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BGH, Beschluss vom 10. Januar 2023 – VIII ZR 9/21

rechtliches Gehör

GG Art. 103 Abs. 1; BGB § 218 Abs. 1, §§ 346, 437 Nr. 2, § 438 Abs. 3 Satz 1,
§ 826 (B, C); ZPO § 138 Abs. 1, 2

1. Zur Verletzung des Anspruchs der Partei auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG durch überspannte Substantiierungsanforderungen hinsichtlich des zur Darlegung einer Arglist des Verkäufers eines vom sogenannten Abgasskandal betroffenen Fahrzeugs gehaltenen Vortrags zur Prüfstandsbezogenheit der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung.

2. Eine Partei ist nicht deshalb gezwungen, den behaupteten Sachverhalt in allen Einzelheiten wiederzugeben, weil der Gegner ihn bestreitet. Der Grundsatz, dass der Umfang der Darlegungslast sich nach der Einlassung des Gegners richtet, besagt nur, dass dann, wenn infolge der Einlassung des Gegners der Tatsachenvortrag unklar wird und nicht mehr den Schluss auf die Entstehung des geltend gemachten Rechts zulässt, er der Ergänzung bedarf (im Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 12. Juni 2008 – V ZR 223/07, juris Rn. 8; vom 2. April 2009 – V ZR 177/08, NJW-RR 2009, 1236 Rn. 12; vgl. auch Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2011 – VIII ZR 125/11, NJW 2012, 382 Rn. 20).

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 2. Dezember 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wird auf bis 30.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin erwarb mit Kaufvertrag vom Dezember 2014 bei der Beklagten ein Gebrauchtfahrzeug Mercedes-Benz GLK 220 CDI 4M, das mit einem Dieselmotor des Typs OM 651 (Abgasnorm Euro 5) ausgestattet ist, zum Preis von 36.480 €. Die Beklagte ist zugleich Herstellerin dieses Fahrzeugs. Die Übergabe des Fahrzeugs an die Klägerin erfolgte am 9. Januar 2015.2

Das Kraftfahrt-Bundesamt ordnete im Juni 2019 für den von der Klägerin erworbenen Fahrzeugtyp einen Rückruf an. Dieser war – nach den Feststellungen des Berufungsgerichts – maßgeblich darauf gestützt, dass die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung beim Warmlauf des Motors unter normalen Betriebsbedingungen „oft nicht“ greife und die Einhaltung der Grenzwerte ohne das geregelte Kühlmittelthermostat nicht hinreichend sichergestellt sei. Die Beklagte legte gegen den Rückruf Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Gleichwohl rüstete sie die Fahrzeuge (freiwillig) mit einem vom Kraftfahrt-Bundesamt freigegebenen Software-Update um.3

Mit anwaltlichem Schreiben vom 25. September 2019 erklärte die Klägerin gegenüber der Beklagten den Rücktritt vom Kaufvertrag.4

Die auf Rückzahlung des Kaufpreises (abzüglich einer Nutzungsentschädigung) nebst Zinsen, Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs, auf Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie auf Erstattung und Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage hat vor dem Landgericht keinen Erfolg gehabt. Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen.5

Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde, mit der sie ihr Klagebegehren in vollem Umfang weiterverfolgt.

II.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:7

Die Klägerin könne wegen des behaupteten Einsatzes unzulässiger Abschalteinrichtungen in der Motorsteuerung ihres Fahrzeugs unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt von der Beklagten die Rückzahlung des Kaufpreises verlangen. Insbesondere folge ein solcher Anspruch weder aus dem kaufrechtlichen Gewährleistungsrecht (§ 437 Nr. 2, § 434 Abs. 1, §§ 433, 323, 346 BGB) noch aus einer Schadensersatzverpflichtung der Beklagten wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung (§§ 826, 31 BGB). Der von ihr erklärte Rücktritt vom Kaufvertrag sei gemäß § 218 Abs. 1 BGB unwirksam, weil es am arglistigen Verschweigen eines Sachmangels durch die Beklagte im Sinne des § 438 Abs. 3 BGB fehle und deshalb im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung ein Nacherfüllungsanspruch der Klägerin bereits gemäß § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB verjährt gewesen sei. Bezogen auf den geltend gemachten Schadensersatzanspruch fehle es der Beklagten am Schädigungsvorsatz und dem für die Sittenwidrigkeit erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ihres Handelns.8

