Erlasses der korrigierten Messbescheide im März und Juli 2019 verfügte die Steuerschuldnerin nach den im hiesigen Verfahren vorgelegten Kontoauszügen nicht mehr über ausreichende Mittel, um die infolge der Messbescheide festgesetzten Steuerforderungen (anteilig) zu erfüllen. Am 1. März 2019 wies das bislang bekannte einzige Geschäftskonto der Steuerschuldnerin nur noch ein Guthaben i. H. v. 13.124,32 Euro aus. Allerdings wurde dieses Konto offenbar erst am 2. Oktober 2018 eröffnet. Ob und ggf. welche weiteren Konten der Steuerschuldnerin existierten und wohin die Mittel aus der Veräußerung der Anteile an E… geflossen sind, wird ggf. im Hauptsacheverfahren zu klären sein. Erst dann lässt sich auch klären, ob der Antragsteller gegen seine Pflicht zur Vorhaltung von Mitteln zur gleichmäßigen Bedienung von an die Steuerschuldnerin gerichteten Forderungen verletzt hat.

Hinzuweisen ist für das Hauptsacheverfahren darauf, dass entgegen der Beschwerde eine lediglich hypothetische Anfechtung der Begleichung der Steuerschulden zum Zeitpunkt ihrer Fälligkeit durch den Insolvenzverwalter eine Schadenszurechnung nicht entfallen ließe (BFH, Urteil vom 5. Juni 2007 – VII R 65/05 – BFHE 217, 233, juris Rn. 10 ff.).

II. Ist der Verwaltungsakt zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO schon vollzogen, kann das Gericht nach Satz 3 der Regelung die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Ob es sich hierbei um eine materiell-rechtliche Grundlage für eine solche Anordnung handelt (so etwa Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand Juli 2020, § 80 Rn. 343, 445 ff.; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. § 80 Rn. 163a) oder – entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO – lediglich um eine Verfahrensvorschrift (so etwa Buchheister, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. § 80 Rn. 61; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl., § 80 Rn. 176), bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Denn die Vollziehung des streitgegenständlichen Haftungsbescheids setzt nach § 3 Nr. 2 VwVGBbg voraus, dass der gegen ihn gerichtete Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat. Dies ist nach der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Haftungsbescheid nicht mehr der Fall. Den Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 26. November 2020 fehlt damit derzeit die Grundlage, weshalb dem Antragsteller bis zur (erneuten) Vollziehbarkeit des Haftungsbescheids (vorläufig) ein Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch zusteht (vgl. etwa W.-R. Schenke, a. a. O. Rn. 54), dem der Antragsgegner durch Aufhebung der Verfügungen zu entsprechen hat, solange sich die Kontopfändungen nicht durch Auszahlung von Guthaben in Höhe der streitigen Forderungen des Antragsgegners (§ 22 Abs. 1 Nr. 3 VwVGBbg i. V. m. § 309 AO i. V. m. § 833a ZPO) in der Hauptsache erledigt haben (zu einem solchen Fall etwa Beschluss des Senats vom 9. September 2016 – OVG 12 S 53.16 – juris Rn. 2).

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Schlagworte: Geschäftsführerhaftung, Haftungsbescheid