Verletzung rechtliches Gehör
GG Art. 103 Abs. 1, ZPO § 544 Abs. 9
Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (st. Rspr. vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. April 2018 – VI ZR 378/17, juris).
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 5. November 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 320.000 €
Gründe
I.
Der Kläger begehrt von den Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz im Zusammenhang mit der Behandlung seiner Mutter bei seiner Geburt.2
Die Mutter des Klägers, die sich in der 40. Schwangerschaftswoche befand, traf an einem Tag im Oktober 2007 um 2.55 Uhr im Klinikum der Beklagten zu 1 ein. Sie klagte weder über Wehen noch Schmerzen, äußerte aber die Vermutung eines Blasensprungs mit Flüssigkeitsabgang. Weitere Angaben der Mutter zum Aufnahmezeitpunkt gegenüber der Beklagten zu 2, der aufnehmenden Hebamme, sind streitig. Um 2.57 Uhr legte die beklagte Hebamme der Mutter ein CTG-Gerät an. Voruntersuchungen bzw. eine vaginale Untersuchung nahm sie nicht vor. Das CTG zeigte leichte unregelmäßige Wehen und Auffälligkeiten mit Herztonabfällen. Wegen weiterhin bestehender Herztonabfälle und nach vergeblichen Weckversuchen rief die beklagte Hebamme um 3.15 Uhr die Gynäkologin Dr. G. hinzu, die um 3.18 Uhr im Kreißsaal erschien. Die Mutter gab gegenüber der Ärztin vaginale Blutungen an. Bei der vaginalen Untersuchung zeigte sich ein geschlossener Muttermund und eine „Blutung > Regelstärke“. Nach einer Ultraschalluntersuchung löste Dr. G. wegen des Verdachts auf eine Plazentaablösung um 3.26 Uhr den Alarm für eine Notsectio aus, um 3.34 Uhr wurde der Kläger entbunden. Er litt unter einer Sauerstoffunterversorgung, hatte eine Herzfrequenz von 40/min und es lag ein akutes Nierenversagen vor. Nach erfolgter Reanimation wurde der Kläger in eine Universitätsklinik verlegt. Der Umfang seiner Gesundheitsschäden ist streitig.3
Der Kläger hat geltend gemacht, beim Eintreffen im Klinikum habe seine Mutter auf starke Blutungen hingewiesen und auch darauf, dass sie nicht wisse, ob die Fruchtblase geplatzt sei. Sie habe mitgeteilt, viel Blut und Blutstücke verloren zu haben. Aufgrund dieser Mitteilungen habe von einem geburtshilflichen Notfall ausgegangen werden müssen. Deshalb hätte die Beklagte zu 2 neben dem Anlegen des CTG-Gerätes unbedingt eine vaginale Untersuchung sowie eine Kontrolle der Vorlage bei der Kindsmutter zur Feststellung der Blutung vornehmen und sofort ärztliches Personal hinzuziehen müssen. Das Unterlassen dieser Maßnahmen stelle einen groben Behandlungsfehler dar. Bei richtiger und rechtzeitiger Befunderhebung hätte die Notsectio mindestens 20 Minuten früher ausgeführt werden können und müssen. Die Verzögerung habe zu schwersten Gesundheitsschäden wegen des verlängerten Sauerstoffmangels geführt. Seine geistigen, motorischen, sprachlichen und seelisch-psychischen Fähigkeiten seien beeinträchtigt.4
Die Beklagten haben vorgetragen, die Mutter habe gegenüber der Beklagten zu 2 von Blutungen nichts berichtet. Das Anlegen des CTG-Gerätes sei als Erstmaßnahme zur Sicherung der Vitalität des Kindes richtig gewesen. Typische Leitsymptome einer vorzeitigen Plazentaablösung seien nicht vorhanden gewesen. Eine vaginale Untersuchung sei nicht vorrangig gewesen. Selbst wenn die Blutungen bei der Mutter bereits zu Hause eingesetzt hätten, hätte sich kein anderer Verlauf ergeben. Dann hätte auch erst nach Aufzeichnung eines 20 bis 30-minütigen CTG eine verwertbare Aussage getroffen werden können und deshalb auch nicht eher mit der Notsectio begonnen werden können. Da die vorzeitige Plazentaablösung dann bereits um 2.20 Uhr begonnen hätte, hätte auch eine sofortige Notsectio am Gesundheitszustand des Klägers nichts geändert.5
Das Landgericht hat die Klage mangels Nachweises eines Behandlungsfehlers der Beklagten abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 300.000 € verurteilt und ihre Verpflichtung zum Ersatz sämtlichen weiteren materiellen und immateriellen Schadens festgestellt. Es hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen wenden sich die Beklagten mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.7