Insoweit könne dahinstehen, ob die im Fahrzeug zum Einsatz kommende Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung eine unzulässige Abschalteinrichtung sei und deshalb einen Sachmangel darstelle. Anhaltspunkte dafür, dass die Software den Prüfstand erkenne und die vorbezeichnete Regelung nur dort greife, bestünden nicht. Die Beklagte sei dem Vorwurf der Klägerin, wonach die Software die Vorbereitung des Fahrzeugs auf eine Messung im Prüfstand erkenne und die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung nur unter im normalen Fahrbetrieb nicht zu erwartenden Bedingungen arbeite, substantiiert entgegengetreten. Danach verhalte sich die beanstandete Regelung der Kühlmittel-Solltemperatur in der Prüfung und im realen Straßenbetrieb gleich. Das geregelte Kühlmittelthermostat sei unter bestimmten Betriebsbedingungen regelmäßig in der Warmlaufphase aktiv; die Regelung sei von der Außentemperatur bei Betrieb des Fahrzeugs abhängig. Die Steuerungsparameter stellten nicht auf den Prüfzyklus, den Betrieb auf dem Prüfstand selbst oder auf Bedingungen ab, die nahezu nur auf dem Prüfstand herrschten. Diesem Vortrag sei die Klägerin nicht mehr erheblich entgegengetreten. Soweit sie weiterhin behaupte, höhere Abgasrückführungsraten kämen anhand der Vorbereitung des Fahrzeugs für die Prüfung (Konditionierung) durch eine Verlängerung der Warmlaufphase mittels Regelung des Thermostatventils – fast ausschließlich auf dem Prüfstand – zum Einsatz, erfolge dieses Vorbringen nunmehr ersichtlich ins Blaue hinein.9

Jedenfalls habe die Beklagte nicht einen Mangel arglistig verschwiegen oder Sittenwidrig gehandelt. Es lasse sich nicht feststellen, dass sie in dem Bewusstsein, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, gehandelt und dies billigend in Kauf genommen habe. Die Beklagte habe nachvollziehbar dargetan, dass die Regelung des Kühlmittelthermostats eine das Emissionsverhalten im Motorwarmlauf auf dem Prüfstand und unter vergleichbaren Bedingungen (auch) im Straßenverkehr positiv beeinflussende Maßnahme sei. Sie gehe selbst jetzt noch davon aus, dass es sich bei dieser Regelung schon nicht um eine Abschalteinrichtung handele, diese aber jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des Motor- und Bauteilschutzes sowie des sicheren Betriebs gerechtfertigt wäre. Die so begründete Annahme der Beklagten sei bei der gebotenen objektiven ex ante-Betrachtung nicht unvertretbar gewesen. Sollte die Beklagte die Rechtslage fahrlässig fehlerhaft beurteilt haben, fehlte es ihr am erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit.

III.

Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat in der Sache Erfolg (§ 544 Abs. 9 ZPO), weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Denn es hat deren für die Beurteilung des Streitfalls bedeutsames beweisbewehrtes Vorbringen zu einer im Fahrzeug verbauten prüfstandsbezogenen unzulässigen Abschalteinrichtung in Gestalt einer Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung gehörswidrig übergangen und es in der Folge versäumt, die von der Klägerin hierfür angebotenen Beweise zu erheben.11

1. Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 26; Senatsbeschlüsse vom 5. Oktober 2022 – VIII ZR 88/21, WM 2022, 2242 Rn. 10; vom 13. Dezember 2022 – VIII ZR 298/21, zur Veröffentlichung bestimmt, unter III 1; jeweils mwN). Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung auch die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (st. Rspr.; hierzu etwa BVerfG, Beschluss vom 25. März 2020 – 2 BvR 113/20, juris Rn. 45; Senatsbeschlüsse vom 26. April 2022 – VIII ZR 19/21, juris Rn. 12; vom 5. Oktober 2022 – VIII ZR 88/21, aaO; jeweils mwN).12

Dies gilt auch dann, wenn die Nichtberücksichtigung des betreffenden Sachvortrags sowie eines damit zusammenhängenden Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat. Eine solche nur scheinbar das Parteivorbringen würdigende Verfahrensweise stellt sich als Weigerung des Tatgerichts dar, in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise den Parteivortrag zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihm inhaltlich auseinanderzusetzen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 29. September 2021 – VIII ZR 226/19, juris Rn. 12; vom 5. Oktober 2022 – VIII ZR 88/21, aaO Rn. 11; vom 13. Dezember 2022 – VIII ZR 298/21, aaO).13

2. Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine Gehörsverletzung nach Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Recht rügt, ist das Berufungsgericht zu seiner Annahme, es gebe keine Anhaltspunkte für eine Prüfstandsbezogenheit der im Fahrzeug eingebauten – und von der Klägerin als unzulässige Abschalteinrichtung beanstandeten – Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, unter Berücksichtigung allein des Sachvortrags der Beklagten und unter Übergehung des von der Klägerin gehaltenen und unter Beweis gestellten gegensätzlichen Vorbringens zur Wirkungsweise der vorbezeichneten Regelung gelangt. Das Berufungsgericht hätte die von der Klägerin zum Nachweis ihrer Behauptungen angebotenen Beweise erheben müssen, weil die Klägerin den diesbezüglich von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an ein substantiiertes Vorbringen gerecht geworden und dieses Vorbringen (auch) für den vom Berufungsgericht für maßgeblich erachteten Gesichtspunkt der fehlenden Arglist (§ 438 Abs. 3 Satz 1 BGB) beziehungsweise Sittenwidrigkeit (§ 826 BGB) des Handelns der Beklagten entscheidungserheblich ist.14

a) Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind (st. Rspr.; vgl. nur Senatsurteil vom 29. Januar 2020 – VIII ZR 80/18, BGHZ 224, 302 Rn. 55; Senatsbeschlüsse vom 5. Oktober 2022 – VIII ZR 88/21, WM 2022, 2242 Rn. 20; vom 13. Dezember 2022 – VIII ZR 298/21, zur Veröffentlichung bestimmt, unter III 2 a; jeweils mwN).15

Das gilt insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den Vorgängen hat (Senatsbeschlüsse vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19, NJW 2020, 1740 Rn. 7; vom 22. Juni 2021 – VIII ZR 134/20, NJW-RR 2021, 1093 Rn. 33; vom 5. Oktober 2022 – VIII ZR 88/21, aaO; jeweils mwN). Eine Partei darf auch von ihr nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann. Unbeachtlich ist der auf Vermutungen gestützte Sachvortrag einer Partei erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20, WM 2021, 1609 Rn. 21 f.; Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19, aaO Rn. 7 f.; jeweils mwN).16

Eine Partei ist nicht deshalb gezwungen, den behaupteten Sachverhalt in allen Einzelheiten wiederzugeben, weil der Gegner ihn bestreitet. Der Grundsatz, dass der Umfang der Darlegungslast sich nach der Einlassung des Gegners richtet, besagt nur, dass dann, wenn infolge der Einlassung des Gegners der Tatsachenvortrag unklar wird und nicht mehr den Schluss auf die Entstehung des geltend gemachten Rechts zulässt, er der Ergänzung bedarf (BGH, Beschlüsse vom 12. Juni 2008 – V ZR 223/07, juris Rn. 8; vom 2. April 2009 – V ZR 177/08, NJW-RR 2009, 1236 Rn. 12; vgl. auch Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2011 – VIII ZR 125/11, NJW 2012, 382 Rn. 20; jeweils mwN).17

