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BGH, Beschluss vom 11. Juli 2023 – VI ZR 256/22

rechtliches Gehör Schadensersatz

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 544 Abs. 9

Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Schadensersatzprozess.

Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat. Davon ist unter anderem dann auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingegangen ist, sofern er nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert gewesen ist (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschluss vom 11. Mai 2021 – VI ZR 1206/20, VersR 2022, 267 Rn. 13 mwN).

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 1 wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Kammergerichts vom 1. August 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Beklagten zu 1 entschieden worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Nichtzulassungsbeschwerden des Beklagten zu 2 und der Beklagten zu 3 gegen das vorbezeichnete Urteil werden zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens beträgt bis zu 155.000 €.

Gründe

I.

Die Klägerin nimmt als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung die Beklagten zu 1 und 2 auf Aufwendungsersatz im Hinblick auf von der Klägerin an ihren Versicherten (im Folgenden: Geschädigten) erbrachte Leistungen aufgrund eines Arbeitsunfalls in Anspruch. Bezüglich der Beklagten zu 3 begehrt die Klägerin Feststellung von Deckungsschutz gegenüber den Beklagten zu 1 und 2 nach Maßgabe des mit dem Arbeitgeber der Beklagten zu 1 und 2 geschlossenen Versicherungsvertrages.2

Die Beklagten zu 1 und 2 waren zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Unfalls Mitarbeiter der R. GmbH & Co. KGBitte wählen Sie ein Schlagwort:
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, der Beklagte zu 1 als Key Account Manager und der Beklagte zu 2 als Vorarbeiter. Die Firma R. hatte gegenüber der C. Erfrischungsgetränke AG die Verpflichtung übernommen, an mehreren von der C. AG betriebenen Standorten leere 1,5 Liter-Mehrweg-Flaschen aus PET und die dazugehörigen Kisten zu entsorgen bzw. zu verwerten. An einem Standort in Berlin kam hierzu eine vom Arbeitgeber der Beklagten zu 1 und 2 entwickelte Kastenwendeanlage zum Einsatz. Diese bestand unter anderem aus dem turmartigen Kastenwender sowie zwei Förderbandelementen. Es entstand das Bedürfnis, die bereits – durch eine Drittfirma – aufgestellte Anlage zeitnah umzusetzen. Daher suchten die Beklagten zu 1 und 2 nach einer Lösung, wie dies ohne den Montagetrupp der Drittfirma durchgeführt werden könnte. Sie beschlossen, dass der Beklagte zu 2 die Anlage mit dem Geschädigten, der im Rahmen einer Überlassungsvereinbarung als Leiharbeiter für die Firma R. tätig war, und einem weiteren Leiharbeiter drehen sollte. Hierzu trennten der Beklagte zu 2 und die beiden Leiharbeiter am 28. September 2015 zunächst die einzelnen Teile der Anlage voneinander. Der Beklagte zu 2 bat einen Gabelstaplerfahrer, den Kastenwender zu verlagern. Die Förderbänder ließen sich auf diese Art jedoch nicht transportieren. Hierzu benutzten der Beklagte zu 2 und die Leiharbeiter zwei Gabelhubwagen (Handhubwagen), die sie vorne und hinten unter die die Förderbandelemente jeweils tragenden Ständerwerke stellten und dann gemeinsam vorwärts schoben. Nachdem der Beklagte zu 2 mit dem Geschädigten das erste Förderband erfolgreich versetzt hatte, kippte das zweite Förderband beim Transport durch den Geschädigten und den weiteren Leiharbeiter auf den Geschädigten und verletzte diesen schwer.3

Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und der Klage unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Geschädigten in Höhe von 25 % teilweise stattgegeben. Der Klägerin stehe gegen die Beklagten zu 1 und 2 ein Erstattungsanspruch gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII i.V.m. § 106 Abs. 3, § 105 Abs. 1 SGB VII zu, da die Beklagten den Versicherungsfall durch pflichtwidriges grob fahrlässiges Handeln verursacht hätten. Der Feststellungsantrag gegen die Beklagte zu 3 sei zulässig und überwiegend begründet.4

Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Hiergegen wenden sich alle drei Beklagten im Wege der Nichtzulassungsbeschwerde mit dem Ziel der Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerden des Beklagten zu 2 und der Beklagten zu 3 haben keinen Erfolg, weil weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert. Von einer näheren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.6

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 1 hat dagegen Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, soweit dieses zum Nachteil des Beklagten zu 1 entschieden hat. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Beklagten zu 1 auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt.7

1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Annahme eines grob fahrlässigen Verhaltens des Beklagten zu 1 unter anderem ausgeführt, der Beklagte zu 1 habe in der Arbeitshierarchie über dem Beklagten zu 2 gestanden, mit dem er zusammen beschlossen habe, die monströse Anlage auf gefährliche Weise umzusetzen. Er habe wie der Beklagte zu 2 unstreitig Verantwortung für die Arbeitssicherheit auf der Arbeitsstätte gehabt. Auch bei ihm sei nicht greifbar, dass es ihm an den intellektuellen Fähigkeiten gemangelt habe, die immense Gefährlichkeit des Transports für den Hubwagen-Bedienenden zu erkennen. Die Tatsache, dass der Beklagte zu 1 zum Zeitpunkt des Unfalls nicht vor Ort gewesen sei, enthebe ihn seiner Verantwortung für die Arbeitssicherheit nicht. Er hätte den Beklagten zu 2 auffordern müssen, von dem gefährlichen Plan Abstand zu nehmen, anstatt ihn darin zu bestärken.8

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht den Beklagten zu 1 mit diesen Ausführungen in entscheidungserheblicher Weise in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch Übergehen wesentlichen Parteivortrags verletzt hat.9

a) Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat. Davon ist unter anderem dann auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingegangen ist, sofern er nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert gewesen ist (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschluss vom 11. Mai 2021 – VI ZR 1206/20, VersR 2022, 267 Rn. 13 mwN).10

b) So liegt es hier. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagte zu 1 habe den Beklagten zu 2 auffordern müssen, von dem „gefährlichen Plan“ Abstand zu nehmen, setzt die Kenntnis des Beklagten zu 1 davon voraus, dass die Förderbänder der Kastenwendeanlage in der vom Berufungsgericht als grob fahrlässig angesehenen Art und Weise, die das Berufungsgericht gerade in dem Transportversuch mittels Handhubwagen gesehen hat, umgesetzt werden sollten. Insoweit verweist die Beschwerde zu Recht auf den Vortrag der Beklagten, wonach am Unfalltag zunächst versucht worden sei, mittels eines Gabelstaplers – vom Berufungsgericht selbst als sichere Transportmöglichkeit bezeichnet – die Anlagenteile umzusetzen, was jedoch nur hinsichtlich des eigentlichen Kastenwenders gelungen sei. Die anderen Teile seien für den zur Verfügung stehenden Stapler zu schwer gewesen. Man sei deshalb dazu übergegangen, die Förderbänder mittels zweier Hubwagen zu versetzen.11

Aus den Erwägungen des Berufungsgerichts ergibt sich eindeutig, dass es dieses – nach den vom Berufungsgericht in Bezug genommenen tatbestandlichen Feststellungen des Landgerichts unstreitige – Vorbringen aus dem Blick verloren hat. Anders lässt sich die Auffassung des Berufungsgerichts nicht erklären, der – nicht vor Ort befindliche – Beklagte zu 1 habe den Beklagten zu 2 auffordern müssen, von dem gefährlichen Plan Abstand zu nehmen, obwohl dieser erst vor Ort in Reaktion auf das Fehlschlagen des ersten Transportversuchs gefasst wurde. Dass ein solches Vorgehen bereits vorab auch vom Beklagten zu 1 als mögliche Variante ins Auge gefasst oder am Tag des Unfalls dem Beklagten zu 1 vom Beklagten zu 2 vorgeschlagen worden wäre, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Beklagte zu 1 habe den Beklagten zu 2 in seinem Vorgehen bestärkt, findet daher in den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts keine Stütze.12

c) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht ein grob fahrlässiges Handeln des Beklagten zu 1 bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens verneint hätte.

Schlagworte: Art. 103 Abs. 1 GG, Gehörsrüge, Gehörsverstoß, GG Art. 103, rechtliches Gehör, Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs, Verletzung rechtlichen Gehörs