1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Schadensersatzverpflichtung beruhe auf einem behandlungsfehlerhaften Vorgehen der Beklagten zu 2 bei der Betreuung der Mutter des Klägers. Nach Anhörung der Eltern und der Beklagten zu 2 sei der Senat überzeugt, dass die Eltern des Klägers bei Aufnahme der Mutter im Kreißsaal der Beklagten zu 2 über zu Hause einsetzende Blutungen berichtet hätten. Der Beklagten zu 2 sei ein Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers vorzuwerfen, da sie die ihr mitgeteilte Blutung nicht kontrolliert und deshalb die diensthabende Ärztin statt bereits um 3.05 Uhr erst um 3.15 Uhr, mithin zehn Minuten zu spät informiert habe. Die Beklagte zu 2 hätte nach der Mitteilung von der Blutung eine Kontrolle der Vorlage der Mutter durchführen müssen, ohne diese hätte sie nicht einschätzen können, ob es sich bei der Blutung nur um eine Zeichnungsblutung gehandelt habe oder aber trotz des äußerlich gesunden Zustands um eine stärkere Blutung. Die fehlende Vorlagekontrolle stelle einen vorwerfbaren Behandlungsfehler der Beklagten zu 2 dar. Die Beklagte zu 2 hätte spätestens um 3.05 Uhr die Ärztin informieren müssen. Der wegen der unterlassenen Vorlagekontrolle vorzuwerfende Befunderhebungsfehler sei für die gesundheitliche Schädigung des Klägers mindestens mitursächlich. Stehe fest, dass eine medizinisch erforderliche Befunderhebung Unterlassen worden sei, werde zu Gunsten des Patienten vermutet, dass der fragliche Befund ein aus medizinischer Sicht reaktionspflichtiges Ergebnis gehabt hätte, wenn letzteres hinreichend wahrscheinlich sei. Das sei hier der Fall. Die Angabe in dem Gedächtnisprotokoll vom 27. Oktober 2007, dass um 3.20 Uhr eine Blutung > Regelstärke vorlag, rechtfertige den Schluss, dass die Beklagte zu 2 diese Feststellung bereits zu dem Zeitpunkt getroffen hätte, zu dem sie die Vorlage hätte kontrollieren müssen, mithin gegen 3.02 Uhr. Der Sachverständige habe insoweit ausgeführt, dass, sofern die Hebamme die Vorlage angeschaut hätte, sie mutmaßlich eine Blutung in Regelstärke bemerkt hätte, wie sie 20 Minuten später ja auch festgestellt und dokumentiert worden sei. Bei Durchführung der Vorlagekontrolle hätte sich ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben, dass sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion als grob fehlerhaft dargestellt hätte. Der Sachverständige habe darauf verwiesen, dass er sich nicht erklären könne, weshalb die Hebamme erst um 3.15 Uhr den Arzt gerufen habe. Wenn sie die überstarke Regelblutung gesehen hätte, hätte sie den Arzt rufen müssen. Dies sei zehn Minuten zu spät erfolgt. Dies sei ein Fehler, der einer Hebamme schlicht nicht unterlaufen dürfe. Der Kläger habe einen Geburtsschaden erlitten. Der Befunderhebungsfehler der Beklagten zu 2 sei generell geeignet gewesen, den Geburtsschaden des Klägers zu verursachen. Es trete deshalb eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Klägers ein.8
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht die von den Beklagten benannten Zeugen Dr. G., Dr. F. und Dr. K. nicht vernommen und daher unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nach Anhörung lediglich der Eltern und der Beklagten zu 2 aufgrund der Angaben der Eltern zu der Überzeugung gekommen ist, dass die Mutter des Klägers der Beklagten zu 2 bei der Aufnahme über Blutungen berichtet habe.9
a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 25. September 2018 – VI ZR 234/17, NJW 2019, 607 Rn. 7; vom 10. April 2018 – VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803 Rn. 7; jeweils mwN).10
b) So liegt es im Streitfall. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht bei seiner Annahme, die Eltern des Klägers hätten der Beklagten zu 2 bereits bei der Aufnahme im Kreißsaal über zu Hause einsetzende Blutungen der Mutter berichtet, beweisbewehrtes Sachvorbringen der Beklagten übergangen hat und einem erheblichen Beweisangebot nicht nachgegangen ist.11