Sind diese Anforderungen erfüllt, ist das Gericht also in die Lage versetzt, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen (vgl. Senatsbeschluss vom 26. April 2022 – VIII ZR 19/21, juris Rn. 27 mwN), ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (st. Rspr.; vgl. Senatsbeschlüsse vom 26. April 2022 – VIII ZR 19/21, aaO; vom 5. Oktober 2022 – VIII ZR 88/21, aaO; jeweils mwN).18

b) Nach diesem Maßstab hat die Klägerin ausreichend substantiiert zum Vorliegen von Anhaltspunkten für eine Prüfstandsbezogenheit der im Fahrzeug unstreitig eingebauten Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung vorgetragen. Das Berufungsgericht hätte diesen Vortrag nicht aufgrund der Erwägung, die Beklagte sei ihm „substantiiert entgegengetreten“ und die Klägerin sei dem ihrerseits „nicht mehr erheblich entgegengetreten“, unberücksichtigt lassen und eine Prüfstandsbezogenheit nicht ohne Erhebung der von der Klägerin zum Nachweis ihrer diesbezüglichen Behauptungen angebotenen Beweise verneinen dürfen. Das entsprechende Vorgehen des Berufungsgerichts beruht – wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht rügt – auf einer offenkundigen Überspannung der Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Klägerin.19

aa) Die Klägerin hat – wie die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend aufzeigt – unter Beweisantritt (Sachverständigengutachten, Zeugenbeweis, Einholung einer Auskunft des Kraftfahrt-Bundesamts) zur Wirkungsweise der im Fahrzeug eingebauten Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung vorgetragen, die Anlass für den unstreitig erfolgten Rückruf des von der Klägerin erworbenen Fahrzeugtyps durch das Kraftfahrt-Bundesamt gewesen war.20

Danach sei das Fahrzeug so konzipiert, dass durch die Regelung des Thermostatventils die Warmlaufphase des Fahrzeugs verlängert werde. Hierdurch würden – fast ausschließlich auf dem Prüfstand – höhere Abgasrückführungs-(AGR)-Raten, die volle Kühlung des rückgeführten Abgases und somit die Einhaltung der Stickoxidgrenzwerte erreicht. Befinde sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand, werde die Kühlflüssigkeit so stark gekühlt, dass aufgrund der verminderten Verbrennungstemperatur so wenig Stickoxide entstünden, dass das Fahrzeug die geltenden Grenzwerte einhalte. Ohne diese Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung halte das von der Klägerin erworbene Fahrzeug die Grenzwerte im Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) hingegen nicht ein. Die von der Beklagten eingebaute Steuerung erkenne die Randbedingungen des gesetzlichen Prüfverfahrens anhand der Vorbereitung des Fahrzeugs auf die Prüfung (Konditionierung). Die – von der Klägerin im Einzelnen beschriebenen – Bedingungen dieser Konditionierung kämen in der Natur praktisch nicht vor. Da die Kühlregelung außerhalb der Bedingungen des NEFZ abgeschaltet werde, sei in das Fahrzeug eine Einrichtung eingebaut, die bewirke, dass auf dem Prüfstand eine niedrigere Kühlmitteltemperatur und eine andere Abgasreinigungsstrategie, einschließlich höherer Abgasrückführungsraten, angewendet würden als im realen Straßenbetrieb. Die Verwendung der entsprechenden Software sei als echte Prüfstandserkennung und damit als Sittenwidrig einzustufen. Es könne ausgeschlossen werden, dass die Beklagte hiervon keine Kenntnis gehabt habe.21

Die Klägerin hat dabei auf den unstreitig wegen der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung erfolgten Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt, auf eine vom Kraftfahrt-Bundesamt in einem anderen gegen die Beklagte geführten Rechtsstreit betreffend denselben Fahrzeugtyp erteilte Auskunft sowie auf einen den von ihr erworbenen Fahrzeugtyp betreffenden Medienbericht verwiesen. In der vorbezeichneten Auskunft hat das Kraftfahrt-Bundesamt unter anderem mitgeteilt, dass die von der Beklagten angewandten Schaltkriterien der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung so gewählt seien, dass wesentliche Randbedingungen des gesetzlichen Prüfverfahrens erkannt werden könnten und die Sollwertabsenkung „mit Sicherheit“ bei der Prüfung im NEFZ aktiv sei, während sie schon bei normalen Betriebsbedingungen „oft abgeschaltet“ sei. Die Sollwertabsenkung sei eine Einrichtung, welche die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems beeinflusse.22

Außerdem hat die Klägerin die Antwort der Bundesregierung(BT-Drucks. 19/15320, S. 2) zu einer Kleinen Anfrage von Bundestagsabgeordneten (BT-Drucks. 19/14690, S. 2) betreffend den Rückruf von ebenfalls durch die Beklagte hergestellten Sprinter-Modellen wiedergegeben, dem dieselben Beanstandungen durch das Kraftfahrt-Bundesamt zugrunde gelegen hätten, und sich diese ausdrücklich zu eigen gemacht. In dieser Stellungnahme wurde die eingesetzte Abschalteinrichtung als unzulässig bewertet und ausgeführt, dass außerhalb der Typprüfbedingungen ein AGR-Kennfeld mit niedrigeren Abgasrückführungsraten genutzt werde als unter den Typprüfbedingungen.23

bb) Indem das Berufungsgericht diesen – unter Beweis gestellten – Sachvortrag der Klägerin ohne nähere Auseinandersetzung als unzureichende Behauptung „ersichtlich ins Blaue hinein“ gewertet und – weil „die Klägerin [dem] nicht mehr erheblich entgegengetreten“ sei – seiner Würdigung allein den Vortrag der Beklagten zur Funktionsweise der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung zugrunde gelegt hat, hat es die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags offenkundig überspannt (vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20, WM 2021, 1609 Rn. 24 ff.; Beschlüsse vom 20. April 2022 – VII ZR 720/21, juris Rn. 18, 22 f.; vom 4. Mai 2022 – VII ZR 733/21, juris Rn. 19, 23 f.; vom 21. September 2022 – VII ZR 767/21, juris Rn. 15 f.).24

Denn das (umfangreiche) Vorbringen der Klägerin erweist sich als ausreichend substantiiert für die schlüssige Darlegung, dass die in dem erworbenen Fahrzeug zum Einsatz kommende Software die Prüfung des Fahrzeugs im Neuen Europäischen Fahrzyklus beziehungsweise die Vorbereitung hierauf erkenne und dass die auf diese Weise gesteuerte Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, welche für die Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte erforderlich sei, nahezu ausschließlich auf dem Prüfstand eingreife und dort zu geringeren Stickoxidemissionen führe als im realen Fahrbetrieb. Die Mitteilung weitergehender (technischer) Einzelheiten war von der Klägerin weder zu fordern noch gaben die Erklärungen der Beklagten prozessual hierzu Veranlassung.25

Der Umstand, dass die Beklagte dem Vortrag der Klägerin – wie das Berufungsgericht gemeint hat – „substantiiert entgegengetreten“ sei, führte nicht dazu, dass die Klägerin nun ihrerseits einen auf Expertenwissen beruhenden, noch stärker detaillierten Sachvortrag hätte halten müssen, um dessen Beweisbedürftigkeit herbeizuführen. Soweit das Berufungsgericht hiervon jedoch offenkundig ausgegangen ist und ein – hinsichtlich der von ihm verlangten Anforderungen nicht näher ausgeführtes – „erhebliches Entgegentreten“ der Klägerin vermisst hat, hat es verkannt, dass die Klägerin mangels eigener Sachkunde und weiterer Erkenntnismöglichkeiten letztlich auf Vermutungen angewiesen ist und diese naturgemäß nur auf einige greifbare Gesichtspunkte stützen kann. Sie musste deshalb nicht im Einzelnen – und jedenfalls nicht noch weitergehend als bereits erfolgt – darlegen, wie die von ihr behauptete Abschalteinrichtung konkret funktioniert (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20, WM 2021, 1609 Rn. 26; Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19, NJW 2020, 1740 Rn. 10). Von ihr war hier nur zu fordern, greifbare Umstände anzuführen, auf die sie den Verdacht gründet, ihr Fahrzeug weise eine prüfstandsbezogene unzulässige Abschalteinrichtung auf (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20, aaO; Beschlüsse vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19, aaO; vom 4. Mai 2022 – VII ZR 733/21, aaO Rn. 24). Diesen Anforderungen ist die Klägerin gerecht geworden.26