aa) Die Beklagten haben in den Instanzen vorgetragen, dass die Mutter gegenüber der Beklagten zu 2 nichts über eine Blutung berichtet habe, sondern erstmals bei Eintreffen der Zeugin Dr. G. über das Auftreten einer vaginalen Blutung gesprochen habe, so wie es in dem vorgelegten und unmittelbar nach der Sectio erstellten Gedächtnisprotokoll der Zeugen Dres G., F. und K. und der Beklagten zu 2 festgehalten worden sei. Der nach der Sectio nochmals zur anamnestischen Situation befragte Vater habe erst dann zum ersten Mal erwähnt, dass die Kindsmutter bereits zu Hause eine vaginale Blutung gehabt habe. Hierzu hätten die Beklagten schon in ihrer Klagerwiderung Beweis durch Benennung der Zeuginnen Dres G., F. und K. angetreten und im Berufungsverfahren an die unerledigten Beweisantritte erinnert.12
bb) Dieser Beweisantritt ist weder unzulässig noch fehlt dem Beweisangebot die Eignung zum Beweismittel. Das Berufungsgericht hat zur Frage der Mitteilung häuslicher Blutungen gegenüber der Beklagten zu 2 dennoch lediglich die Eltern des Klägers und die Beklagte zu 2 angehört.13
(1) Der Antritt eines Zeugenbeweises erfordert – außer bei inneren Tatsachen – grundsätzlich keine Angaben dazu, wie der Zeuge die unter Beweis gestellte Tatsache erfahren haben soll (vgl. BGH, Urteil vom 8. November 1995 – XII ZR 202/94 – ZMR 1996, 122, juris Rn. 17). Ein Beweisantrag ist nur unter sehr engen Voraussetzungen als rechtsmissbräuchlich und daher als unzulässig zu bewerten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Partei ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt; bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten (vgl. Senatsurteil vom 25. April 1995 – VI ZR 178/94, NJW 1995, 2111, juris Rn. 13). Denn eine Partei ist in einem Zivilprozess häufig darauf angewiesen, Tatsachen zu behaupten, über die sie zwar keine genauen Kenntnisse besitzt, die sie nach Lage der Dinge aber für wahrscheinlich hält (vgl. BGH, Urteile vom 20. Juni 2002 – IX ZR 177/99 – NJW-RR 2002, 1419, juris Rn. 17 und vom 25. April 1995 – VI ZR 178/94 – NJW 1995, 2111, juris Rn. 13).14
(2) Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann (Senatsbeschluss vom 10. April 2018 – VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803, Rn. 9; BGH, Urteil vom 23. Oktober 2014 – III ZR 82/13, WM 2014, 2212 Rn. 17 mwN). Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten (BGH, Urteil vom 26. November 2003 – IV ZR 438/02, BGHZ 157, 79, 84 f., juris Rn. 15). Darüber hinaus scheidet die Ablehnung eines Beweisantrags als ungeeignet aus, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt wird, weil dies eine unzulässige Beweisantizipation darstellt (BGH, Urteil vom 23. Oktober 2014, ebenda).15
(3) Eine Begründung für einen solchen Ausnahmefall kann den Gründen des Berufungsurteils nicht entnommen werden. Das Berufungsgericht hat dazu nur ausgeführt, dass es die Angaben der Eltern für glaubhaft halte. Da bei der vaginalen Untersuchung der Mutter durch die Ärztin eine Blutung > Regelstärke festgestellt worden sei, sei es für den Senat nachvollziehbar, dass die Eltern, die wegen dieser Blutung die Klinik aufgesucht hätten, gegenüber der Beklagten zu 2 nicht nur den Verdacht eines Blasensprungs geäußert hätten, sondern ihr auch über die Blutung berichtet hätten. Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Eltern des Klägers begründen könnten, seien nicht ersichtlich und hätten auch die Beklagten nicht aufgezeigt. Es spreche auch sonst nichts dafür, dass die Eltern des Klägers die vorhandene Blutung erst der später herbeigerufenen Ärztin mitgeteilt hätten.16
c) Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Die Begründung eines Befunderhebungsfehlers der Beklagten zu 2 durch das Berufungsgericht steht und fällt mit der Annahme, dass der Beklagten zu 2 bei der Aufnahme eine häusliche Blutung der Mutter mitgeteilt worden ist, die Veranlassung gegeben hätte, deren Vorlage zur Prüfung und Feststellung des Umfangs der Blutung zu kontrollieren.17
3. Die neue Verhandlung gibt dem Berufungsgericht im Übrigen Gelegenheit, sich gegebenenfalls mit dem weiteren Vorbringen der Parteien im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen.
Löffler I www.K1.de I Gesellschaftsrecht I Gesellschafterversammlung I M&A I Unternehmenskauf I Erfurt I Thüringen I Sachsen I Sachsen-Anhalt I Hessen I Deutschland 2023
Schlagworte: Art. 103 Abs. 1 GG, Gehörsverstoß, GG Art. 103, rechtliches Gehör, Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs, Verletzung rechtlichen Gehörs