Die von ihr aufgestellten tatsächlichen Behauptungen waren durch das Bestreiten seitens der Beklagten und durch deren Ausführungen zur Funktionsweise der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung auch nicht ergänzungsbedürftig geworden. Sie erlaubten weiterhin den Schluss auf die von der Klägerin geltend gemachte Prüfstandsbezogenheit dieser Regelung. Da auch keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Klägerin ihren bisherigen Vortrag nun nicht mehr würde aufrechterhalten wollen – sie hat diesen vielmehr mit einem nachfolgenden Schriftsatz wiederholt und unter Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Beklagten vertieft -, war das Berufungsgericht gehalten, die von der Klägerin angebotenen Beweise zu erheben.27

b) Die unterlaufene Gehörsverletzung ist – aus der maßgeblichen Sicht des Berufungsgerichts – entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, hätte es das Vorbringen der Klägerin in gebotener Weise zur Kenntnis genommen und die angebotenen Beweise zur Funktionsweise der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung erhoben, zur Annahme einer Arglist der Beklagten im Sinne von § 438 Abs. 3 Satz 1 BGB und damit zur Geltung der regelmäßigen Verjährungsfrist (§§ 195, 199 Abs. 1 BGB) gelangt wäre. Der noch vor Ablauf dieser Frist erklärte Rücktritt wäre in diesem Fall rechtzeitig gewesen (§ 218 Abs. 1 BGB). Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht hinsichtlich der Beurteilung des Vorliegens einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung im Sinne des § 826 BGB zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre.28

Zwar hat das Berufungsgericht das genannte Vorbringen der Klägerin in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens eines Sachmangels angesprochen. Es stünde jedoch auch seiner – die Verneinung von Ansprüchen der Klägerin tragenden – Annahme entgegen, der Beklagten habe das für ein arglistiges Handeln beziehungsweise für eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung nötige Unrechtsbewusstsein gefehlt. Denn der Kern des Vorbringens der Klägerin bestand in der Behauptung einer Prüfstandsbezogenheit, bei der es sich um ein grundsätzlich geeignetes Kriterium handelt, um zwischen nur unzulässigen Abschalteinrichtungen und solchen, deren Implementierung die Kriterien einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung erfüllen können, zu unterscheiden. Die Tatsache, dass eine Manipulationssoftware ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktiviert, indiziert eine arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Mai 2022 – VII ZR 733/21, juris Rn. 18). Eine Software, die bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgaswerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden, zielt unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde ab. Das Inverkehrbringen solcher Fahrzeuge durch den Fahrzeughersteller ist Sittenwidrig und steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber gleich (vgl. BGH, Urteile vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 25; vom 23. Juni 2022 – VII ZR 442/21, juris Rn. 22).29

Sollte die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung daher – wie von der Klägerin behauptet – nahezu ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktivieren, wäre dieser Umstand grundsätzlich geeignet, um auf eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörden und ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein der Beklagten schließen zu lassen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Mai 2022 – VII ZR 733/21, aaO Rn. 26; vom 21. September 2022 – VII ZR 767/21, juris Rn. 18; jeweils mwN).30

3. Die weiteren von der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Rügen hat der Senat geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 6 Satz 2 ZPO).

IV.

Nach alledem ist das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO).

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